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RBOG 2024 Nr. 16

Gültigkeit des Protokolls trotz fehlenden Hinweises auf die Tonbandaufnahme und ausbleibender Unterschrift der Befragten

Art. 176 ZPO Art. 191 ZPO Art. 192 ZPO Art. 193 ZPO


Zusammenfassung des Sachverhalts:

In einem Forderungsprozess stellte die Berufungsklägerin vor Bezirksgericht die Einrede der örtlichen Unzuständigkeit. Das Bezirksgericht beschränkte daraufhin das Verfahren auf diese Frage. An der mündlichen Verhandlung führte es Parteibefragungen mit den beiden Geschäftsführern der Berufungsbeklagten sowie dem Verwaltungsrat der Berufungsklägerin durch. Am Tag nach der Durchführung der Verhandlung teilte das Bezirksgericht den Parteien mit, es betrachte sich als örtlich zuständig. Im Berufungsverfahren ist umstritten, ob die Parteibefragungen mangels Einhaltung der Formvorschriften bei der Protokollierung als unverwertbar zu bezeichnen sind.

Aus den Erwägungen:

[…]

5.2.

5.2.1.

Ein Beweismittel, bei dessen Eingang in das Verfahren Normen des formellen Rechts verletzt wurden, ist ein formell rechtswidrig beschafftes Beweismittel. Einzelne Bestimmungen regeln die Folgen solcher Verletzungen ausdrücklich, Art. 161 ZPO etwa durch ein Verwertungsverbot. Die ZPO regelt den Umgang mit formell rechtswidrig beschafften Beweismitteln indes nicht generell. Sie sind somit nicht grundsätzlich unverwertbar. Zu prüfen ist jeweils, ob fehlerhafte Beweisabnahmen zu wiederholen sind oder Nachbesserungsmöglichkeiten bestehen. Die "Konversion" von einer Beweismittelart in eine andere ist ebenfalls nicht ausgeschlossen. Im Wesentlichen ist die verletzte, formelle Norm für die Frage der Entstehung und Verwertbarkeit des Beweismittels entscheidend. Ordnungsvorschriften sind – anders als Gültigkeitsvorschriften – regelmässig nicht bestimmt oder geeignet, die Entstehung eines Beweismittels zu verhindern[1].

5.2.2.

Das Gericht kann eine oder beide Parteien im Rahmen einer Parteibefragung zu den rechtserheblichen Tatsachen befragen, wobei es sie vor der Befragung zur Wahrheit zu ermahnen und darauf hinzuweisen hat, dass sie mit einer Ordnungsbusse bestraft werden können, wenn sie mutwillig leugnen[2]. Ferner kann das Gericht eine oder beide Parteien von Amtes wegen zur Beweisaussage unter Strafdrohung verpflichten; sie werden vor der Beweisaussage zur Wahrheit ermahnt und auf die Straffolgen einer Falschaussage nach Art. 306 StGB hingewiesen[3]. Für das Protokoll der Parteibefragung und der Beweisaussage gilt Art. 176 ZPO sinngemäss[4]. Nach dieser Bestimmung werden Aussagen in ihrem wesentlichen Inhalt zu Protokoll genommen, der Zeugin oder dem Zeugen vorgelesen oder zum Lesen vorgelegt und von der Zeugin oder dem Zeugen unterzeichnet[5]. Die Aussagen können zusätzlich auf Tonband, auf Video oder mit anderen geeigneten technischen Hilfsmitteln aufgezeichnet werden[6].

Ein Teil der Lehre vertritt die Ansicht, die Unterzeichnung des Protokolls geschehe zwar "mit Vorteil" gleich im Anschluss an die Einvernahme. Die einvernommene Person könne jedoch auch eigens dazu vorgeladen oder es könne ihr das Protokoll zur Unterschrift zugestellt werden – verbunden mit dem Risiko, dass sie es dann nicht unterschreibe[7]. Andere Autoren sind demgegenüber der Meinung, das Protokoll sei unmittelbar nach der Einvernahme zur Unterschrift vorzulegen[8]. Verweigert die einvernommene Person die Unterschrift, so verletzt sie ihre Mitwirkungspflicht und hat unter Umständen die Sanktionen gemäss Art. 164 beziehungsweise Art. 167 ZPO zu tragen, es sei denn, sie stelle sich auf den Standpunkt, das Protokoll entspreche nicht dem von ihr Gesagten. Gegebenenfalls hat die protokollführende Person die Weigerung im Protokoll zu vermerken[9].

Die Unterzeichnung des Protokolls durch die einvernommene Person hat generell zwei Funktionen: Identifikation und Anerkennung. Die Identifikationsfunktion ist nach der Befragung des Gerichts zu den Personalien gemäss Art. 172 lit. a ZPO samt allfälliger Verifikation und Protokollierung zweitrangig. Im Vordergrund steht die Anerkennung. Unterschriftlich anerkannt wird die schriftlich fixierte Aussage, also, dass das Protokoll die Aussage zumindest dem Sinn nach richtig wiedergibt[10]. Über die genaue Bedeutung des Erfordernisses der Unterzeichnung des Protokolls durch die Zeugin oder den Zeugen beziehungsweise die einvernommene Partei bestehen unterschiedliche Auf­fassungen. Während es sich nach einem Teil der Lehre um ein Gültigkeitserfordernis (und die Strafbarkeitsvoraussetzung wegen falscher Aussage) handelt[11], geht ein anderer Teil von einer Ordnungsvorschrift aus, womit die fehlende Unterschrift nicht die Unverwertbarkeit des Protokolls, sondern höchstens die Schmälerung von dessen Beweiswert zur Folge hat[12]. Borla-Geier hält schliesslich dafür, dass das Protokoll auch ohne Unterschrift gültig sei, wenn nach der Einvernahme ein wörtliches Protokoll erstellt worden sei[13].

Das Bundesgericht hat – in Bezug auf eine Parteibefragung – entschieden, dass ein nicht unterzeichnetes und bestrittenes Protokoll den Beweis für die darin festgehaltenen Aussagen nicht erbringen könne[14]. Dazu, ob es sich bei der Unterschrift um ein Gültigkeitserfordernis oder eine Ordnungsvorschrift handelt und wie namentlich ein (inhaltlich) nicht bestrittenes, nicht unterzeichnetes Protokoll zu beurteilen ist, äusserte sich das Bundesgericht – soweit ersichtlich – bisher nicht.

5.2.3.

5.2.3.1.

Werden die Aussagen während einer Verhandlung mit technischen Hilfsmitteln[15] aufgezeichnet, so kann das Gericht gemäss Art. 176 Abs. 3 ZPO darauf verzichten, der Zeugin oder dem Zeugen das Protokoll vorzulesen oder zum Lesen vorzulegen und von der Zeugin oder dem Zeugen unterzeichnen zu lassen; die Aufzeichnungen werden zu den Akten genommen und zusammen mit dem Protokoll aufbewahrt. Diese Regelung ändert nichts daran, dass Einvernahmen stets schriftlich zu protokollieren sind[16]. Mit dem Verzicht soll Zeit gespart werden[17]. Da die Aufzeichnungen zu den Akten zu nehmen sind, können sie von den Parteien eingesehen werden. Gestützt darauf können sie eine Protokollberichtigung verlangen[18]. Ausserdem ist es nicht ausgeschlossen, dass sich die Parteien in ihrer Stellungnahme zum Beweisergebnis auch auf Aussagen beziehen können, die nicht im Protokoll, aber in den Aufzeichnungen enthalten sind[19].

5.2.3.2.

Umstritten ist in der Lehre, ob das Aufnehmen mit technischen Hilfsmitteln genügt, damit auf das Erfordernis des Durch- oder Vorlesens und Unterzeichnens des Protokolls verzichtet werden kann, oder ob es hierfür einen (ausdrücklichen) Entscheid des Gerichts beziehungsweise des einvernehmenden Gerichtsmitglieds braucht.

Nach Guyan[20] liegt keine verwertbare Einvernahme vor, wenn der Verzichtsentscheid vergessen geht und eine Unterzeichnung fehlt: Der Entscheid befreie zusammen mit der Aufzeichnung von der Unterzeichnung, die Gültigkeitserfordernis sei. Stillschweigende prozessleitende Entscheide seien der Zivilprozessordnung fremd, sodass nur schwer auf einen Verzichtsentscheid geschlossen werden könne, wenn er nicht festgehalten sei. Der Verzichtsentscheid könne allerdings vor oder nach der Einvernahme getroffen werden. Weigere sich die einvernommene Partei, das Protokoll zu unterzeichnen, könne auf den Entscheid im Sinn einer Wiedererwägung zurückgekommen und (nachträglich) verzichtet werden[21]. Weibel/Walz und Müller schliessen sich dieser Ansicht an[22].

Ein anderer Teil der Lehre hält dafür, das (zusätzliche) Aufnehmen der Einvernahme durch technische Hilfsmittel ersetze ohne Weiteres das Durchlesen beziehungsweise Vorlesen und Unterzeichnen des Protokolls durch die einvernommene Person, ohne zusätzlich einen formellen Verzichtsentscheid zu fordern[23]. Vereinzelt vertreten sie zwar die Ansicht, das Gericht solle auf die Aufnahme beziehungsweise die Art der Protokollierung hinweisen. Dies allerdings bloss, weil die Aufnahme die Persönlichkeitsrechte der Parteien berühre[24]. Borla-Geier hält ausdrücklich dafür, dass ein Protokoll ohne Unterzeichnung gültig sei, sofern ein wörtliches Protokoll (ab der Aufnahme) erstellt werde[25]. Gasser/Rickli und Rüetschi vertreten schliesslich die Ansicht, eine fehlende Unterschrift mache ein Protokoll – selbst ohne zusätzliche Aufnahme – nicht ungültig[26]. Rüetschi begründet dies damit, es könne im Zivilprozess für die Frage der Gültigkeit einer Aussage bei fehlender Unterschrift – als Umkehrschluss – nicht der Umstand massgeblich sein, dass deren Vorliegen vereinzelt als Voraussetzung für den Tatbestand des falschen Zeugnisses nach Art. 307 StGB angesehen werde[27].

Die Materialien schliesslich halten in diesem Zusammenhang lediglich fest, das Gericht oder das die Einvernahme durchführende Gerichtsmitglied könne über das Absehen von der ordentlichen Protokollierung entscheiden[28]. Ob dieser Entscheid nach Wille des Gesetzgebers auch konkludent möglich sei oder aber im Sinn eines Gültigkeitserfordernisses gar eröffnet und schriftlich festgehalten werden müsse, lässt sich den Materialien nicht entnehmen.

Art. 176 Abs. 3 ZPO wird per 1. Januar 2025[29] gestrichen und in Art. 176a E-ZPO[30] geregelt. Diese Bestimmung sieht neu vor, dass bei Aufnahme der Einvernahme auf eine laufende Protokollierung verzichtet werden könne[31]. Im Übrigen wird der bisherige Art. 176 Abs. 3 ZPO unverändert übernommen. Dazu wird in der Botschaft festgehalten, mit der neuen Regelung soll bei Aufzeichnung das Protokoll auch nachträglich gestützt auf die Aufzeichnung erstellt werden können und nicht laufend protokolliert werden müssen. Wie bisher könne das Gericht bei Aufzeichnung darauf verzichten, der Zeugin oder dem Zeugen das Protokoll vorzulesen oder zum Lesen vorzulegen und von der Zeugin oder dem Zeugen unterzeichnen zu lassen, und die Aufzeichnungen zu den Akten nehmen[32].

5.2.4.

Ist eine Partei, ein Zeuge oder eine Zeugin mit der Protokollierung nicht einverstanden, steht die Protokollberichtigung nach Art. 235 Abs. 3 ZPO zur Verfügung[33]. Ein Gesuch um Protokollberichtigung ist unverzüglich nach Entdeckung des unrichtigen Protokolleintrags vorzubringen. Ein Zuwarten würde gegen Treu und Glauben[34] verstossen[35]. Dieser Grundsatz richtet sich gemäss Art. 52 ZPO ausdrücklich an alle am Verfahren beteiligten Personen, sowohl an die Parteien, ihre Vertreter und Vertreterinnen als auch an das Gericht. Die Parteien haben die Pflicht, bei der Ausübung ihrer Rechte und der Einhaltung ihrer prozessualen Pflichten nach Massgabe von Treu und Glauben vorzugehen. Dies bedeutet umgekehrt, dass der offenbare Missbrauch eines prozessualen Rechts keinen Rechtsschutz findet[36]. Die Berufung auf einen Formmangel kann missbräuchlich sein. Ob dies der Fall ist, hat das Gericht in Würdigung aller Umstände des konkreten Falls zu prüfen, wobei namentlich das Verhalten der Parteien zu würdigen ist. Zu berücksichtigen ist auch, ob der Schutzzweck einer Formvorschrift bezüglich der Partei verletzt wurde, die sich auf den Formmangel beruft[37].

Für die Gerichte ergibt sich die Pflicht des Handelns nach Treu und Glauben bereits aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben beziehungsweise Art. 9 BV und ist von Amtes wegen anzuwenden, wobei keine besondere Einrede erhoben werden muss[38]. Art. 29 Abs. 1 BV verbietet überspitzten Formalismus als besondere Form der Rechtsverweigerung. Eine solche liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und den rechtssuchenden Personen den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt. Wohl sind im Rechtsgang prozessuale Formen unerlässlich, um die ordnungsgemässe und rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten. Nicht jede prozessuale Formstrenge steht demnach mit Art. 29 Abs. 1 BV im Widerspruch. Überspitzter Formalismus ist nur gegeben, wenn die strikte Anwendung der Formvorschriften durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder verhindert[39].

5.3.

An der Verhandlung vor Vorinstanz wurden die beiden Geschäftsführer der Berufungsbeklagten sowie der Verwaltungsrat der Berufungsklägerin im Rahmen einer Parteibefragung einvernommen. Beide Parteien wurden an der Verhandlung zudem von einer Anwältin beziehungsweise einem Anwalt vertreten. Der Vorsitzende wies zu Beginn der Verhandlung nicht darauf hin, dass die Verhandlung auf Tonband aufgenommen werde. Nach Abschluss der Beweisaussagen wurde das von der Gerichtsschreiberin geführte Protokoll den Parteien weder vorgelesen noch von ihnen unterzeichnet. Im Protokoll ist kein Entscheid des Gerichts über den Verzicht auf die Unterzeichnung durch die einvernommenen Parteien vermerkt. Unmittelbar nach den Beweisaussagen wurden die Parteivorträge abgenommen.

Am Tag nach der Verhandlung teilte der vorsitzende Bezirksrichter den Parteien schriftlich mit, dass das Gericht am Vortag die Unzuständigkeitseinrede der Berufungsklägerin und auch deren Antrag auf Ausfällung eines anfechtbaren Zwischenentscheids verworfen habe. Mit Eingabe vom gleichen Datum machte die Berufungsklägerin geltend, dass die Parteibefragungen nicht verwertbar seien, da das Gericht weder einen Verzichtsentscheid gefällt habe noch die Protokolle durch die befragten Personen unterzeichnet worden seien. In der Folge führte die Vorinstanz gegenüber der Berufungsbeklagten aus, es treffe zu, dass der Vorsitzende die Parteien an der Verhandlung nicht darauf aufmerksam gemacht habe, dass die Aussagen aufgezeichnet würden, und sie setzte der Berufungsbeklagten Frist zur Stellungnahme an. Die Parteien liessen sich daraufhin zur Frage der Protokollierung vernehmen.

Schliesslich fällte die Vorinstanz den angefochtenen Zwischenentscheid betreffend ihre örtliche Zuständigkeit, den sie tags darauf versandte. Einen Tag nach Versand des Zwischenentscheids stellte die Vorinstanz den Parteien das Protokoll der Verhandlung zu.

5.4.

5.4.1.

Bei den von der Vorinstanz einvernommenen Personen handelte es sich nicht um Zeugen, die in der Regel ohne Rechtsbeistand zur Befragung erscheinen und mit den Gepflogenheiten vor Gericht meist nicht vertraut sind. Vielmehr begleiteten ein Rechtsanwalt beziehungsweise eine -anwältin die einvernommenen Personen anlässlich der Verhandlung. Die Berufungsklägerin stellte zu Recht nicht in Abrede, dass sie – wie der angefochtene Entscheid festhielt – durch einen Rechtsanwalt vertreten sei, der seit mehreren Jahren im Kanton Thurgau tätig ist, sodass er mit den Protokollierungsvorschriften bei Beweisaussagen sowie der Thurgauer Protokollierungspraxis von Gerichten vertraut ist. Insofern ist in Übereinstimmung mit der Vorinstanz auch davon auszugehen, dass der Rechtsvertreter der Berufungsklägerin davon ausging beziehungsweise ausgehen musste, dass die Verhandlung mit technischen Hilfsmitteln aufgezeichnet und auf eine Unterzeichnung verzichtet wird, obwohl der entsprechende Hinweis zu Beginn der Verhandlung durch die Vorinstanz vergessen ging.

Nach Abschluss der Beweisaussagen wurde das Protokoll nicht verlesen beziehungsweise den Parteien nicht zum Lesen vorgelegt, und die Parteien wurden auch nicht zur Unterzeichnung aufgefordert, sondern das Gericht ging (nach einer Pause) direkt zu den Parteivorträgen über. Spätestens dann brachte das Gericht seinen Willen nach Art. 176 Abs. 3 ZPO vorzugehen durch sein Verhalten unverkennbar zum Ausdruck. Ein Vorgehen nach Abs. 3 entspricht der üblichen Praxis im Kanton Thurgau. Unter den gegebenen Umständen ist nicht von einem stillschweigenden Verzichtsentscheid auszugehen, sondern von einem konkludenten Entscheid der Vorinstanz. Der Entscheid der Vorinstanz, nach Art. 176 Abs. 3 ZPO vorzugehen, war für die Parteien aufgrund der Handlungsweise des Gerichts anlässlich der Verhandlung offenkundig.

Hätten der Rechtsanwalt oder die Rechtsanwältin hingegen das Vorgehen der Vorinstanz tatsächlich nicht als eine Protokollierung nach Art. 176 Abs. 3 ZPO verstanden, hätte er oder sie spätestens bei der Fortsetzung der Verhandlung mit den Parteivorträgen nach Treu und Glauben reagieren müssen. Die Parteien stellten aber unbestrittenermassen keine Rückfragen zum Vorgehen und erhoben auch keine Einsprachen gegen den Unterschriftsverzicht. Unter diesen Umständen sind die Parteien auf ihr (korrektes) Verständnis der konkludenten Entscheidung des Gerichts, auf eine Unterschrift nach Abs. 3 zu verzichten, zu behaften.

5.4.2.

Die Vorinstanz hielt zudem zwei Tage später schriftlich fest, dass die Beweisaussagen aufgezeichnet worden seien – und sich das Gericht somit für eine Protokollierung nach Art. 176 Abs. 3 ZPO entschieden gehabt habe. Mit diesem Schreiben liegt der Verzichtsentscheid schliesslich auch schriftlich vor. Nachdem nach einem Teil der Lehre die Unterzeichnung des Protokolls durch die einvernommene Person nachträglich geschehen kann – was ohne Weiteres zweckmässig und überzeugend ist –, muss auch der Entscheid betreffend den Verzicht auf die Unterzeichnung des Protokolls erst nachträglich schriftlich festgehalten werden oder ergehen können.

5.4.3.

Ein Teil der Lehre weist im Übrigen zu Recht darauf hin, dass der Entscheid über die Art der Protokollierung – insbesondere bei einer unbegründeten Weigerung der einvernommenen Person zur Unterzeichnung der protokollierten Aussagen – in Wiedererwägung gezogen werden kann. Diese Auffassung vertritt selbst Guyan, der die Verzichtserklärung beziehungsweise Unterschrift als Gültigkeitserfordernis versteht[40]. Selbst wenn also davon auszugehen wäre, mangels schriftlichen beziehungsweise anlässlich der Verhandlung protokollierten Entscheids des Gerichts wäre eine Unterschrift zur Gültigkeit des Protokolls erforderlich gewesen, ändert dies nichts am Ergebnis. Dies deshalb, weil sich aus der Eingabe der Berufungsklägerin am Tag nach der Verhandlung ergab, dass sie das Protokoll nicht gegen sich gelten lassen wollte. Dass indes die Aussagen der befragten Parteivertreter nicht korrekt protokolliert worden seien, machte sie nicht geltend. Das Gericht durfte unter diesen Umständen ohne Weiteres davon ausgehen, der Vertreter der Berufungs­klägerin werde die (zulässige nachträgliche) Unterzeichnung seiner protokollierten Einvernahme in Verletzung seiner Mitwirkungspflicht verweigern. Da die Aussagen auf Tonband aufgezeichnet worden waren, hätte es der Vorinstanz in dieser Situation zugestanden, ihren Entscheid über die Protokollierungsart nachträglich in Wiedererwägung zu ziehen und das Protokoll statt nach Art. 176 Abs. 1 ZPO nach Abs. 3 zu verfassen. Auch ein solcher Verzichtsentscheid der Vorinstanz käme in ihrem Schreiben genügend deutlich zum Ausdruck. Selbst bei Annahme einer Gültigkeitsvorschrift läge daher ein schriftlicher Verzicht – und damit ein gültig erstelltes Protokoll – vor.

5.4.4.

Selbst wenn dieser Auffassung nicht gefolgt würde, mithin ein sofortiger, ausdrücklicher Verzichtsentscheid anlässlich der Einvernahme unabdingbar erschiene, ist darauf hinzuweisen, dass ein Teil der Lehre davon ausgeht, dass ein Protokoll über Zeugen- beziehungsweise Parteiaussagen auch ohne Unterschrift der einvernommenen Person gültig ist. Ob Protokolle ohne Unterschrift auch als gültig erachtet werden können, wenn keine Aufzeichnung der Aussagen mit einem technischen Hilfsmittel erfolgte, muss hier nicht beantwortet werden. Wenn aber die Aussagen durch das Gericht aufgezeichnet und diese Aufzeichnungen zudem zu den Akten genommen wurden, ist die korrekte Protokollierung der Aussagen gewährleistet. Welchem Zweck eine zusätzliche Unterschrift der einvernommenen Person im Zivilverfahren darüber hinaus noch dienen könnte, ist nicht ersichtlich. Für die Frage der Beweiskraft des Protokolls wäre jedenfalls nichts gewonnen, gewährleistet doch die Aufnahme bereits die korrekte Wiedergabe der getätigten Aussagen – und der Hinweis auf die Folgen einer Falschaussage die wahrheitsgemässe Aussage. Eine zusätzliche Unterzeichnung durch die einvernommene Person zu verlangen, käme damit überspitztem Formalismus gleich. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, es handle sich bei der Unterschrift um eine Gültigkeitsvorschrift, wenn die Aussage mit technischen Hilfsmitteln aufgezeichnet und die Aufnahme zu den Akten genommen wurde. Es erschiene stossend, wenn eine fehlende Unterschrift unter diesen Umständen die Entstehung des Beweismittels verhindern könnte.

Daran ändert auch nichts, dass ein Teil der Lehre einen Hinweis durch das Gericht auf die Aufnahme verlangt. Dabei geht es – anders als etwa beim Hinweis auf die Straffolgen einer falschen Aussage – nicht um die Sicherstellung einer wahrheitsgemässen Aussage, sondern lediglich darum, die Parteien auf die ihre Persönlichkeitsrechte berührende Aufnahme sowie die Art der Protokollierung aufmerksam zu machen. Dieser Zweck spricht ebenfalls gegen eine Gültigkeitsvorschrift.

Zu Recht wies die Vorinstanz zudem auf den Wortlaut von Art. 176 ZPO sowie auf die vorgesehene Gesetzesrevision hin. Wie sich der Botschaft entnehmen lässt, soll mit Art. 176 E-ZPO (neu) lediglich ausdrücklich festgehalten werden, dass bei einer Aufnahme auf die laufende Protokollierung in der Verhandlung verzichtet werden darf. Im Übrigen soll das nach Art. 176 Abs. 3 ZPO geltende Recht unverändert in Art. 176 E-ZPO übernommen werden[41]. Das Gesetz hält ausdrücklich fest: "Das Gericht oder das einvernehmende Gerichtsmitglied kann darauf verzichten, der Zeugin oder dem Zeugen das Protokoll vorzulesen oder zum Lesen vorzulegen und unterzeichnen zu lassen". Hinweise darauf, dass dieser "Verzicht" in einem formellen schriftlichen Entscheid zu ergehen hätte, finden sich weder im Gesetzestext noch in den Materialien. Einen förmlichen prozessleitenden Entscheid vom Gericht oder Gerichtsmitglied zu verlangen, widerspräche zudem dem erklärten Ziel des Gesetzgebers, mit der Einführung von Art. 176 Abs. 3 ZPO beziehungsweise Art. 176a E-ZPO die Effizienz des Verfahrens zu steigern beziehungsweise eine Erleichterung und Verein­fachung für die Gerichte zu erreichen[42].

Kommt hinzu, dass ein durch ein Mitglied des Gerichts oder eine Gerichtsschreiberin beziehungsweise einen Gerichtsschreiber unterzeichnetes Protokoll eine öffentliche Urkunde darstellt, die öffentlichen Glauben geniesst[43]. Auch aus diesem Grund erscheint die (zusätzliche) Unterschrift der befragten Person entbehrlich.

Zusammengefasst ist es bei Vorliegen einer Aufnahme der Aussage mit einem technischen Hilfsmittel, die zu den Akten genommen wurde, nicht angemessen, dass eine fehlende Unterschrift der befragten Person die Entstehung des Beweismittels verhindern könnte, wenn das Gericht den Hinweis auf die Aufnahme vergass. Das Protokoll ist unter diesen Umständen auch ohne Unterschrift der befragten Personen gültig und kann als Beweismittel ohne Einschränkung verwendet werden.

5.4.5.

Unabhängig davon fällt eine Nicht-Beachtung der protokollierten Aussagen aus einem weiteren Grund ausser Betracht. Die Aufzeichnung der Parteibefragung liegt im Recht. Damit ist sichergestellt, dass das Protokoll der Vorinstanz die Aussagen der befragten Personen authentisch und zuverlässig wiedergibt. Dies hat selbst die Berufungsklägerin nie in Abrede gestellt. Keine Partei hat betreffend das Protokoll ein Berichtigungsbegehren gestellt oder geltend gemacht, die Aussagen seien verfälscht oder unvollständig protokolliert worden. Insofern steht die Richtigkeit des Protokolls nicht infrage. Mit dem von der Gerichtsschreiberin in Ausübung ihres Amts abgefassten und unterzeichneten Protokoll der Verhandlung liegt überdies eine öffentliche Urkunde vor, die öffentlichen Glauben geniesst[44]. Eine Wiederholung der Beweisaussagen der Parteien durch die Vorinstanz würde allein der Einhaltung der formalen Strenge dienen und erschiene als Leerlauf. Gleichzeitig würde sie – ohne ersichtlichen Vorteil für eine Partei – einen erheblichen Aufwand für Gericht und Parteien bedeuten. Eine sachliche Rechtfertigung dieser Strenge ist vorliegend nicht ersichtlich, weshalb von überspitztem Formalismus auszugehen wäre. Ein neuer Zwischenentscheid betreffend örtliche Zuständigkeit ohne Berücksichtigung der Beweisaussagen, mithin unter antizipierter Beweiswürdigung, ist zudem nicht gangbar. Folglich haben die Beweisaussagen auch deshalb als verwertbar zu gelten.

5.4.6.

Fraglich erscheint schliesslich, ob die Berufung der Berufungsklägerin auf die Ungültigkeit der Parteibefragungen nicht ohnehin gegen Treu und Glauben verstösst, wie dies die Berufungsbeklagte geltend machte. Dies einerseits deshalb, weil sie selbst nicht geltend machte, dass bei einem Hinweis auf die Aufnahme beziehungsweise einer Eröffnung des Verzichtsentscheids in der Verhandlung die Aussagen der Parteien anders ausgefallen wären. Ebensowenig behauptete sie, dass das Ergebnis einer Wiederholung der Parteibefragungen mit entsprechendem Hinweis anders aus­fallen würde. Welche Nachteile ihr aus dem angeblich verfahrensrechtswidrigen Verhalten der Vorinstanz entstanden sein sollen, ist weder dargetan noch ersichtlich. Andererseits erscheint das Verhalten des Rechtsvertreters der Berufungsklägerin mindestens stossend. Anlässlich der Verhandlung ging er wohl von einer praxisgemässen Protokollierung nach Art. 176 Abs. 3 ZPO aus, andernfalls zu erwarten gewesen wäre, dass er spätestens nach der Fortsetzung der Verhandlung mit den Parteivorträgen interveniert hätte. Dem Rechtsvertreter der Berufungsklägerin war damit auch ohne ausdrücklichen Verzichtsentscheid der Vorinstanz klar, auf welche Art sie die Verhandlung protokollieren würde. Nachteile oder Unsicherheiten aufgrund des fehlenden Hinweises der Vorinstanz, die sich zum Nachteil der Berufungsklägerin hätten auswirken können, sind deshalb ebenfalls nicht ersichtlich. Es erscheint widersprüchlich, trotz fehlenden Nachteils eine Nicht-Beachtung der Befragung zu verlangen. Da das Protokoll indes ohnehin gültig erstellt wurde, kann diese Frage offengelassen werden.

5.5.

Zusammenfassend sind die drei Beweisaussagen gültig protokolliert worden und zu berücksichtigen.

[…]

Obergericht, 2. Abteilung, 23. Mai 2024, ZBR.2023.7


[1]    Guyan, Basler Kommentar, 3.A., Art. 152 ZPO N. 16 mit weiteren Hinweisen

[2]    Art. 191 ZPO

[3]    Art. 192 ZPO

[4]    Art. 193 ZPO

[5]    Art. 176 Abs. 1 Satz 1 ZPO

[6]    Art. 176 Abs. 2 ZPO

[7]    Gasser/Rickli, Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar, 2.A., Art. 176 N. 3; Rüetschi, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 176 ZPO N. 12

[8]    Müller, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Brunner/Gasser/Schwander), 2.A., Art. 176 N. 17; Schmid/Baumgartner, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar (Hrsg.: Oberhammer/Domej/Haas), 3.A., Art. 176 N. 4

[9]    Müller, Art. 176 ZPO N. 19; Borla-Geier, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Kommentar (Hrsg.: Gehri/Jent-Sørensen/Sarbach), 2.A., Art. 176 N. 2

[10]  Guyan, Art. 176 ZPO N. 10; Schmid/Baumgartner, Art. 177 ZPO N. 4; vgl. auch Müller, Art. 176 ZPO N. 19

[11]  Guyan, Art. 176 ZPO N. 10; Müller, Art. 176 ZPO N. 19; Reinert: in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Baker & McKenzie), Bern 2010, Art. 176 N. 2; Weibel/Walz, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger), 3.A., Art. 176 N. 11

[12]  Bühler, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 193 ZPO N. 5; Gasser/Rickli, Art. 176 ZPO N. 3; Rüetschi, Art. 176 ZPO N. 12

[13]  Borla-Geier, Art. 176 ZPO N. 2

[14]  Urteil des Bundesgerichts 4A_498/2014 vom 3. Februar 2015 E. 3.3

[15]  Gemäss Art. 176 Abs. 2 ZPO: Tonband, Video oder andere geeignete technische Hilfsmittel

[16]  Parlamentarische Initiative, Strafprozessordnung, Protokollierungsvorschriften, Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 16. April 2012 (im Folgenden: Bericht), BBl 2012 S. 5713 unten

[17]  Bericht, S. 5712 oben

[18]  Schmid/Baumgartner, Art. 176 ZPO N. 7

[19]  Schmid/Baumgartner, Art. 176 ZPO N. 8

[20]  Guyan, Art. 176 ZPO N. 12

[21]  Guyan, Art. 176 ZPO N. 12

[22]  Müller, Art. 176 ZPO N. 26; Weibel/Walz, Art. 176 ZPO N. 11a

[23]  Gasser/Rickli, Art. 176 ZPO N. 4; Schmid/Baumgartner, Art. 176 ZPO N. 8; Sutter-Somm/Seiler, Art. 176 ZPO N. 6

[24]  Borla-Geier, Art. 176 ZPO N. 6a; Reinert, Art. 176 ZPO N. 5; Weibel/Walz, Art. 176 ZPO N. 9

[25]  Borla-Geier, Art. 176 ZPO N. 2; ähnlich auch Dolge, Neue Möglichkeiten im Haupt- und Beweisverfahren, in: Die neue ZPO, Erfahrungen - Unstimmigkeiten - Schwachstellen - Lösungen (Hrsg.: Dolge), Zürich 2012, S. 38

[26]  Gasser/Rickli, Art. 176 ZPO N. 3; Rüetschi, Art. 176 ZPO N. 12

[27]  Rüetschi, Art. 176 ZPO N. 12

[28]  Bericht, S. 5714 Ziff. 2.2.2

[29]  Vgl. https://www.bj.admin.ch/bj/de/home/staat/gesetzgebung/aenderung-zpo.html

[30]  Schweizerische Zivilprozessordnung (Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung), Entwurf vom 26. Februar 2020, BBl 2020 S. 2789

[31]  Art. 176a lit. a E-ZPO

[32]  Botschaft zur Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung (Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung) vom 26. Februar 2020, BBl 2020 S. 2751

[33]  Bericht, S. 5715; Schmid/Baumgartner, Art. 176 ZPO N. 7; Müller, Art. 176 ZPO N. 34

[34]  Art. 52 ZPO; Art. 2 Abs. 1 ZGB; Art. 5 Abs. 3 BV

[35]  Urteil des Bundesgerichts 4A_160/2013 vom 21. August 2013 E. 3.4 mit weiteren Hinweisen

[36]  Rechtsmissbrauchsverbot, vgl. Gehri, Basler Kommentar, 3.A., Art. 52 ZPO N. 2 f.

[37]  BGE 138 III 123 E. 2.4.2

[38]  RBOG 2023 Nr. 21 E. 2.5; Gehri, Art. 52 ZPO N. 2

[39]  BGE 142 I 10 E. 2.4.2; 142 IV 299 E. 1.3.2; Urteil des Bundesgerichts 5A_395/2020 vom 16. März 2021 E. 5.1

[40] Guyan, Art. 176 ZPO N. 12

[41]  Botschaft, S. 2751

[42]  Bericht, S. 5714 f.; Botschaft, S. 2751

[43]  Urteil des Bundesgerichts 5A_639/2014 vom 8. September 2015 E. 3.2.1

[44]  Urteil des Bundesgerichts 5A_639/2014 vom 8. September 2015 E. 3.2.1


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