RBOG 2024 Nr. 12
Kriterien der Kostenverlegung bei Gegenstandslosigkeit
Zusammenfassung des Sachverhalts:
1.
Die Beschwerdeführerin klagte beim Bezirksgericht gegen die Beschwerdegegner auf Unterlassung eines Bauvorhabens. Während des Verfahrens hob das Department für Bau und Umwelt des Kantons Thurgau (DBU) die Baubewilligung auf, worauf die Beschwerdegegner beim Bezirksgericht die Abschreibung der Klage wegen Gegenstandslosigkeit beantragten.
2.
Das Bezirksgericht schrieb das Verfahren in der Folge wegen Gegenstandslosigkeit ab, auferlegte den Parteien die Gerichtskosten je zur Hälfte und hielt fest, dass jede Partei ihre Parteikosten selbst zu tragen habe. Dabei ging es von einem offenen Prozessausgang aus, ohne dies näher zu begründen. Vor Obergericht ist die Verteilung der Prozesskosten umstritten.
Aus den Erwägungen:
[…]
4.1.
Nach Art. 106 ZPO werden die Prozesskosten grundsätzlich der unterliegenden Partei auferlegt. Das Gericht kann von den Verteilungsgrundsätzen abweichen und die Prozesskosten nach Ermessen verteilen, wenn das Verfahren als gegenstandslos abgeschrieben wird und das Gesetz nichts anderes vorsieht[1]. Bei der Kostenverlegung aufgrund von Gegenstandslosigkeit hat das Gericht je nach Lage des Einzelfalls zu berücksichtigen, wer Anlass zur Klage gegeben hat, ob die klagende Partei überstürzt vorgegangen ist, welche Partei unnötigerweise Kosten verursacht hat, welches der mutmassliche Prozessausgang gewesen wäre und bei welcher Partei die Gründe eingetreten sind, die zur Gegenstandslosigkeit geführt haben[2].
4.2.
In der Lehre ist die Frage, ob einem Kriterium und gegebenenfalls welchem der Vorrang gegeben werden soll, umstritten. Gemäss der Lehrmeinung von Jenny[3] sei dem Wortlaut des Gesetzes nicht zu entnehmen, ob primär auf den mutmasslichen Prozessausgang oder darauf, wer das Gegenstandsloswerden des Prozesses zu vertreten habe, abzustellen sei, weshalb von vornherein keine Methode ausgeschlossen werden könne. Schmid/Jent-Sørensen[4] sind demgegenüber der Ansicht, die Kosten sollten in erster Linie gemäss dem mutmasslichen Obsiegen und Unterliegen und in zweiter Linie nach dem Verursacherprinzip verteilt werden, nach welchem derjenige die Kosten zu tragen habe, der entweder den Prozess und/oder dessen Gegenstandslosigkeit verursacht habe. Das Abwägen des mutmasslichen Obsiegens und Unterliegens solle aufgrund einer summarischen Prüfung gestützt auf die Akten und ohne Durchführung eines Beweisverfahrens ergehen. Die verschiedenen Grundsätze könnten je nach Sachlage allein oder in Kombination zum Entscheid führen. Habe beispielsweise die beklagte Partei gute Aussichten auf Prozessgewinn, aber der Streitgegenstand sei bei ihr aus Fahrlässigkeit zerstört worden, so könne es zu einer geteilten Kostentragung kommen. Pesenti[5] zufolge solle dem Prinzip der Kostenverteilung nach dem mutmasslichen Prozessausgang lediglich eine untergeordnete Bedeutung zukommen, wenn die vorhandenen Akten nicht oder wenig aussagekräftig seien. Je weiter das Verfahren fortgeschritten sei, desto wichtiger werde das genannte Kriterium für die Verteilung der Gerichtskosten, weil sich die Erfolgsaussichten der Parteien zuverlässiger prognostizieren liessen. Laut Addor[6] dürfe das Gericht nie allein auf den mutmasslichen Prozessausgang abstellen, sondern müsse auch die übrigen Kostentragungsaspekte berücksichtigen, nämlich das Prinzip der Verursachung der Gegenstandslosigkeit und das Prinzip der Veranlassung des Verfahrens. Bei Letzterem sei nicht von Bedeutung, welche Partei die richterliche Hilfe angerufen habe, sondern welche Partei den Tatbestand gesetzt habe, aufgrund dessen die richterliche Hilfe anbegehrt worden sei. Beispielsweise "zwinge" die behördliche Ausschreibung eines Bauprojekts die davon betroffene Person zur Einreichung einer zivilrechtlichen Baueinsprache. Werde das zivilrechtliche Verfahren gegenstandslos, weil die Baupolizei der Bauherrschaft die Bewilligung verweigere, so müsse die Bauherrschaft die Kosten tragen.
4.3.
Nach der Praxis des Bundesgerichts darf sich das Gericht grundsätzlich nicht auf ein einzelnes der genannten Kriterien versteifen, sondern hat alle Kriterien zu berücksichtigen[7]. Je nach Sachlage anerkennt es allerdings, dass vorab auf einzelne Kriterien abgestellt werden kann[8]. Das Bundesgericht selbst stellt in den bei ihm gegenstandslos gewordenen Verfahren bezüglich der Kostenauflage in erster Linie auf den mutmasslichen Prozessausgang ab. Es geht aber nicht darum, die Prozessaussichten im Einzelnen zu prüfen und dadurch weitere Umtriebe zu verursachen. Vielmehr soll es bei einer knappen, summarischen Beurteilung der Aktenlage sein Bewenden haben. Auf dem Weg über den Kostenentscheid soll nicht ein materielles Urteil gefällt werden[9].
[…]
5.1.4.
Vorab ist festzuhalten, dass es sich bei den gerügten drohenden Beschädigungen beziehungsweise Beeinträchtigungen als Folge der geplanten Baute um einen direkten Eingriff in ein benachbartes Grundstück handelt, welcher mittels zivilrechtlicher Eigentumsfreiheitsklage geltend zu machen ist. Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau hat entschieden, dass es sich bei der Rüge der übermässigen Einwirkung im Sinn von Art. 684 ZGB um eine auf Art. 641 Abs. 2 ZGB gestützte Eigentumsfreiheitsklage handle, was von Bundesrecht wegen eine streitige Zivilsache darstelle. Deshalb sei der Kanton nicht mehr befugt, dafür in § 104 PBG eine eigene Verfahrensordnung aufzustellen, weshalb diese Bestimmung als bundesrechtswidrig zu betrachten sei[10]. Es braucht deshalb nicht geprüft zu werden, ob die Klagegründe im Rekursverfahren hätten vorgebracht und das gegenstandslos gewordene zivilrechtliche Klageverfahren dadurch hätte vermieden werden können. Sämtliche privatrechtlichen Einsprachegründe waren unbestritten im zivilrechtlichen Klageverfahren geltend zu machen.
5.1.5.
Die Erfolgsaussichten der Klage können mangels Klageantwort nur schlecht abgeschätzt werden. Immerhin ist anzuführen, dass die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten drohenden Beschädigungen beziehungsweise Beeinträchtigungen des (bestehenden) Gebäudes aufgrund des bestehenden Zusammenbaus bei summarischer Betrachtung und gestützt auf die vorliegenden Akten durchaus plausibel sind. Das DBU bejahte im Entscheid, dass durch den seitlichen Anbau und den dadurch unstrittig resultierenden Wegfall des einzigen Küchenfensters der Wohnung im ersten Obergeschoss des Gebäudes ein wohnhygienisch unhaltbarer Zustand geschaffen würde, was eine Verletzung von § 83 PBG darstelle. Dies indiziert, dass eine Immissionsklage durchaus Erfolgschancen gehabt hätte. Auf der anderen Seite hat das DBU die Frage, ob eine privatrechtliche Grenzbauberechtigung erforderlich gewesen wäre, zwar offengelassen, jedoch darauf hingewiesen, die südliche Aussenwand des geplanten Gebäudes verlaufe nicht auf, sondern direkt an der Parzellengrenze. Damit sei ein Anbau an die Aussenwand des bestehenden Gebäudes geplant und kein Zusammenbau im Sinn von § 37 PBV. Dies wiederum würde gegen die Argumentation der Beschwerdeführerin sprechen, wonach es an einem Grenz- und Zusammenbaurecht mangle. Ob der Neubau die bestehende Dienstbarkeit verletzt oder deren Ausübung erschwert, ist aufgrund des Verfahrensstands schwierig zu beurteilen.
5.1.6.
Die Prozesskosten können folglich aufgrund des mutmasslichen Prozessausgangs mangels genauerer Abschätzung der Erfolgschancen nicht adäquat verlegt werden. Es sind deshalb weitere Kriterien zu prüfen.
5.2.
Das Prinzip der Verursachung der Gegenstandslosigkeit würde grundsätzlich dafürsprechen, dass die Beschwerdeführerin für die Prozesskosten aufzukommen hat. Sie war es, welche den Rekurs gegen die Baubewilligung beziehungsweise den Einspracheentscheid eingelegt hat. Zufolge Gutheissung des Rekurses wurde die zivilrechtliche Bauunterlassungsklage gegenstandslos. Eine Kostenverlegung gestützt auf das Verursacherprinzip wäre jedoch nicht sachgerecht, da die Beschwerdeführerin zur Rechtswahrung verpflichtet war, den Rekurs zu erheben.
5.3.
5.3.1.
Die Beschwerdegegner haben durch die Einreichung des Baugesuchs die Beschwerdeführerin praktisch dazu "gezwungen", die zivilrechtliche Bauunterlassungsklage anhängig zu machen, nachdem die Baubewilligungsbehörde ihre Einsprache abgewiesen hatte. Die Beschwerdeführerin musste zur Rechtswahrung innert Frist gemäss § 105 Abs. 1 PBG den Friedensrichter und danach das Zivilgericht anrufen, wollte sie an ihren privatrechtlichen Einsprachen festhalten. Die Klage war deshalb nicht übereilt, sondern aufgrund der gesetzlichen Klagefristen geradezu geboten. Eine unnötige Doppelspurigkeit besteht nicht, sieht doch das Baubewilligungsverfahren explizit die Möglichkeit vor, ein privatrechtliches Klageverfahren parallel zum öffentlich-rechtlichen Einspracheverfahren zu führen. Eine Partei, welche ein Baugesuch stellt, muss deshalb immer damit rechnen, dass gegen sie ein Klageverfahren auf Unterlassung des Bauvorhabens eingeleitet wird. Die Ursache für die Unterlassungsklage setzten die Beschwerdegegner mit dem unzulässigen Baugesuch und nicht die Baubewilligungsbehörde. Das Risiko einer durch eine Baubewilligungsbehörde unrechtmässig erteilten Baubewilligung trägt die Bauherrschaft. Die Beschwerdegegner haben damit die Grundlage dafür geschaffen, dass die zivilrechtliche Klage auf Unterlassung des Bauvorhabens überhaupt notwendig wurde. Hätten die Beschwerdegegner das unzulässige Baugesuch nicht eingereicht, hätte die Beschwerdeführerin keine Unterlassungsklage einreichen müssen.
5.3.2.
Die Beschwerdegegner haben somit das zivilrechtliche Bauunterlassungsverfahren veranlasst, weshalb sie für dessen Kosten vollumfänglich aufzukommen haben. Zudem haben sie der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen. Die Vorinstanz übte ihr Ermessen rechtsfehlerhaft aus, indem sie die Gerichtskosten hälftig auf die Parteien aufteilte und die Parteikosten wettschlug. Sie verletzte damit Art. 107 Abs. 1 lit. e ZPO, was im Beschwerdeverfahren zu korrigieren ist. Die Beschwerde ist deshalb zu schützen.
[…]
Obergericht, 3. Abteilung, 7. Mai 2024, ZR.2024.14
[1] Art. 107 Abs. 1 lit. e ZPO
[2] Urteile des Bundesgerichts 4A_540/2021 vom 17. Januar 2022 E. 2.1; 4A_171/2021 vom 27. April 2021 E. 3; BGE 142 V 551 E. 8.2
[3] Jenny, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger), 3.A., Art. 107 N. 16
[4] Schmid/Jent-Sørensen, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar (Hrsg.: Oberhammer/Domej/Haas), 3.A., Art. 107 N. 9
[5] Pesenti, Gerichtskosten (insbesondere Festsetzung und Verteilung) nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO), Diss. Basel 2016, N. 522
[6] Addor, Die Gegenstandslosigkeit des Rechtsstreits, Diss. Bern 1997, S. 232
[7] Urteil des Bundesgerichts 4A_24/2019 vom 26. Februar 2019 E. 1.1; Fischer, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Baker & McKenzie), Bern 2010, Art. 107 N. 12
[8] Urteil des Bundesgerichts 4A_24/2019 vom 26. Februar 2019 E. 1.1
[9] BGE 142 V 551 E. 8.2
[10] Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau VG.2018.17/E vom 4. Juli 2018 E. 4, nicht publiziert in: TVR 2018 Nr. 21