RBOG 2024 Nr. 02
Wegzug des Kindes mit der Mutter ins Ausland bei gemeinsamer elterlicher Sorge
Art. 301a Abs. 2 lit. a ZGB Art. 5 HKsÜ
Zusammenfassung des Sachverhalts:
Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde erteilte der Beschwerdegegnerin die Erlaubnis, mit der Tochter, die unter der gemeinsamen elterlichen Sorge steht und unter der Obhut der Beschwerdegegnerin lebt, ins Ausland wegzuziehen. Gegen diesen Entscheid erhob der Vater Beschwerde.
Aus den Erwägungen:
[…]
3.
3.1.
Anlass zur Beschwerde gibt die Bewilligung des Wegzugs der Beschwerdegegnerin mit der gemeinsamen Tochter der Parteien ins Ausland.
3.2.
3.2.1.
Üben die Eltern die elterliche Sorge gemeinsam aus und will ein Elternteil den Aufenthaltsort des Kindes wechseln, so bedarf dies gemäss Art. 301a Abs. 2 lit. a ZGB namentlich dann der Zustimmung des andern Elternteils oder der Entscheidung des Gerichts oder der Kindesschutzbehörde, wenn der neue Aufenthaltsort im Ausland liegt.
3.2.2.
Vorliegend liegt der neue Aufenthaltsort im Ausland. Die Verschiebung des Aufenthaltsorts ist daher zustimmungsbedürftig. Dass sich der neue Aufenthaltsort nur unweit der Grenze zur Schweiz befindet, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Ausschlaggebend ist, dass der Wegzug ins Ausland zur Begründung einer ausländischen Jurisdiktion führt[1].
[…]
3.5.1.
Nach der Rechtsprechung bildet der vom Gesetzgeber getroffene Entscheid, dass die Niederlassungs- beziehungsweise Bewegungsfreiheit der Eltern zu respektieren ist, das Fundament für die Auslegung von Art. 301a ZGB und insbesondere für die Beurteilung der für die Wegzugsfrage relevanten Kriterien. Die vom Gericht oder der Kindesschutzbehörde zu beantwortende Frage lautet folglich nicht, ob es für das Kind vorteilhafter wäre, wenn beide Elternteile im Inland verbleiben würden. Die entscheidende Fragestellung ist vielmehr, ob sein Wohl besser gewahrt ist, wenn es mit dem auswanderungswilligen Elternteil wegzieht oder wenn es sich beim zurückbleibenden Elternteil aufhält[2].
3.5.2.
Für die Beurteilung des Kindeswohls beim Entscheid über den Wechsel des Aufenthaltsorts des Kindes sind dabei die konkreten Umstände des Einzelfalls massgebend. Das bisherige Betreuungsmodell bildet, unter Vorbehalt veränderter Verhältnisse, den Ausgangspunkt der Überlegungen. Ist das Kind von beiden Elternteilen in ähnlichem Umfang betreut worden und sind auch weiterhin beide Teile dazu bereit, ist die Ausgangslage laut Bundesgericht neutral und es ist anhand weiterer Kriterien wie familiäres und wirtschaftliches Umfeld, Stabilität der Verhältnisse, Sprache und Beschulung, gesundheitliche Bedürfnisse, Meinungsäusserung des Kindes zu eruieren, welche Lösung im besten Interesse des Kindes liegt[3]. Dem wegzugswilligen Elternteil, welcher die Kinder bislang überwiegend betreut hat und dies auch in Zukunft tun wird, ist die Verlegung des Aufenthaltsorts der Kinder in der Regel zu bewilligen[4]. Nicht mit dem Kindeswohl vereinbar ist der Ortswechsel, wenn er ohne plausible Gründe beziehungsweise ausschliesslich zur Vereitelung von Kontakten zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil erfolgt, womit gemäss Bundesgericht die Bindungstoleranz und damit die Erziehungsfähigkeit des betreffenden Elternteils in Frage gestellt und die Umteilung des Kindes in Erwägung zu ziehen ist[5].
3.6.
3.6.1.
Fest steht, dass die Beschwerdegegnerin seit jeher die Hauptbetreuungsperson der Tochter ist. Bis Juni 2023 war die Tochter jedes zweite Wochenende beim Beschwerdeführer zu Besuch. Danach fanden keine Übernachtungen mehr statt. Im Januar 2024 war die Tochter das letzte Mal beim Beschwerdeführer. Dieser wünscht sich ein Besuchsrecht jedes zweite Wochenende. In der übrigen Zeit – somit überwiegend respektive gar ausschliesslich – hat die Beschwerdegegnerin die Tochter betreut. Sie wird dies (auch nach den Vorstellungen des Beschwerdeführers) auch in Zukunft tun. Aus diesem Grund ist ihr die Verlegung des Aufenthaltsorts der Tochter im Grundsatz zu bewilligen. Gründe, hiervon abzuweichen, bestehen nicht. Insbesondere gibt es keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass es ihr mit dem Umzug ausschliesslich darum ginge, die Tochter dem Beschwerdeführer zu entfremden. Sie legte an verschiedenen Anhörungen dar, dass sie (die Beschwerdegegnerin) im Ausland mit ihrer Familie in einem Mehrfamilienhaus zusammenziehen wolle und ihre Eltern sowie der Götti bei der Betreuung mithelfen könnten. Die Beschwerdegegnerin begründet somit ihre Rückkehr ins Heimatland und in den eigenen Familienkreis nachvollziehbar. Angesichts der geografischen Nähe ist die Ausübung des väterlichen (zweiwöchentlichen) Besuchsrechts im Übrigen weiterhin möglich.
3.6.2.
Der Beschwerdeführer scheint zu übersehen, dass die Niederlassungsfreiheit der Beschwerdegegnerin in jedem Fall zu respektieren ist. Es geht daher – anders, als er in der Beschwerde ausführt – nicht darum, ob es für die Tochter am besten wäre, wenn beide Elternteile in der Schweiz leben. Entscheidende Fragestellung ist vielmehr, ob das Kindeswohl besser gewahrt ist, wenn sie mit der Beschwerdegegnerin ins Ausland zieht oder aber wenn sie sich neu beim Beschwerdeführer aufhält. Selbst wenn es der Beschwerdegegnerin darum ginge, den Kontakt zwischen der Tochter und dem Beschwerdeführer zu erschweren, so setzte die Umteilung der Tochter an den Beschwerdeführer doch voraus, dass dieser erziehungsfähig ist und er die Tochter tatsächlich bei sich aufnehmen und betreuen kann[6]. Dass er dazu bereit und in der Lage ist, macht der Beschwerdeführer mit keinem Wort geltend; dies scheint er auch nicht zu wollen.
3.6.3.
Die Tatsache, dass die Tochter in der Schule offenbar gut integriert ist, steht einer Zustimmung zum Wegzug ins Ausland (und dem damit verbundenen Schulwechsel) nicht entgegen: Der Beschwerdeführer wohnt in einer Gemeinde im Kanton St. Gallen, wohingegen die Tochter mit der Beschwerdegegnerin bisher in einer Gemeinde im Kanton Thurgau wohnhaft war. Auch eine Umteilung zum Beschwerdeführer würde daher einen Schulwechsel bedingen. Soweit der Beschwerdeführer vorträgt, der Schulplatz für die Tochter sei am neuen Wohnort der Beschwerdegegnerin "bislang nicht gesichert", so hat die Beschwerdegegnerin angesichts der langen Warteliste in der Zwischenzeit davon abgesehen, die Tochter in eine Privatschule zu schicken. Die Tochter wird vielmehr die staatliche Schule besuchen. Es ist ohne Weiteres davon auszugehen, dass am neuen Wohnort der Beschwerdegegnerin jedes schulpflichtige Kind die Schule besuchen kann. Nichts zur Sache tut sodann, dass derzeit noch kein fester Arbeitsplatz der Beschwerdegegnerin nachgewiesen ist und in Bezug auf die verwandtschaftliche Betreuung noch keine konkreten Pläne gemacht worden sind, wie dies der Beschwerdeführer moniert. Es liegt auf der Hand, dass die Beschwerdegegnerin für die konkrete Umsetzung ihrer Pläne auf den bewilligenden Behördenentscheid angewiesen ist (respektive war). Daraus, dass noch nicht alle Details feststehen, kann der Beschwerdeführer mithin nichts für sich ableiten[7].
3.6.4.
Gleichermassen ist der Umstand, dass die Aufrechterhaltung des väterlichen Kontakts zur Tochter schwieriger werden könnte, hinzunehmen respektive – mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit der Beschwerdegegnerin – kein relevantes Kriterium[8]. Eine Umteilung der Tochter zum Beschwerdeführer würde (genau umgekehrt) die Kontakte zur Beschwerdegegnerin erschweren. Letztlich ist auch hier zu beachten, dass der Status quo – die Tochter bleibt mit der Beschwerdegegnerin in der bisherigen Wohnsitzgemeinde im Kanton Thurgau wohnhaft – nicht der relevante Vergleichsmassstab ist. Gegenüberzustellen ist der Wegzug mit der Beschwerdegegnerin ins Ausland einerseits und ihr Umzug zum Beschwerdeführer andererseits. Letzteres steht – wie erwähnt – jedoch nicht zur Diskussion.
3.6.5.
Auch aus der Anhörung von der Tochter ergibt sich nichts Gegenteiliges. Daraus ist nur – aber immerhin – zu schliessen, dass sich die Tochter bei der Beschwerdegegnerin wohler fühlt als beim Beschwerdeführer. Dass der Umzug ins grenznahe Ausland und der dortige Zusammenzug mit Familienangehörigen (die der Tochter bereits teilweise vertraut sein dürften) einer Kindeswohlgefährdung gleichkäme, kann offensichtlich nicht gesagt werden. Gemessen an der Maxime des Kindeswohls sind die Interessen von der Tochter am besten gewahrt, wenn sie sich zusammen mit der hauptbetreuenden (und unbestrittenermassen erziehungsfähigen) Beschwerdegegnerin an deren neuen Wohnsitz im Ausland aufhält. Damit ist ihre harmonische Entfaltung in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht und die notwendige Stabilität gewährleistet.
[…]
3.9.
Das Besuchsrecht, wie es zuletzt festgelegt wurde, gilt grundsätzlich weiterhin, wovon auch die Vorinstanz ausgegangen ist. Sie hat denn auch die Beiständin ermächtigt, über die stufenweise Ausweitung der Besuchskontakte bis zum regulären Besuchswochenende zu entscheiden. Sobald die Vorinstanz das Mandat übergeben hat, werden sodann die Behörden am neuen Wohnsitz des Kindes dafür zuständig sein[9].
[…]
Obergericht, 3. Abteilung, 3. Oktober 2024, KES.2024.43
[1] BGE 142 III 498 E. 4.6
[2] BGE 142 III 481 E. 2.6; Urteil des Bundesgerichts 5A_589/2021 / 5A_590/2021 vom 23. Juni 2022 E. 3.1.1
[3] BGE 144 III 469 E. 4.1; 142 III 481 E. 2.7; 142 III 502 E. 2.5; Meyer, Wegzug mit Kind, in: AJP 2017 S. 823 ff.; Urteil des Bundesgerichts 5A_1013/2018 vom 1. Februar 2019 E. 4
[4] BGE 142 III 481 E. 2.7
[5] BGE 142 III 481 E. 2.5; 136 III 353
[6] Vgl. BGE 142 III 481 E. 2.7 S. 495
[7] So ausdrücklich auch das Bundesgericht in BGE 142 III 481 E. 2.8 S. 497
[8] Vgl. BGE 142 III 481 E. 2.7
[9] Art. 5 HKsÜ (Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Massnahmen zum Schutz von Kindern, SR 0.211.231.011)