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RBOG 2023 Nr. 50

Auslegung des Begriffs der Vernachlässigung von Tieren; Bestätigung von RBOG 2013 Nr. 32

Art. 1 TSchG Art. 3 lit. b Ziff. 1 TSchG Art. 6 Abs. 1 TSchG Art. 26 Abs. 1 lit. a TSchG Art. 3 TSchV Art. 5 TSchV Art. 7 Abs. 2 TSchV Art. 9 Abs. 2 TSchV Art. 65 Abs. 1 TSchV Art. 65 Abs. 2 TSchV


Zusammenfassung des Sachverhalts:

Den beiden beschuldigten Personen werden Widerhandlungen gegen das Tierschutzgesetz vorgeworfen. Umstritten ist im Berufungsverfahren unter anderem, ob die bisherige Rechtsprechung des Obergerichts zur Auslegung des Begriffs der Vernachlässigung gemäss Tierschutzgesetz noch Bestand hat.

Aus den Erwägungen:

[…]

3.

3.1.

Das TSchG[1] bezweckt gemäss Art. 1, die Würde und das Wohlergehen des Tieres zu schützen. Während das Wohlergehen primär die physische und verhaltenstypische Integrität eines Tiers umschreibt[2], geht es bei der Würde des Tiers um dessen Eigenwert[3]. Dieses Schutzgut nahm der Gesetzgeber anlässlich der Revision des Tierschutzgesetzes vom 16. Dezember 2005[4] ins geltende Recht auf. Dem Tier als Bestandteil einer belebten Umwelt kommt demgemäss eine Sonderstellung zu, die sich in bestimmten, gesetzlich umschriebenen Schutzwirkungen spiegelt[5].

3.2.

In persönlicher Hinsicht erfassen die Strafbestimmungen des TSchG den Tierhalter und den Betreuer. Tierhalter ist jene Person, welche die tatsächliche Verfügungsgewalt über das Tier im eigenen Interesse und nicht nur ganz vorübergehend ausübt. Es muss eine tatsächliche Beziehung zum Tier bestehen, die dem Tierhalter die Möglichkeit gibt, über dessen Betreuung, Pflege, Verwendung, Beaufsichtigung und so weiter zu entscheiden. Demgegenüber gilt als Betreuer, wer in einem tatsächlichen Sinn die Aufgabe übernommen hat, für das Tier zu sorgen oder es zu beaufsichtigen. Anders als beim Tierhalter kann die Beziehung des Betreuers zum Tier auch kurzfristiger Natur, im fremden Interesse oder weisungsgebunden sein. Als Betreuer fallen beispielsweise Finder, Verwahrer, Angestellte oder Familienangehörige des Tierhalters in Betracht. Der Begriff des Betreuers bildet einen Auffangtatbestand für jene Fälle, in denen eine Person zwar nicht Tierhalter ist, aber dennoch eine solche tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit auf das Tier hat, dass ihr zwangsläufig die Verantwortung für die angemessene Sorge des Tieres zukommen[6].

3.3.

3.3.1.

Nach Art. 26 Abs. 1 lit. a TSchG wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft, wer ein Tier misshandelt, vernachlässigt, es unnötig überanstrengt oder dessen Würde in anderer Weise missachtet. Das Gesetz zählt hier drei konkrete, gleichwertige Varianten der Tierquälerei (Misshandlung, Vernachlässigung und Überanstrengung) auf[7]. Mit Blick auf den Anklagesachverhalt kommt vorliegend einzig die Variante der Vernachlässigung in Frage. Diese ist im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 1 TSchG zu sehen. Demnach ist verpflichtet, wer ein Tier hält oder betreut, es angemessen zu nähren, zu pflegen und ihm die für sein Wohlergehen notwendige Beschäftigung, Bewegungsfreiheit und Unterkunft zu gewähren[8]. Anders als noch das alte Recht vor der Revision 2008 setzt das geltende Recht keine "starke" Vernachlässigung voraus. Jede Vernachlässigung ist tatbestandsmässig, was eine Ausweitung des Tierquälereitatbestands im Vergleich zum alten Recht bedeutet[9]. Typische Vernachlässigungen sind der Nahrungsentzug oder die mangelnde Tierpflege, wozu auch die ungenügende oder unangemessene medizinische Versorgung zählt[10].

3.3.2.

Art. 28 Abs. 1 TSchG sanktioniert in Ergänzung zu Art. 26 Abs. 1 TSchG die Missachtung von Vorschriften über die Tierhaltung mit Busse bis zu Fr. 20'000.00. Die Bestimmung ist subsidiär gegenüber Art. 26 TSchG[11]. Im Einzelfall kann sich die Abgrenzung der beiden Tatbestände als schwierig erweisen. Als Abgrenzungskriterium kommt einzig der Schweregrad des strafbaren Verhaltens in Betracht. In diesem Sinn verlangt das Bundesgericht für die Anwendbarkeit von Art. 26 TSchG, dass die Würde des Tiers beeinträchtigt wird, andernfalls nicht von Tierquälerei gesprochen werden könne[12]. Nach der Rechtsprechung des Obergerichts erfasst Art. 28 Abs. 1 TSchG nur eigentliche Bagatelldelikte[13]. Bei Nutztieren ist der Übertretungstatbestand etwa erfüllt, wenn ein Tier mangelhaften Auslauf hatte oder in zu engen Standplätzen gehalten, unzureichend gefüttert oder gewaschen wurde[14].

3.3.3.

Der Tatbestand der Tierquälerei kann vorsätzlich oder fahrlässig begangen werden[15]; desgleichen der Übertretungstatbestand[16]. Vorsätzlich begeht ein Verbrechen oder Vergehen, wer die Tat mit Wissen und Willen ausführt[17]. Eventualvorsatz liegt vor, wenn der Täter den Eintritt des Erfolgs beziehungsweise die Tatbestandsverwirklichung für (ernsthaft) möglich hält, aber dennoch handelt, weil er den Erfolg für den Fall seines Eintritts billigt, sich mit ihm abfindet, mag er ihm auch unerwünscht sein[18].

3.4.

Zwischen den Parteien des Berufungsverfahrens ist umstritten, ob die Strafbestimmungen des TSchG einen strafrechtlichen Erfolg voraussetzen. So wird seitens der Verteidigung der beschuldigten Personen zumindest auch und sinngemäss geltend gemacht, die Moren hätten nicht gelitten. Als erstes ist auf die Frage einzugehen, ob die Strafbarkeit wegen Tierquälerei den Nachweis einer konkreten Beeinträchtigung des Tierwohls oder der Tierwürde voraussetzt.

3.4.1

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung muss Tierquälerei im Sinn von Art. 26 Abs. 1 lit. a TSchG mit einer Missachtung der Tierwürde einhergehen. Von einer solchen Missachtung ist auszugehen, wenn das Wohlergehen des Tiers beeinträchtigt ist, weil Schmerzen, Leiden, Schäden oder Angst nicht vermieden werden. Die Leiden oder Schmerzen eines kranken Tiers müssen nicht besonders stark sein[19]. Damit bedingt die Strafbarkeit nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung grundsätzlich eine konkrete Beeinträchtigung des Tiers[20].

3.4.2.

Das Obergericht des Kantons Thurgau pflegt seit Langem eine andere Auslegung des Tierquälereitatbestands. Im Entscheid RBOG 2013 Nr. 32 bestätigte es seine bis dahin unveröffentlichte Praxis, wonach die Vernachlässigung von Tieren als echtes Unterlassungsdelikt zu qualifizieren sei. Der Tatbestand ist nach dieser Interpretation bereits erfüllt, wenn der Tierhalter oder Betreuer einer auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe umschriebenen Pflicht nicht nachkommt. Nicht erforderlich ist der Nachweis effektiver Schmerzen, Leiden, Schäden, Ängste oder anderer Belastungen beim Tier. Die Strafbarkeit liegt einzig in der Missachtung der Fürsorgepflicht und der dadurch erhöhten Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Tiers. Treten die Belastungen in einer gewissen Intensität auf, ist der Tatbestand der Tierquälerei durch Unterlassen erfüllt[21].

3.4.3.

Da das Bundesgericht seine Rechtsprechung in jüngeren Entscheiden[22] bestätigte, stellt sich die Frage, ob an der mit RBOG 2013 Nr. 32 publizierten Praxis festzuhalten ist. Aus drei Gründen ist die Frage zu bejahen.

Erstens ist die mit RBOG 2013 Nr. 32 bestätigte Auslegung vor dem Hintergrund der durch das TSchG geschützten Rechtsgüter konsequent. Art. 1 TSchG nennt als Rechtsgüter das Wohlergehen und die Würde des Tiers. Zwar stehen Tierwürde und Wohlergehen in einem Wechselbezug zueinander, aber nicht jeder Eingriff in die Würde betrifft auch das Wohlergehen des Tiers (und umgekehrt). Soweit die bundesgerichtliche Praxis Würde und Wohlergehen gleichsetzt oder zur Begründung eines Eingriffs in die Tierwürde zugleich eine Beeinträchtigung des Wohlergehens voraussetzt, unterscheidet sie nicht hinreichend zwischen den durch das TSchG geschützten Rechtsgütern[23].

Zweitens stimmt die Auslegung des Obergerichts mit den Intentionen der Tierschutzgesetzrevision 2008 überein. Mit dieser wollte der Gesetzgeber explizit das bisherige Schutzniveau zugunsten der Tiere beibehalten und punktuell erweitern[24]; der Tierquälereitatbestand wurde durch die Streichung des Adjektivs "stark" erheblich verschärft[25]. Wird der Tierquälereitatbestand ungeachtet dessen an die Voraussetzung eines Eingriffs in die Würde geknüpft, wird die gesetzgeberische Verschärfung gleichsam über den Umweg der Auslegung relativiert.

Drittens entspricht die bisherige Praxis des Obergerichts dem Wortlaut von Art. 26 Abs. 1 lit. a TSchG. Das Gesetz nennt die drei Tatvarianten ʺMisshandlungʺ, ʺVernachlässigungʺ und ʺÜberanstrengungʺ und ergänzt diese um eine Generalklausel (ʺoder dessen Würde in andere Weise missachtetʺ)[26]. Die Verknüpfung von drei konkreten Tatvarianten mit einer Generalklausel, die ihrerseits auf die Tierwürde Bezug nimmt, verdeutlicht, dass der Gesetzgeber Erstere als Anwendungsfälle eines Eingriffs in die Tierwürde versteht. Deshalb kann ein Würdeeingriff nicht im Sinn eines zusätzlichen Tatbestandsmerkmal der ʺMisshandlungʺ, ʺVernachlässigungʺ und ʺÜberanstrengungʺ verlangt werden.

3.4.4.

Im Wesentlichen aus den vorgenannten Überlegungen lehnt ein gewichtiger Teil der Lehre die bundesgerichtliche Rechtsprechung ab[27]. Somit bestehen triftige Gründe, um an der kantonalen Praxis festzuhalten. Im Übrigen scheint auch die höchstrichterliche Rechtsprechung in jüngeren Entscheiden nunmehr davon auszugehen, der Tatbestand der Tierquälerei sei ein echtes Unterlassungsdelikt[28]. Auch die gegenteilige Meinung würde im vorliegenden Fall jedoch zu keinem anderen Ergebnis führen. Geht es um die Vernachlässigung von Tieren, beurteilt das Bundesgericht die Tatbestandsmässigkeit in erster Linie anhand des Krankheitsbilds. Mit anderen Worten ist kein eigentlicher Erfolg vorausgesetzt, sondern es genügt vielmehr bereits die aus einem bestimmten Krankheitsbild resultierende Gefährdung des Wohlergehens oder der Würde eines Tiers[29]. Damit wird der Tierquälereitatbestand zu einem Gefährdungsdelikt, das keinen Erfolg im Sinn einer Verletzung voraussetzt, sondern bereits die Gefahr eines Erfolgseintritts sanktioniert. Auch vor diesem Hintergrund ist an der kantonalen Praxis festzuhalten.

[…]

Obergericht, 3. Abteilung, 21. Dezember 2022, SBR.2022.36

Eine dagegen erhobene Beschwerde ist beim Bundesgericht hängig (7B_835/2023).


[1]    Tierschutzgesetz, SR 455

[2]    Art. 3 lit. b TSchG

[3]    Art. 3 lit. a TSchG

[4]    AS 2008 2977, in Kraft seit 1. September 2008

[5]    Botschaft zur Revision des Tierschutzgesetzes vom 9. Dezember 2002, BBl 2003 S. 674

[6]    BGE vom 8. Februar 2011, 6B_660/2010, Erw. 1.2.2

[7]    Bolliger/Richner/Rüttimann/Stohner, Schweizer Tierschutzstrafrecht in Theorie und Praxis, 2.A., S. 119

[8]    RBOG 2013 Nr. 32 Erw. 1.b.aa; BGE vom 14. März 2013, 6B_635/2012, Erw. 3.2.1

[9]    RBOG 2013 Nr. 32 Erw. 1.b.aa

[10]  RBOG 2013 Nr. 32 Erw. 1.b.dd

[11]  Vgl. BGE vom 20. August 2015, 6B_482/2015, Erw. 2.2; BGE vom 25. Februar 2019, 6B_811/2018, Erw. 5.1

[12]  BGE vom 14. März 2013, 6B_635/2012, Erw. 3.2.1; BGE vom 20. August 2015, 6B_482/2015, Erw. 2.2; BGE vom 25. Februar 2019, 6B_811/2018, Erw. 5.1

[13]  RBOG 2013 Nr. 32 Erw. 1.b.aa; Bolliger/Richner/Rüttimann/Stohner, S. 131; Rüttimann, Der Tierquälereitatbestand der Vernachlässigung, in: Jusletter 8. Juli 2013 N. 18.

[14]  Vgl. die Kasuistik bei Bolliger/Richner/Rüttimann/Stohner, S. 202

[15]  Art. 26 Abs. 2 TSchG

[16]  Art. 28 Abs. 2 TSchG

[17]  Art. 12 Abs. 2 Satz 1 StGB

[18]  Art. 12 Abs. 2 Satz 2 StGB; BGE 130 IV 61; BGE 125 IV 251

[19]  BGE vom 20. August 2015, 6B_482/2015, Erw. 2.2; BGE vom 25. Februar 2019, 6B_811/2018, Erw. 5.1

[20]  BGE vom 25. Februar 2019, 6B_811/2018, Erw. 7.3.2

[21]  RBOG 2013 Nr. 32 Erw. 1.b.bb; so bereits Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 11. September 2007, SBR.2007.28, in: Datenbank TIR [Stiftung für das Tier im Recht], TG07/010

[22]  Vgl. BGE vom 25. Februar 2019, 6B_811/2018, Erw. 7.3.2

[23]  Rüttimann, N. 8 f.

[24]  Botschaft, S. 665

[25]  Dazu Erw. 3.3.2.

[26]  "In anderer Weise"

[27]  Rüttimann, N. 6 ff.; Bolliger/Richner/Rüttimann/Stohner, S. 130 f. und 136 f.

[28]  Vgl. BGE vom 17. Oktober 2019, 6B_638/2019, Erw. 1.5.1

[29]  BGE vom 20. August 2015, 6B_482/2015, Erw. 2.2; BGE vom 25. Februar 2019, 6B_811/2018, Erw. 5.1


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