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RBOG 2022 Nr. 8

Durchgriff für die erbrechtliche Ausgleichung bei Zuwendungen des Erblassers an eine von einem Erben beherrschte Gesellschaft


Art. 626 Abs. 1 ZGB


  1. Die fünf Kinder des Erblassers ‑ A, B, C, D und E ‑ liegen im Streit um das Erbe ihres Vaters. A erhob gegen B, C, D und E Klage und beantragte, der Nachlass sei festzustellen und zu teilen. Der erstinstanzliche Entscheid, in welchem das Bezirksgericht einen "Durchgriff" bejahte und mit welchem es den Nachlass feststellte und teilte, wurde von mehreren Erben angefochten. Zwischen den Erben war unter anderem strittig, ob Zuwendungen des Erblassers (oder der von ihm beherrschten Unternehmen) an die X AG, welche im Eigentum von B steht, erbrechtlich ausgleichungspflichtig sind.

  2. a)   aa)    Der "Durchgriff" gemäss Vorinstanz birgt gewisse Probleme. Erstens kommt dieses Vorgehen nur ausnahmsweise infrage. Zweitens ist für den sogenannten Durchgriff im Gesellschaftsrecht gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht nur die Abhängigkeit der juristischen Person von der hinter ihr stehenden Person ("wirtschaftliche Beherrschung") Voraussetzung, worauf die Vorinstanz abstellte. Es braucht zusätzlich eine Missbrauchskomponente, nämlich die Gründung oder Verwendung der juristischen Person zu missbräuchlichen Zwecken. Gemäss langjähriger und konstanter bundesgerichtlicher Rechtsprechung kommt ein Durchgriff nur in Ausnahmefällen in Betracht. Die Unterscheidung zwischen zwei formell selbstständigen Personen kann durchbrochen werden, wenn zwischen einem Schuldner und einem Dritten eine wirtschaftliche Identität besteht und die Berufung auf die rechtliche Selbstständigkeit offensichtlich zweckwidrig und damit rechtmissbräuchlich erfolgt[1].

          bb)    Burckhardt Bertossa[2] spricht nicht von "Durchgriff", sondern von indirekten Zuwendungen des Erblassers. Sie führt aus, die Frage, wie indirekte Zuwendungen des Erblassers im Ausgleichsrecht behandelt werden, sei zwar ‑ soweit ersichtlich ‑ noch nicht geklärt. Ein typisches Beispiel seien die Fälle, in denen ein Kind in der Aktiengesellschaft des Erblassers mitarbeite und für seine Tätigkeit einen überhöhten Lohn beziehe. Die Differenz zwischen dem angemessenen und dem effektiv bezahlten Lohn stelle eine unentgeltliche Zuwendung dar. Allerdings werde diese von der Aktiengesellschaft und nicht vom Erblasser geleistet, sofern dadurch der Erblasser eine Vermögenseinbusse erleide (wie die Gewinnschmälerung durch höheren Geschäftsaufwand). Deshalb müsse der überhöhte Lohnanteil als unentgeltliche Zuwendung des Erblassers an sein Kind in seinem Nachlass berücksichtigt werden. Dasselbe müsse umgekehrt gelten, wenn der Erblasser eine Zuwendung an eine juristische Person tätige, die einem Nachkommen gehöre, wie beispielsweise durch eine Einlage in deren Reserven oder durch Teilnahme an einer Kapitalerhöhung mit überhöhtem Ausgabepreis. Wachse dadurch der Wert der Gesellschaftsanteile des Eigentümers, stelle dies eine unentgeltliche Zuwendung dar und unterliege entsprechend, soweit die unentgeltliche Zuwendung bewiesen werden könne, der Ausgleichung. Damit kommt Burckhardt Bertossa ohne eine zusätzliche Prüfung des Missbrauchs aus; die Zweckwidrigkeit ist gleichsam immanent. Diese Ausführungen überzeugen. Allerdings ergänzt Burckhardt Bertossa, das Bundesgericht scheine die indirekte Zuwendung über den Durchgriff lösen zu wollen. Danach seien die Voraussetzungen für die Ausgleichung solcher "indirekter Zuwendungen" offenbar nur gegeben, wenn die Missbrauchsvoraussetzungen für den Durchgriff gegeben seien[3].

          cc)    Koller[4] nimmt zu dieser Problematik ausführlich Stellung. Er führt zum Durchgriff aus, trotz der aufgezeigten Schwierigkeiten in Bezug auf das Erfordernis eines Rechtsmissbrauchs für die Anwendung eines klassischen Durchgriffs dürfe ein solcher in bestimmten erbrechtlichen Konstellationen nicht unmöglich sein. Man solle sich dabei am Kern des Ausgleichsrechts orientieren, und es dürfe nicht (einzig) auf den Rechtsmissbrauchstatbestand abgestellt werden. So seien der Gerechtigkeitsgedanke und der Grundsatz der Gleichbehandlung Leitlinien der gesetzlichen Ausgleichung nach Art. 626 Abs. 2 ZGB. An diesen Leitlinien solle auch die Beurteilung stattfinden, ob ein ausgleichungsrechtlicher Durchgriff in solchen Konstellationen gerechtfertigt erscheine. Damit wäre ein Durchgriff wie im Steuerrecht nicht (mehr) direkte Folge eines rechtmissbräuchlichen Verhaltens, sondern ergäbe sich aus einer gestörten Wahrnehmung des Gerechtigkeits- und Gleichbehandlungsgedankens, wobei jeweils der Gesamteindruck berücksichtigt werden müsse[5]. Diese Ausführungen überzeugen insbesondere auch deshalb, weil dem Erblasser die Möglichkeit des Ausgleichungsdispenses zur Verfügung steht. Wenn keine ausdrückliche Willensäusserung des Erblassers über einen Ausgleichungsdispens vorliegt, ist aus Gründen der Gerechtigkeit und gemäss dem erbrechtlichen Prinzip der Gleichbehandlung davon auszugehen, der Erblasser wolle alle Nachkommen gleich behandeln, was eine Ausgleichungspflicht nach sich zieht, dient das Institut der Ausgleichung doch eben genau der Gleichbehandlung der Nachkommen[6]. Unter Bezugnahme auf Burckhardt Bertoss[7] erklärt Koller, der Problematik lasse sich auch mit der in der Lehre neuartigen Auffassung der Betrachtung der Zuwendungen als indirekte Zuwendungen begegnen. Er bejaht diese dargelegte Theorie der indirekten Zuwendungen[8] und bezeichnet sie als ein zweckdienliches Mittel, um solche Konstellationen im Sinn eines gerechten Ergebnisses zu lösen. Er schliesst mit der Bemerkung, dass das Institut der indirekten Zuwendungen durchaus Eingang in die Rechtsprechung finden könne, habe das Bundesgericht bereits mit BGE vom 7. Januar 2010[9] gezeigt[10].

          dd)    Dieser Auffassung folgend können somit Zuwendungen der vom Erblasser beherrschten Unternehmen an die Erben B und C sowie Zuwendungen der vom Erblasser beherrschten Unternehmen beziehungsweise des Erblassers selber an die X AG als indirekte Zuwendungen des Erblassers qualifiziert werden, die potentiell ausgleichungspflichtig sind. Weil nach dieser Auffassung die gesellschaftsrechtlich entwickelte Zweck- beziehungsweise Rechtsmissbräuchlichkeit nicht zusätzlich separat geprüft werden muss, ist die entsprechende "Unterlassung" der Vorinstanz nicht zu beanstanden. Der Verzicht auf diese Prüfung ist auch gestützt auf die spezifisch erbrechtliche Argumentation und Auslegung Kollers gerechtfertigt. Zusammengefasst ist der "Durchgriff" gemäss Vorinstanz mit dieser nachgeschobenen Begründung nicht zu beanstanden. Mit dieser neuen rechtlichen Begründung ist auch den Einwendungen von B und C von vornherein der Boden entzogen, zumal deren Argumentation letztlich einzig darauf hinausläuft, der Durchgriff sei nicht gerechtfertigt, weil es sich um formell selbstständige Personen handle. Insoweit sind ihre Berufungen unbegründet.

    Obergericht, 2. Abteilung, 29. März 2022, ZBR.2020.35


[1] BGE 145 III 361 mit Verweis auf BGE 144 III 546 und 548; vgl. auch ausführlich Monsch/von der Crone, Durchgriff und wirtschaftliche Einheit, in: SZW 2013 S. 445 ff.

[2]  Burckhardt Bertossa, in: Praxiskommentar Erbrecht (Hrsg.: Abt/Weibel), 4.A., Art. 626 ZGB N. 46 f.

[3]  Burckhardt Bertossa, Art. 626 ZGB N. 47a mit Verweis auf BGE vom 11. Januar 2016, 5A_994/2014, Erw. 5.4 f.

[4]  Koller, Durchgriff und indirekte Zuwendungen im Erbrecht, in: AJP 2021 S. 19 ff.

[5]  Koller, S. 24 f.

[6]  Koller, S. 26

[7]  Art. 626 ZGB N. 46 f.

[8]  Koller, S. 27 ff.

[9]  5A_620/2007

[10] Koller, S. 31


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