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RBOG 2022 Nr. 12

Bemessung der Entschädigung bei einer missbräuchlichen Kündigung wegen einer Erkrankung, die sich nicht auf die Arbeitsleistung auswirkte


Art. 336 a Abs. 2 OR


  1. Die Berufungsklägerin erhob beim Bezirksgericht Klage gegen ihre ehemalige Arbeitgeberin wegen missbräuchlicher Kündigung und verlangte eine Entschädigung. Das Bezirksgericht schützte die Klage teilweise und sprach ihr eine Entschädigung von zwei Monatslöhnen zu. Dagegen erhob die Berufungsklägerin Klage und verlangte eine rund doppelt so hohe Entschädigung.

  2. a)    aa)    Gemäss Art. 336a Abs. 1 OR hat die Partei, die das Arbeitsverhältnis missbräuchlich kündigt, der anderen Partei eine Entschädigung auszurichten. Die Entschädigung wird vom Gericht unter Würdigung aller Umstände festgesetzt, darf aber den Betrag nicht übersteigen, der dem Lohn des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin für sechs Monate entspricht[1].

          bb)    Innerhalb des Rahmens von sechs Monatslöhnen ist die Entschädigung unter Würdigung aller Umstände zu bemessen. Im Hinblick auf die pönale Funktion der Entschädigung gehören zu den in Betracht fallenden Umständen die Schwere der Verfehlung der Arbeitgeberin ‑ die insbesondere durch den Anlass der Kündigung, ein allfälliges Mitverschulden des Arbeitnehmers, das Vorgehen bei der Kündigung und die Art des aufgelösten Arbeitsverhältnisses bestimmt wird ‑, ferner die wirtschaftlichen Verhältnisse der entschädigungspflichtigen Arbeitgeberin sowie die Schwere des Eingriffs in die Persönlichkeit des Arbeitnehmers. Im Hinblick auf die Wiedergutmachungsfunktion der Entschädigung sind aber auch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Kündigung auf den Arbeitnehmer zu berücksichtigen. Somit fallen auch das Alter des Arbeitnehmers, seine berufliche Stellung, seine soziale Situation, die Schwierigkeiten seiner Wiedereingliederung in das Arbeitsleben, die konjunkturelle Lage auf dem Arbeitsmarkt und die Dauer des Arbeitsverhältnisses ins Gewicht[2]. Schliesslich können die Enge der arbeitsvertraglichen Beziehungen, der bisherige Verlauf des Arbeitsverhältnisses oder die Bereitschaft des Kündigenden, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, berücksichtigt werden[3].

    b)    Vorliegend ist bei der Bemessung der Entschädigung zu berücksichtigen, dass der Berufungsklägerin einzig aufgrund ihrer MS-Erkrankung als alleinigem Motiv gekündigt wurde. Ein teilweise rechtmässiger Kündigungsgrund liegt nicht vor, was grundsätzlich zu einem Verschulden mindestens im mittleren[4] und nicht bloss unteren Bereich führt. Entschädigungserhöhend fällt sodann ins Gewicht, dass die Berufungsklägerin bereits mit 21 Jahren an ihrer ersten Arbeitsstelle nach dem Lehrabschluss die Erfahrung einer missbräuchlichen Kündigung machen musste. Diese Erfahrung wirkt sich besonders auf eine junge Person ohne langjährige Berufserfahrung gravierend aus. Nach erst rund einem Jahr Arbeitstätigkeit konnte sie diesbezüglich keine ‑ durch eigene Erfahrungen oder durch die Erfahrungen Dritter gemachte ‑ Resilienz aufbauen. Sie musste erleben, wie ihr der ehrliche Umgang mit ihrer Krankheit und die diesbezügliche Transparenz gegenüber ihrem Vorgesetzten zum Nachteil gereichte, zumal die Krankheit bis zum Zeitpunkt der Kündigung keinerlei Auswirkungen auf ihre Arbeitsleistungen hatte. So waren denn auch die Mitarbeiterbeurteilungen der Berufungsklägerin durchaus positiv. Sie hatte ihre Leistungen weitestgehend vollumfänglich und in einzelnen Punkten grösstenteils erbracht und wollte ihre Anstellung behalten. Auch wenn der Berufungsbeklagten als gewisse subjektive Entlastung zu Gute gehalten wird, dass sie davon überzeugt zu sein schien, dass die Berufungsklägerin dem kommenden Druck nicht Stand gehalten hätte und darob ernsthaft erkrankt wäre, sodass die Auflösung des Arbeitsverhältnisses und die Ausübung einer anderen, weniger stressbelasteten Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber zu ihrem Besten gewesen sei, ist festzuhalten, dass dieser "Schutz vor sich selbst" einer falsch verstandenen Fürsorge entspringt. Damit wurde er im Sinn einer Art "Bevormundung" Teil der Missbräuchlichkeit. Es wäre an der Berufungsbeklagten gewesen darzulegen, welche (echten) Bemühungen sie im Sinn der Fürsorgepflicht und des Persönlichkeitsschutzes gemäss Art. 328 OR zum Schutz der Berufungsklägerin unternommen hat. In der vorliegenden Form ist das Argument der Fürsorgepflicht als Schutzbehauptung der Berufungsbeklagten einzustufen. Unter Berücksichtigung ihrer Rechtsnatur scheint somit eine Entschädigung am oberen Ende des mittleren Bereichs, somit im Bereich von rund vier Monatslöhnen, angemessen. Daran ändert auch nichts, dass die Berufungsklägerin bereits nach rund vier Monaten wieder eine Anstellung fand und die wirtschaftlichen Auswirkungen somit relativ gering waren.

    c)    Im Ergebnis ist das Rechtsbegehren nach einer Entschädigung von knapp vier Brutto-Monatslöhnen zu schützen.

    Obergericht, 2. Abteilung, 8. März 2022, ZBR.2021.27


[1]  Art. 336a Abs. 2 OR

[2]  Portmann/Rudolph, Basler Kommentar, 7.A., Art. 336a OR N. 2 f.; BGE 123 III 392

[3]  Fernandez, Entschädigung und Genugtuung wegen missbräuchlicher Kündigung, Zürich/St. Gallen 2017, S. 43 f.

[4]  Vgl. JAR 2004 S. 436 ff.; gemäss Urteil des Appellationsgerichts Basel-Stadt vom 18. März 2003 liegt keine Willkür vor, wenn von einem Grundbetrag von drei Monatslöhnen ausgegangen und die Höhe der Entschädigung aufgrund der Umstände des Einzelfalls nach unten oder oben korrigiert wird.


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