RBOG 2024 Nr. 15
Zulässigkeit des vorprozessualen Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege
Zusammenfassung des Sachverhalts:
1.
Ein Kind, vertreten durch seine Eltern, beantragte beim Friedensrichteramt unentgeltliche Rechtspflege unter Beiordnung eines Offizialanwalts für das beabsichtigte Schlichtungsverfahren sowie das Entscheidverfahren vor Bezirksgericht in einer haftpflichtrechtlichen Streitigkeit. Das Friedensrichteramt leitete das Gesuch an das Bezirksgericht weiter. In der Folge schlossen sich die Eltern und die Geschwister dem Gesuch an. Sie erklärten, selbstständige Genugtuungsansprüche geltend machen zu wollen.
2.
Der Einzelrichter des Bezirksgerichts stellte fest, dass das Friedensrichteramt über die unentgeltliche Rechtspflege für das Schlichtungsverfahren zu entscheiden habe, und wies das Gesuch um Bewilligung der Offizialvertretung zur Vorbereitung des Prozesses bis und mit dem Schlichtungsverfahren sowie um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege und Offizialvertretung im gerichtlichen Verfahren ab. Dagegen erhoben das Kind, seine Eltern und Geschwister Beschwerde beim Obergericht und beantragten, es sei ihnen für das Entscheidverfahren vor Bezirksgericht die unentgeltliche Rechtspflege mit Offizialverbeiständung zu bewilligen. Die unentgeltliche Rechtspflege (Befreiung von Verfahrensgebühren und Offizialvertretung) zur Vorbereitung des Schlichtungsgesuchs und für das Schlichtungsverfahren war hingegen nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens.
Aus den Erwägungen:
[…]
5.
5.1.
Gemäss Art. 119 Abs. 1 ZPO kann das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege vor oder nach Eintritt der Rechtshängigkeit gestellt werden. Das Bundesgericht erwog im Urteil 4A_492/2020 vom 19. Januar 2021, entsprechend dem klaren Gesetzeswortlaut stehe es einem Ansprecher offen, das Gesuch vorprozessual einzureichen, noch bevor er das Verfahren in der Sache durch Schlichtungsgesuch oder Klageerhebung rechtshängig gemacht habe. Weiter könne sich ein vorprozessual eingereichtes Gesuch auf alle Posten gemäss Art. 118 Abs. 1 lit. a–c ZPO beziehen, mithin nicht nur auf die vorprozessuale Bestellung eines Offizialanwalts nach Art. 118 Abs. 1 lit. c ZPO, sondern auf die unentgeltliche Rechtspflege für das gerichtliche Verfahren insgesamt[1]. Es sei unzulässig, einen Ansprecher darauf zu verweisen, das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege zusammen mit der (die Rechtshängigkeit auslösenden) Rechtsschrift einzureichen. Dies vereitle das in Art. 119 Abs. 1 ZPO vorgesehene Recht, das Gesuch bereits vor Eintritt der Rechtshängigkeit einzugeben und beurteilen zu lassen[2].
5.2.
5.2.1.
Die Vorinstanz erklärt, die Prozessaussichten könnten erst dann eingehend geprüft werden, wenn zumindest eine umfassende Klageschrift vorliege oder aber die Gegenseite sich zu den Prozessaussichten geäussert habe, was für diese mit Kosten verbunden sei.
Das Bundesgericht äusserte sich schon verschiedentlich zu den materiellen Anforderungen, die ein vorprozessual eingereichtes Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege zu erfüllen hat. Es erwog insbesondere, dass sich die Ausführungen zur "Sache" und zu den "Beweismitteln" naturgemäss nicht aus einer gleichzeitig eingereichten Rechtsschrift ergäben. Deshalb habe sich der Gesuchsteller dazu in seinem Gesuch zu äussern, damit das Gericht die Erfolgsaussichten der in Aussicht gestellten Klage im Summarverfahren über die unentgeltliche Rechtspflege beurteilen könne. Erfülle ein vorprozessual gestelltes Gesuch diese Anforderungen, so sei es vom Gericht zu behandeln und der Ansprecher dürfe nicht auf eine später zu erstattende vollständige Klageschrift verwiesen werden[3].
5.2.2.
Die Feststellung der Vorinstanz, es sei ungewiss, ob die Streitsache überhaupt beim Gericht anhängig gemacht werde, trifft grundsätzlich zu; dies ist einem vorprozessualen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege allerdings inhärent. Darin liegt gerade der Vorteil, den der (potentielle) Kläger hat, wenn er das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege vor Eintritt der Rechtshängigkeit eingibt: Er kann sich darauf beschränken, die fehlende Aussichtslosigkeit glaubhaft zu machen, ohne bereits eine (allenfalls mit erheblichen Kosten verbundene) vollständige Klageschrift nach Art. 221 ZPO erstatten zu müssen. Dem Kläger – und mit ihm seinem Rechtsvertreter – wird es damit erlaubt, sich früh Klarheit über das finanzielle Verfahrensrisiko zu verschaffen. Ein solches Vorgehen kann auch für den Beklagten von Nutzen sein: Verzichtet der Kläger zufolge Abweisung des vorgängig gestellten Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege auf die Einreichung einer Klage, erübrigt sich in jedem Fall die Ausarbeitung einer Klageantwort, deren Kosten der Beklagte möglicherweise nicht vom Kläger erhältlich machen könnte[4].
5.2.3.
Die Vorinstanz stellt sich auf den Standpunkt, ein vor Rechtshängigkeit gestelltes Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege umfasse nicht primär die Prüfung der Erfolgsaussichten durch das Gericht, sondern in erster Linie durch einen Rechtsvertreter. Diesem ist nicht zu folgen. Ein vorprozessual gestelltes Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann sich auf alle Posten nach Art. 118 Abs. 1 ZPO beziehen und gibt Anspruch darauf, dass das Gericht die Bedürftigkeit und gegebenenfalls die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Klage prüft.
5.2.4.
Die Vorinstanz begründet ihren Entscheid weiter mit Art. 119 Abs. 5 ZPO. Gemäss dieser Bestimmung ist die unentgeltliche Rechtspflege im Rechtsmittelverfahren neu zu beantragen.
Auch dazu hat das Bundesgericht Stellung bezogen. Es hat festgehalten, dass sich diese Bestimmung auf das Rechtsmittelverfahren bezieht und die in Art. 119 Abs. 1 ZPO eingeräumte Möglichkeit nicht aufhebt, in einem vorgängigen Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege hinsichtlich der Gerichts- und Parteikosten eines künftigen erstinstanzlichen (Haupt-)Verfahrens zu beantragen[5].
5.2.5.
Der Ansicht der Vorinstanz, die bundesgerichtliche Praxis gelte nur, wenn kein Schlichtungsverfahren durchgeführt werde, kann ebenfalls nicht beigepflichtet werden. Dagegen spricht bereits, dass im Zeitpunkt der vorprozessualen Einreichung eines Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege nicht immer feststeht, ob es überhaupt zu einem Schlichtungsverfahren kommt. Dies gilt mit Blick auf Art. 199 Abs. 1 ZPO namentlich bei Streitigkeiten mit einem Streitwert von mindestens Fr. 100'000.00. Abgesehen davon ist nicht einzusehen, weshalb einem Gesuchsteller eine gerichtliche Beurteilung seiner beabsichtigten Klage nur deshalb verwehrt sein soll, weil er zunächst eine Schlichtungsbehörde anrufen muss. Diese Schlechterstellung im Vergleich zu einem Ansprecher, der direkt an das Gericht gelangen kann, lässt sich nicht rechtfertigen. Schliesslich gibt Art. 119 Abs. 1 ZPO in den Worten des Bundesgerichts ganz allgemein einen Anspruch, "in einem vorgängigen Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege hinsichtlich der Gerichts- und Parteikosten eines künftigen erstinstanzlichen (Haupt-)Verfahrens zu beantragen"[6]. Eine Einschränkung auf Prozesse ohne Schlichtungsversuch sieht das Gesetz nicht vor[7].
5.3.
Zusammenfassend lässt sich der Schluss der Vorinstanz, über das von den Beschwerdeführern gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das (beabsichtigte) gerichtliche Verfahren könne erst bei Einleitung des gerichtlichen Verfahrens entschieden werden, weshalb der Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege für das gerichtliche Verfahren abzuweisen sei, mit der genannten bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht in Einklang bringen.
Im Ergebnis ist der angefochtene Entscheid in Bezug auf die Nichtbewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege und Offizialvertretung im gerichtlichen Verfahren aufzuheben.
[…]
Obergericht, 3. Abteilung, 3. April 2024, ZR.2024.10
[1] Urteil des Bundesgerichts 4A_492/2020 vom 19. Januar 2021 E. 3.2.2 und 4.3
[2] Urteil des Bundesgerichts 4A_492/2020 vom 19. Januar 2021 E. 4.3
[3] Urteile des Bundesgerichts 4A_231/2022 vom 26. August 2022 E. 3.3; 4A_492/2020 vom 19. Januar 2021 E. 3.2.3; 4A_270/2017 vom 1. September 2017 E. 4.2
[4] Urteil des Bundesgerichts 4A_492/2020 vom 19. Januar 2021 E. 3.2.3
[5] Urteil des Bundesgerichts 4A_492/2020 vom 19. Januar 2021 E. 4.4
[6] Urteil des Bundesgerichts 4A_492/2020 vom 19. Januar 2021 E. 4.4
[7] Vgl. auch Urteil des Bundesgerichts 4A_492/2020 vom 19. Januar 2021 E. 3.2.2