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RBOG 2024 Nr. 11

Streitwertbestimmung bei einem Gesuch betreffend Auskunft und Einsicht nach Art. 802 OR

Art. 91 Abs. 2 ZPO Art. 308 Abs. 2 ZPO Art. 802 OR


Zusammenfassung des Sachverhalts:

1.

A. und seine Ehefrau waren bis im September 2021 als Gesellschafter der Berufungsklägerin im Handelsregister eingetragen; A. mit einem Stammanteil von Fr. 19'000.00 und seine Ehefrau mit 81 Stammanteilen von je Fr. 1'000.00 (insgesamt Fr. 81'000.00). Im September 2021 gingen die Stammanteile von A. mittels zwangsrechtlicher öffentlicher Versteigerung auf die Berufungsbeklagte über, und diese wurde in der Folge anstelle von A. im Handelsregister als Gesellschafterin eingetragen.

2.

Gestützt auf ein Gesuch der Berufungsbeklagten betreffend "Anspruch auf Auskunft und Einsicht (Art. 802 OR)" verpflichtete der Einzelrichter des Bezirksgerichts die Berufungsklägerin, der Berufungsbeklagten unter der Voraussetzung, dass diese Dokumente auch existieren würden, Einsicht in die verlangten Dokumente zu gewähren. Dagegen erhob die Berufungsklägerin Berufung. Im Berufungsverfahren stellt sich die Frage, ob die Streitwertgrenze für die Berufung erreicht ist.

Aus den Erwägungen:

1.

1.1.

Gemäss Art. 308 Abs. 2 ZPO ist in vermögensrechtlichen Angelegenheiten die Berufung nur zulässig, wenn der Streitwert der zuletzt aufrechterhaltenen Rechtsbegehren mindestens Fr. 10'000.00 beträgt. Nicht berufungsfähige erstinstanzliche Entscheide sind mit Beschwerde anfechtbar[1].

Der Streitwert wird nach Art. 91 Abs. 1 ZPO durch das Rechtsbegehren bestimmt. Zinsen und Kosten des laufenden Verfahrens oder einer allfälligen Publikation des Entscheids sowie allfällige Eventualbegehren werden nicht hinzugerechnet. Lautet das Rechtsbegehren nicht auf eine bestimmte Geldsumme, so setzt das Gericht den Streitwert fest, sofern sich die Parteien darüber nicht einigen oder ihre Angaben offensichtlich unrichtig sind[2].

1.2.

1.2.1.

Gegenstand des Verfahrens bildet das Gesuch der Berufungsbeklagten betreffend "Anspruch auf Auskunft und Einsicht (Art. 802 OR)", worin sie beantragte, die Berufungsklägerin sei zu verpflichten, ihr Einsicht in verschiedene Geschäftsunterlagen zu gewähren. […]

1.3.

1.3.1.

Im angefochtenen Entscheid erwog die Vorinstanz zum Streitwert, gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung sei bei Auskunftsansprüchen ein Bruchteil von 10-40% des wirtschaftlichen Interesses als Streitwert anzunehmen. Dies müsse auch für Einsichtsbegehren gelten. Dabei verwies die Vorinstanz einerseits auf das Urteil des Bundesgerichts 4A_542/2017 vom 9. April 2018 E. 4.2.2 und andererseits auf das Urteil des Zürcher Handelsgerichts HE180481-0 vom 17. Januar 2019 E. 5.7. Die Berufungsbeklagte habe den Streitwert mit mindestens Fr. 5'000.00 beziffert. Im Weiteren hätten sich die Parteien nicht mehr zur Festsetzung des Streitwerts geäussert. Mit Verfügung vom April 2023 sei der Streitwert vom Gericht einstweilen auf Fr. 19'000.00 geschätzt worden, wobei eine Anpassung vorbehalten worden sei. Hierbei sei das Bezirksgericht von einem wirtschaftlichen Interesse in Höhe von Fr. 19'000.00 ausgegangen, wobei der Streitwert gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung auf 40% des wirtschaftlichen Interesses, das heisse auf Fr. 7'600.00, festgesetzt werde.

In der Rechtsmittelbelehrung verwies die Vorinstanz auf die Berufung als zulässiges Rechtsmittel.

1.3.2.

Im Rechtsmittelverfahren thematisierten die Parteien den Streitwert nicht. Die (anwaltlich vertretene) Berufungsbeklagte machte insbesondere nicht geltend, es sei das falsche Rechtsmittel erhoben worden.

1.4.

1.4.1.

Der Streit um einen Informationsanspruch ist eine vermögensrechtliche Streitigkeit, unabhängig davon, ob der Anspruch vertraglich oder erbrechtlich begründet ist[3]. Nach der Rechtsprechung wird bei Auskunftsbegehren für die Frage, ob die Streitwertgrenze erreicht ist, auf das wirtschaf­tliche Interesse an den anbegehrten Informationen Bezug genommen[4]. Der Wert eines Auskunftsbegehrens ist nicht mit dem vollen Wert des möglichen Schadens oder einer anderen (mit Hilfe der Informationen zu beziffernden) Forderung gleichzusetzen, sondern beträgt nur einen Bruchteil davon[5]. Zur Höhe des Bruchteils äusserte sich das Bundesgericht nicht; es verwies darauf, dass in der Lehre ein Bruchteil von 10-40% vorgeschlagen werde[6]. Das Bundesgericht (welches die Schätzung des Streitwerts durch das kantonale Gericht nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür prüft[7]) erachtete aber für ein Auskunftsbegehren im Zusammenhang mit einer ausserordentlichen Dividendenausschüttung in der Höhe von Fr. 300'000'000.00 auch einen Streitwert von 1% der beanstandeten ausserordentlichen Dividende als zulässig[8].

1.4.2.

Die Vorinstanz setzte das Interesse an den anbegehrten Informationen auf 40% des Nominalwerts der von der Berufungsbeklagten gehaltenen Stammanteile an der Berufungsklägerin (Fr. 19'000.00) fest.

Aus den von der Berufungsbeklagten eingereichten Dokumenten geht hervor, dass 90% der "Geschäftsanteile" der Berufungsbeklagten von B. gehalten werden, der auch als Geschäftsführer der Berufungsbeklagten eingetragen ist. B. hatte in der Betreibung gegen A. eine Forderung in der Höhe von Fr. 2'498'361.45[9] eingegeben. Weiter ist gerichtsnotorisch, dass es im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Forderung verschiedentlich zu (insbesondere beim Obergericht hängig gemachten) Gerichtsverfahren, auch zu Strafverfahren, kam.

Die wesentlich von B. beherrschte Berufungsbeklagte erwarb in der Pfändung gegen A. einen Minderheitsanteil von 19% an der Berufungsklägerin, einer von A. und seiner Ehefrau gehaltenen GmbH; deren Wert hatte das Betreibungsamt gemäss der nicht bestrittenen Behauptung der Berufungsklägerin auf Fr. 1.00 geschätzt. Anschliessend verlangte die Berufungsbeklagte (unter Inkaufnahme von Anwaltskosten) von der Berufungsklägerin Einsicht in eine Vielzahl von Geschäftsunterlagen der letzten zehn Jahre. Dieses Vorgehen ist nur dann einigermassen nachvollziehbar, wenn diese Unterlagen der Durchsetzung der Forderung von B. gegenüber A. (insbesondere der Auffindung von weiteren Vermögenswerten von A.) dienen sollen. Folglich entspricht das Interesse der Berufungsbeklagten an den Unterlagen nicht einem Bruchteil des Nennwerts des Stammanteils, sondern einem Bruchteil der noch verbliebenen Forderung von B. gegenüber A.

Der für den Streitwert massgebliche Bruchteil ist hier jedoch weit unter 10% zu veranschlagen, weil ungewiss ist, inwiefern die verlangten Geschäftsunterlagen – soweit diese überhaupt vorhanden sind – für den beabsichtigen Zweck geeignet sind. Folglich ist das wirtschaftliche Interesse an den anbegehrten Informationen auf 1% der verbliebenen Forderung, somit auf gerundet Fr. 25'000.00, zu schätzen.

1.5.

Damit liegt der Streitwert über der Streitwertgrenze von Art. 308 Abs. 2 ZPO, und die Eingabe ist als Berufung entgegenzunehmen.

[…]

Obergericht, 2. Abteilung, 6. Juni 2024, ZBS.2024.4


[1]    Art. 319 lit. a ZPO

[2]   Art. 91 Abs. 2 ZPO

[3]   Urteile des Bundesgerichts 5A_295/2016 vom 23. Februar 2017 E. 1.3; 5A_695/2013 vom 15. Juli 2014 E. 7.2

[4]   BGE 126 III 445 E. 3.b; Urteile des Bundesgerichts 4A_436/2020 vom 28. April 2022 E. 1.2; 4A_640/2016 vom 25. September 2017 E. 1; 5A_695/2013 vom 15. Juli 2014 E. 7.2

[5]   Urteile des Bundesgerichts 5A_969/2023 vom 5. Juni 2024 E. 9.1.2.1; 4A_542/2017 vom 9. April 2018 E. 4.4.2; 5A_695/2013 vom 15. Juli 2014 E. 7.2

[6]   Urteile des Bundesgerichts 4A_542/2017 vom 9. April 2018 E. 4.4.2; 5A_695/2013 vom 15. Juli 2014 E. 7.2

[7]   Urteile des Bundesgerichts 4A_487/2023 vom 15. November 2023 E. 4.2; 4A_296/2021 vom 7. September 2021 E. 5.2.1; 4A_542/2017 vom 9. April 2018 E. 4.2.1

[8]   Urteil des Bundesgerichts 4A_487/2023 vom 15. November 2023 E. 4.1 f.

[9]   Fr. 3'142'276.05 gemäss Verlustschein, abzüglich EUR 596'244.83 aus Zwangsversteigerung in Frankreich.


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