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RBOG 2022 Nr. 51

Zuständigkeit der Jugendanwaltschaft zur Einstellung des Strafverfahrens;
Grundsätze der Prüfungspflicht


Art. 32 Abs. 1 JStPO Art. 34 Abs. 1 JStPO Art. 319 Abs. 1 lit. b StPO


  1. Die Jugendanwaltschaft stellte das Strafverfahren gegen den Beschwerdegegner wegen Delikten zu Lasten der Beschwerdeführerin ein. Die Beschwerdeführerin focht diesen Entscheid mit Beschwerde an.

  2. a)    Enthält die JStPO[1] keine besondere Regelung, sind gemäss Art. 3 Abs. 1 JStPO die Bestimmungen der StPO[2] anwendbar. Laut Art. 30 Abs. 2 JStPO hat die Jugendanwaltschaft während der Untersuchung die Befugnisse und Aufgaben, die nach der StPO in diesem Verfahrensstadium der Staatsanwaltschaft zukommen. Sie ist mithin zuständig für die Einstellung des Verfahrens nach Art. 319 StPO[3].

    b)    Die Jugendanwaltschaft verfügt gestützt auf Art. 3 Abs. 1 JStPO i.V.m. Art. 319 Abs. 1 lit. b StPO die vollständige oder teilweise Einstellung des Verfahrens, wenn kein Straftatbestand erfüllt ist. Diese Bestimmung kommt zur Anwendung, wenn das inkriminierte Verhalten, selbst wenn es nachgewiesen wäre, den objektiven und subjektiven Tatbestand einer Strafnorm nicht erfüllt[4]. Ob einzustellen oder Anklage zu erheben ist, entscheidet sich auch in diesem Fall nach dem Grundsatz "im Zweifel für die Anklageerhebung"[5]. Der Grundsatz bedeutet, dass eine Einstellung durch die Staats- oder Jugendanwaltschaft nur bei klarer Straflosigkeit oder offensichtlich fehlenden Prozessvoraussetzungen angeordnet werden darf. Bei der Beurteilung dieser Frage verfügt die Staats- oder Jugendanwaltschaft über einen gewissen Ermessensspielraum[6]. Dabei gilt nach der Praxis von Bundes- und Obergericht folgende Faustregel: Ist ein Freispruch wahrscheinlicher als eine Verurteilung, kann die Staats- oder Jugendanwaltschaft das Strafverfahren einstellen. Halten sich die Wahrscheinlichkeiten eines Freispruchs oder einer Verurteilung etwa die Waage, oder ist ein Freispruch genauso wahrscheinlich wie eine Verurteilung, ist Anklage zu erheben. Ist eine Verurteilung wahrscheinlicher als ein Freispruch, muss die Staats- oder Jugendanwaltschaft anklagen[7]. Bei zweifelhafter Beweis- oder Rechtslage hat nicht sie über die Stichhaltigkeit des strafrechtlichen Vorwurfs zu entscheiden, sondern das zur materiellen Beurteilung zuständige Gericht[8]. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung müssen die objektiven Tatbestandselemente offensichtlich nicht erfüllt sein, um einstellen zu dürfen[9].

    c)    Die sachliche Zuständigkeit des Jugendstrafgerichts gemäss Art. 34 Abs. 1 JStPO ist beschränkt auf Fälle der Unterbringung (lit. a), der Busse von mehr als Fr. 1'000.00 (lit. b) sowie des Freiheitsentzugs von mehr als drei Monaten (lit. c). Für die übrigen Fälle ist laut Art. 32 Abs. 1 JStPO die Jugendanwaltschaft zuständig. Es ist umstritten, ob die Jugendanwaltschaft in den von Art. 34 Abs. 1 JStPO nicht erfassten Fällen trotzdem Anklage zu erheben oder einzustellen hat. Im einen Fall wird Art. 34 Abs. 1 JStPO verletzt, im anderen Art. 352 Abs. 1 Einleitungssatz StPO, der gemäss Art. 32 Abs. 6 JStPO auch im Jugendstrafverfahren gilt. In der Lehre werden beide Auffassungen vertreten[10].

    d)    Die Jugendanwaltschaft macht geltend, sie habe, weil sie nicht im Sinn von Art. 34 Abs. 1 JStPO Anklage erhebe, dem Grundsatz "im Zweifel für die beschuldigte Person"[11] folgend das Verfahren einzustellen, wenn sie von einer Verurteilung nicht überzeugt sei. Die gegenteilige Lehre ‑ bei nicht liquiden Sachverhalten sei beim Jugendgericht Anklage zu erheben ‑ argumentiert insbesondere damit, andernfalls könnten Jugendliche "aufs Geratewohl" sanktioniert werden, was sich rechtsstaatlich nicht vertreten lasse[12]. Die Beachtung der sachlichen Zuständigkeit des Strafgerichts ist ein gewichtiges Argument, ist doch deren Nichtbeachtung grundsätzlich ein Nichtigkeitsgrund. Der Befürchtung von Riedo ‑ Sanktionierung aufs Geratewohl ‑ lässt sich jedoch entgegnen, dass sich die Jugendanwaltschaft bewusst sein muss, dass sie in solchen Verfahren je nach Verfahrensstadium nach den beiden genannten entgegengesetzten Grundsätzen vorzugehen und zu entscheiden hat. Während der Strafuntersuchung gilt "in dubio pro duriore"; die Jugendanwaltschaft hat alle relevanten Umstände abzuklären und darf nicht leichthin einen Einstellungsgrund annehmen[13]. Wenn aber nach diesem Grundsatz Anklage zu erheben wäre, wechselt die Beurteilungsgrundlage. Weil der Jugendanwaltschaft in den Fällen, in denen Art. 34 Abs. 1 JStPO nicht zur Anwendung gelangt, ein sachlich zuständiges Jugendgericht fehlt, beurteilt sie materiell den vollständig ermittelten Sachverhalt. Der Erlass eines Strafbefehls und damit eine Verurteilung[14] kommt indessen nur unter Beachtung der Maxime "im Zweifel für die beschuldigte Person"[15] als Beweislastregel und als Beweiswürdigungsregel infrage. Daraus ergibt sich, dass die Jugendanwaltschaft bei entsprechenden Zweifeln das Verfahren einzustellen hat. Die Parteien haben alsdann die Möglichkeit, die Verletzung beider Grundsätze zu rügen: Die Privatklägerschaft kann gegen eine allfällige Einstellung im Beschwerdeverfahren rügen, die Jugendanwaltschaft habe die Strafuntersuchung in Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro duriore" geführt und nicht ausreichend oder abschliessend ermittelt. Falls die Jugendanwaltschaft nicht einstellt, sondern einen Strafbefehl erlässt, kann die beschuldigte Person Einsprache erheben und sich gegen eine Sanktion mit dem Argument wehren, die Jugendanwaltschaft habe ihn in Anwendung von "in dubio pro duriore" verurteilt, statt "in dubio pro reo" einzustellen. Konsequenz dieser Betrachtungsweise ist, dass bei Entscheiden der Jugendanwaltschaft in den Fällen, für die das Jugendstrafgericht nicht zuständig ist, der Grundsatz "in dubio pro duriore" vom Grundsatz "in dubio pro reo" überlagert wird.

Obergericht, 2. Abteilung, 31. Mai 2022, SW.2022.36


[1]  Jugendstrafprozessordnung, SR 312.1

[2]  Strafprozessordnung, SR 312.0

[3]  Vgl. Hebeisen, Basler Kommentar, 2.A., Art. 30 JStPO N. 4 ff., 8 und 18

[4]  Grädel/Heiniger, Basler Kommentar, 2.A., Art. 319 StPO N. 9

[5]  "In dubio pro duriore"

[6]  BGE 138 IV 190

[7]  RBOG 2013 Nr. 29 Erw. 2.c.aa

[8]  BGE 143 IV 243

[9]  BGE 138 IV 91 f.; wohl zu weitgehend die Lehre, soweit sie verlangt, dass ein Tatbestandselement "ganz offensichtlich" nicht gegeben sein darf (Landshut/Bosshard, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers], 3.A., Art. 319 N. 19; Grädel/Heiniger, Art. 319 StPO N. 9).

[10] Für die Einstellung: Hebeisen, Art. 32 JStPO N. 5 mit Hinweisen; für die Anklage: Riedo, Jugendstrafrecht und Jugendstrafprozessrecht, Basel 2013, N. 2304 f. mit Hinweisen

[11] "In dubio pro reo"

[12] Riedo, N. 2304

[13] So auch Hebeisen, Art. 30 JStPO N. 5; Riedo, N. 2215, dieser allerdings mit dem Zusatz, dass im Zweifelsfall Anklage zu erheben ist.

[14] Freisprechende Strafbefehle sind nicht vorgesehen.

[15] "In dubio pro reo"


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