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RBOG 2022 Nr. 36

Anforderungen an einen rückwirkenden Entzug der amtlichen Verteidigung


Art. 134 Abs. 1 StPO


  1. a)    Der Beschwerdeführer wurde vom Bezirksgericht am 12. April 2021 in einem Strafverfahren gegen zwei beschuldigte Personen als deren amtlicher Verteidiger eingesetzt. Mit prozessleitender Verfügung vom 9. Juni 2021 erachtete das Bezirksgericht die dargelegten finanziellen Verhältnisse der beschuldigten Personen als nicht nachvollziehbar, weshalb es sie aufforderte, ihre finanziellen Verhältnisse offen zu legen und weitere Unterlagen sowie eine Aufstellung der monatlichen Ein- und Ausgaben einzureichen. Dieser Aufforderung kamen sie nach. In der Folge sprach das Bezirksgericht die beschuldigten Personen am 22. Juni 2021 schuldig und auferlegte ihnen die Verfahrenskosten. Es entzog den beschuldigten Personen in diesem Entscheid rückwirkend die amtliche Verteidigung (durch den Beschwerdeführer). Gegen den Widerruf der amtlichen Verteidigung sowie die Festsetzung und Verlegung der Verfahrenskosten erhob der Beschwerdeführer in eigenem Namen Beschwerde.

  2. a)    Angefochten ist der rückwirkende Entzug der amtlichen Verteidigung.

    b)    aa)    Die Verfahrensleitung ordnet eine amtliche Verteidigung an, wenn bei notwendiger Verteidigung die beschuldigte Person trotz Aufforderung der Verfahrensleitung keine Wahlverteidigung bestimmt, der Wahlverteidigung das Mandant entzogen wurde oder sie es niedergelegt hat und die beschuldigte Person nicht innert Frist eine neue Wahlverteidigung bestimmt[1]. Liegt kein Fall der notwendigen Verteidigung vor, ordnet die Verfahrensleistung eine amtliche Verteidigung an, wenn die beschuldigte Person nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung ihrer Interessen geboten ist[2]. Zur Wahrung der Interessen der beschuldigten Person ist die Verteidigung namentlich geboten, wenn es sich nicht um einen Bagatellfall handelt und der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen wäre[3]. Ein Bagatellfall liegt jedenfalls dann nicht mehr vor, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als vier Monaten oder eine Geldstrafe von mehr als 120 Tagessätzen zu erwarten ist[4].

                  Mittellosigkeit oder Bedürftigkeit ist nach der Rechtsprechung dann gegeben, wenn die beschuldigte Person die Leistung der erforderlichen Prozess- und Parteikosten nur erbringen kann, wenn sie die Mittel angreift, die sie zur Deckung des Grundbedarfs für sich und ihre Familie benötigt[5]. Konkret bemisst sich die Bedürftigkeit aus einer Gegenüberstellung der gesamten finanziellen Verhältnisse der gesuchstellenden Partei auf der einen und ihrer notwendigen Auslagen zum Lebensunterhalt auf der anderen Seite, unter gleichzeitiger Berücksichtigung der mutmasslichen Prozesskosten. Auszugehen ist grundsätzlich vom betreibungsrechtlichen Existenzminimum, wobei auf dem Grundbetrag ein Zuschlag von 25% zu machen ist. Ein allfälliger Überschuss zwischen Einkommen und Notbedarf ist mit den für den konkreten Fall zu erwartenden Prozesskosten in Beziehung zu setzen. Dabei sollte der monatliche Überschuss ermöglichen, die Prozesskosten bei weniger aufwendigen Prozessen innert eines Jahres, bei anderen innert zweier Jahre, zu tilgen[6].

                  Gemäss Art. 429 Abs. 2 Satz 1 StPO muss die Strafbehörde den Entschädigungsanspruch von Amtes wegen prüfen. Dies bedeutet indessen nicht, dass die Strafbehörde im Sinn des Untersuchungsgrundsatzes von Art. 6 StPO alle für die Beurteilung des Entschädigungsanspruchs bedeutsamen Tatsachen von Amtes wegen abzuklären hat. Sie hat aber die Parteien zur Frage mindestens anzuhören und gegebenenfalls gemäss Art. 429 Abs. 2 Satz 2 StPO aufzufordern, ihre Ansprüche zu beziffern und zu belegen[7]. Die beschuldigte Person trifft insofern eine Mitwirkungspflicht. Fordert die Behörde die beschuldigte Person auf, ihre Ansprüche zu beziffern und reagiert diese nicht, kann gemäss konstanter bundesgerichtlicher Rechtsprechung von einem (impliziten) Verzicht auf eine Entschädigung ausgegangen werden[8].

          bb)    Fällt der Grund der amtlichen Verteidigung dahin, so widerruft die Verfahrensleitung das Mandat[9]. Dabei ist eine rückwirkende Aufhebung der amtlichen Verteidigung grundsätzlich ausgeschlossen. Gelangt die Behörde zur Auffassung, die Voraussetzungen hätten von Anfang an nicht vorgelegen, ist die amtliche Verteidigung grundsätzlich lediglich mit Wirkung ex nunc aufzuheben. Eine rückwirkende Aufhebung kommt nur bei offensichtlich formeller oder materieller Fehlerhaftigkeit infrage[10]. Dafür setzt die bundesgerichtliche Rechtsprechung weiter voraus, dass das Interesse an der richtigen Durchführung des objektiven Rechts gegenüber dem Interesse des Betroffenen auf Schutz des berechtigten Vertrauens überwiegt[11]. Somit hat die Verfahrensleitung eine Interessenabwägung vorzunehmen. Widerruft die Verfahrensleitung die amtliche Verteidigung ohne Interessenabwägung ex tunc, ist ein Entscheid bereits aus formellen Gründen fehlerhaft[12].

                  Die Abwägung des öffentlichen Interesses an der richtigen Durchführung des objektiven Rechts und dem durch Treu und Glauben gebotenen Schutz des berechtigten Vertrauens des Verfügungsadressaten in den Fortbestand der fehlerhaften Verfügung ist unter Würdigung aller Aspekte des Einzelfalls vorzunehmen. Der Schutz des Vertrauens geht in der Regel unter anderem dann vor, wenn der Betroffene von der ihm durch die Verfügung eingeräumten Befugnis bereits Gebrauch gemacht hat[13]. Bei dieser Abwägung ist, selbst wenn die Verfahrensleitung ihren Ermessensspielraum bei der Auslegung von Art. 132 Abs. 2 und 3 StPO ausgeschöpft oder möglicherweise sogar überdehnt hat, die Gewährung der amtlichen Verteidigung nicht von vornherein unvertretbar, wenn sich die Gewährung der amtlichen Verteidigung mit sachlichen Gründen rechtfertigen lässt. Unter diesen Umständen ist das Interesse, sie unter dem Gesichtspunkt der richtigen Durchführung des objektiven Rechts rückwirkend zu korrigieren, gering[14]. So schliesst die vorzunehmende Interessenabwägung einen rückwirkenden Widerruf grundsätzlich aus. Andernfalls liesse man die Verteidigung das Risiko tragen, für ihre Arbeit, für welche sie vom Staat eingesetzt wurde, die sie im Vertrauen auf die Einsetzung aufgenommen hat und wozu sie ja auch verpflichtet war, nicht entschädigt zu werden[15]. Demgemäss bestehen hohe Hürden um eine amtliche Verteidigung rückwirkend aufheben zu können.

    c)    aa)   Vorliegend wurde die amtliche Verteidigung mit Entscheid vom 22. Juni 2021 rückwirkend aufgehoben, ohne eine Abwägung des Interesses an der richtigen Durchführung des objektiven Rechts und des Interesses des Beschwerdeführers auf Schutz des berechtigten Vertrauens in die Richtigkeit der Verfügung vom 12. April 2021 betreffend Einsetzung der amtlichen Verteidigung vorzunehmen. Somit ist die rückwirkende Aufhebung der amtlichen Verteidigung bereits aus formellen Gründen zu bemängeln[16].

          bb)    Aus materieller Sicht ist zwar nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz die finanziellen Verhältnisse, insbesondere die Schuldentilgung, als nicht nachvollziehbar betrachtet und gewisse Bedarfspositionen nicht anerkennt. Dies lässt den Rückschluss zu, dass die finanziellen Verhältnisse, insbesondere die Schuldentilgung, unklar beziehungsweise nicht belegt sind. Grund der Abweisung des Gesuchs kann damit nur die mangelhaft substantiierte Darlegung der finanziellen Verhältnisse und die fehlenden Belege gewisser behaupteten Bedarfspositionen sein. So hält die Vorinstanz selbst ausdrücklich fest, die Beschuldigten hätten ihre Mittellosigkeit mit den eingereichten Unterlagen nicht glaubhaft machen können. Von einer offensichtlich fehlenden Mittellosigkeit kann jedoch vorliegend nicht ausgegangen werden. Es ist bekannt, dass zum massgebenden Zeitpunkt hohe Schulden bestanden, wobei lediglich unbelegt ist, inwiefern diese Schulden tatsächlich abbezahlt werden. So kann den beschuldigten Personen nicht vorgeworfen werden, ihnen sei bereits im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs um amtliche Verteidigung bewusst gewesen, dass sie über genügend finanzielle Mittel verfügen würden. Somit kann auch das Ergebnis nicht gerade zu offensichtlich fehlerhaft sein. Schliesslich durfte der Beschwerdeführer als Betroffener davon ausgehen, dass das Gericht die Mittellosigkeit ‑ wie in der Verfügung selbst festgehalten ‑ als erstellt erachtet, ansonsten es das Gesuch abgewiesen oder weitere Unterlagen verlangt hätte. Auch wenn die Vorinstanz das Gesuch um amtliche Verteidigung ohne eindeutigen, nachvollziehbaren Nachweis der finanziellen Verhältnisse gutgeheissen hat, so ist die Gewährung der amtlichen Verteidigung nicht von vornherein unhaltbar. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass der Vorinstanz bei der Einsetzung einer amtlichen Verteidigung ein gewisser Ermessenspielraum zusteht, kann den Beschuldigen beziehungsweise dem Beschwerdeführer schwer vorgeworfen werden, sie hätten von einer offensichtlichen Fehlerhaftigkeit der Verfügung vom 12. April 2021 ausgehen müssen. Somit durfte der Beschwerdeführer aufgrund der rechtskräftigen Einsetzung als amtlicher Verteidiger auf das auftragsrechtliche Verhältnis zwischen ihm als amtlicher Verteidiger und dem Staat vertrauen, und eine mögliche Fehlerhaftigkeit war nicht erkennbar.

          cc)    Nicht einleuchtend ist, auf welcher Grundlage die Vorinstanz ihre Erwägung stützt, eine Verletzung der Mitwirkungspflicht berechtigte zu einer rückwirkenden Aufhebung der amtlichen Verteidigung. Einerseits kann aufgrund der fristgerecht nachgereichten Unterlagen nicht von einem Verzicht ausgegangen werden. Daran ändert auch der Umstand, dass einige Dokumente fehlten, nichts. Sodann wurde eine weitere Darlegung anlässlich der Hauptverhandlung seitens der beschuldigten Personen angeboten. Andererseits lässt die vorgeworfene fehlende Mitwirkung der Beschuldigten keine offensichtliche Fehlerhaftigkeit der Verfügung vom 12. April 2021 erkennen. Besonders zu beachten ist, dass die beschuldigten Personen erst nach der Gutheissung des Gesuchs um amtliche Verteidigung zur Mitwirkung, namentlich zur Einreichung von weiteren Unterlagen, aufgefordert wurden. Die Vorinstanz bemängelt explizit die Mitwirkung nach Gutheissung des Gesuchs. Für den Zeitraum davor wird die Mitwirkung der Beschuldigten von der Vor­instanz nicht beanstandet. Somit kann auch nicht vorgehalten werden, es habe betreffend die Verfügung vom 12. April 2021 ein offensichtlicher Fehler an der Mitwirkung bestanden, und schon gar nicht, dass die Betroffenen diesen hätten erkennen müssen. Weil die Vorinstanz das Gesuch guthiess ohne weitere von den beschuldigten Personen angebotenen Unterlagen einzufordern, durfte der Beschwerdeführer darauf vertrauen, dass das Gericht weitere Unterlagen und damit eine weitere Mitwirkung nicht für erforderlich erachtete. Es lässt sich keine offensichtlich fehlerhafte Mitwirkung erkennen, welche am 12. April 2021 zu einem offensichtlich fehlerhaften Entscheid hätte führen können.

          dd)    Im Ergebnis wiegt das Interesse, die Verfügung vom 12. April 2021 unter dem Gesichtspunkt der richtigen Durchführung des objektiven Rechts rückwirkend zu korrigieren, gering. Der Beschwerdeführer wurde von der zuständigen Stelle rechtmässig als amtlicher Verteidiger eingesetzt. Diese Einsetzung als amtlicher Verteidiger ist nicht derart unhaltbar, dass der rechtskundige Beschwerdeführer eine mögliche Fehlerhaftigkeit hätte erkennen müssen und sich nicht hätte darauf verlassen dürfen. Hinzu kommt, dass er mit der Verfügung vom 12. April 2021 auch zur Mandatsausübung verpflichtet wurde. Sein Vertrauen in den Bestand der Verfügung vom 12. April 2021 ist damit schutzwürdiger als das Interesse an der rückwirkenden Korrektur und Durchführung des objektiven Rechts.

                  Mangels offensichtlicher Fehlerhaftigkeit und mangels überwiegenden Interesses an der richtigen Durchführung des objektiven Rechts kann das Gesuch um amtliche Verteidigung nicht rückwirkend aufgehoben werden. Vielmehr ist dem Grundsatz Rechnung zu tragen, womit eine rückwirkende Aufhebung ausgeschlossen ist. Die Beschwerde ist in diesem Punkt gutzuheissen.

    Obergericht, Einzelrichter, 8. November 2022, SW.2022.102


[1]  Art. 132 Abs. 1 lit. a StPO

[2]  Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO

[3]  Art. 132 Abs. 2 StPO

[4]  Art. 132 Abs. 3 StPO

[5]  BGE 124 I 2; RBOG 2018 Nr. 6; Ruckstuhl, Basler Kommentar, 2.A., Art. 132 StPO N. 23

[6]  RBOG 2018 Nr. 6; Ruckstuhl, Art. 132 StPO N. 2

[7]  BGE 146 IV 335 f.; BGE 144 IV 209; BGE vom 19. Dezember 2019, 6B_4/2019, Erw. 5.2.5

[8]  BGE 146 IV 336; BGE vom 22. Februar 2018, 6B_632/2017, Erw. 2.3

[9]  Art. 134 Abs. 1 StPO

[10] Lieber, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 134 N. 7a

[11] BGE 137 I 71 f.; BGE vom 19. Dezember 2012, 1B_632/2012, Erw. 2.2

[12] BGE vom 19. Dezember 2012, 1B_632/2012, Erw. 2.3

[13] BGE vom 19. Dezember 2012, 1B_632/2012, Erw. 2.2; BGE vom 27. Januar 2014, 6B_698/2013, Erw. 5.2.2

[14] BGE vom 19. Dezember 2012, 1B_632/2012, Erw. 2.3

[15] Ruckstuhl, Art. 134 StPO N. 1

[16] BGE vom 19. Dezember 2012, 1B_632/2012, Erw. 2.3


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