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RBOG 2024 Nr. 22

Offensichtliche Unangemessenheit eines freiwilligen Unterhaltsverzichts in der Scheidungsvereinbarung bei deutlichem Manko des anspruchsberechtigen Ehegatten und fehlender Gegenleistung für den Verzicht

Art. 279 Abs. 1 ZPOArt. 111 Abs. 2 ZGB Art. 288 Abs. 1 ZPO


Zusammenfassung des Sachverhalts:

Die Berufungsklägerin ficht den Entscheid der Einzelrichterin des Bezirksgerichts betreffend die Scheidung ihrer Ehe gestützt auf ein gemeinsames Begehren an. Sie beantragt die Aufhebung ihres Verzichts auf einen Unterhaltsbeitrag gemäss der Scheidungsvereinbarung wegen Willensmängel und offensichtlicher Unangemessenheit.

Aus den Erwägungen:

[…]

2.2.

Das Gericht spricht gemäss Art. 288 Abs. 1 ZPO die Scheidung aus und genehmigt die Vereinbarung, wenn die Voraussetzungen für eine Scheidung auf gemeinsames Begehren erfüllt sind. Die Eingabe muss deshalb nach Art. 285 ZPO vollständig sein und die Parteien müssen anlässlich der Anhörung den Scheidungswillen bestätigen. Das Gericht muss sich zudem davon überzeugt haben, dass das Scheidungsbegehren und die Vereinbarung auf freiem Willen und reiflicher Überlegung beruhen[1] und die Vereinbarung gemäss Art. 279 Abs. 1 ZPO klar, vollständig und nicht offensichtlich unangemessen ist[2].

Das Kriterium der fehlenden offensichtlichen Unangemessenheit erfordert eine Inhaltskontrolle der Scheidungsvereinbarung. Allgemein ist der Scheidungsvereinbarung die Genehmigung zu versagen, wenn sie einen gesetzes- oder sittenwidrigen Inhalt aufweist. Ersteres ist der Fall, wenn die Konvention gegen zwingende Vorschriften des Privatrechts oder des öffentlichen Rechts verstösst. Unsittlich ist sie dann, wenn ein Ehegatte trotz Leistungsfähigkeit des anderen Ehegatten gänzlich auf einen nachehelichen Unterhaltsbeitrag verzichtet mit der Folge, dass die verzichtende Partei auf Sozialhilfe oder Verwandtenunterstützung angewiesen ist[3].

Über die (Un-)Angemessenheit der Vereinbarung entscheidet das Gericht aufgrund eines Vergleichs der in dieser getroffenen Regelung mit dem Entscheid, den es träfe, wenn keine Vereinbarung vorläge. Die Vereinbarung ist offensichtlich unangemessen, wenn sie in sofort erkennbarer und eklatanter Art und Weise von der gesetzlichen Regelung abweicht und sich diese Abweichung aus Billigkeitsüberlegungen nicht rechtfertigen lässt[4]. Auf diese Weise soll die Übervorteilung eines Ehegatten verhindert werden. Beim Entscheid über die Genehmigung kommt dem Gericht ein weiter Ermessensspielraum zu[5].

Ob der Verzicht auf Unterhaltszahlungen offensichtlich unangemessen ist, ist aufgrund der Einkommens-, Bedarfs- und Vermögensverhältnisse beider Parteien sowie der weiteren Umstände, insbesondere aufgrund der Tragweite des Verzichts auf in der Zukunft zustehende Rechte, zu prüfen[6]. Für den nachehelichen Unterhalt sind hierfür zunächst die Ausführungen der Parteien in ihren Rechtsschriften und anlässlich der Anhörung massgebend[7]. Für die richterliche Prüfung, ob die Scheidungsvereinbarung nach Massgabe von Art. 279 Abs. 1 ZPO genehmigt werden kann, kommt es auf den Zeitpunkt der Genehmigung an[8].

2.3.

Die Vorinstanz erwog zusammengefasst, es habe die Frage der offensichtlichen Unangemessenheit anhand eines Vergleichs der von den Parteien getroffenen Regelung mit dem Entscheid, den es treffen würde, wenn keine Vereinbarung zustande gekommen wäre, geprüft. Aufgrund der eingereichten Unterlagen, namentlich der periodischen Schulden, könne der Berufungsbeklagte seinen Bedarf nach gerichtlicher Berechnung gerade so decken. Er bezahle den mit Eheschutzentscheid festgelegten Ehegattenunterhalt von monatlich Fr. 700.00 nicht. Hinzu komme, dass er in einer Wohnung zusammen mit seinem volljährigen Sohn, welcher IV-Leistungen sowie einen Lehrlingslohn beziehe, wohne. Dem Sohn sei es aufgrund seiner Umstände offenbar nicht möglich, sich in grossem Umfang an den Wohnkosten zu beteiligen. Der Berufungsbeklagte könne seinen eigenen Bedarf decken, jedoch bleibe ihm ein geringer Überschuss. Weiter stellte die Vorinstanz fest, die Berufungsklägerin habe aufgrund ihres Aufenthalts im Wohnheim ein Manko in beachtlicher Höhe. Der geringe Überschuss des Berufungsbeklagten reiche zur Deckung ihres Mankos nicht aus. Eine offensichtliche Unangemessenheit des Verzichts auf nacheheliche Unterhaltszahlungen könne vor dem Hintergrund, dass der Berufungsbeklagte im Entscheidzeitpunkt aufgrund seiner momentanen Einkommens- und Bedarfssituation nicht zu nachehelichen Unterhaltszahlungen fähig wäre, verneint werden.

[…]

2.5.

2.5.1.

Einleitend ist festzuhalten, dass die Vorinstanz den Anspruch der Berufungsklägerin auf nachehelichen Unterhalt (bei hinreichender Leistungsfähigkeit des Berufungsbeklagten) im Grundsatz richtigerweise bejahte. Die (implizite) Annahme einer lebensprägenden Ehe erscheint aufgrund der konkreten Umstände (Ehedauer von beinahe 20 Jahren, gemeinsames Kind, Alter, gesundheitliche Beeinträchtigung und Erwerbsaussichten der Berufungsklägerin) als zutreffend. Insbesondere die Faktoren der Gesundheit der Ehegatten sowie die Erwerbsaussichten spielen im vorliegenden Fall eine zentralere Rolle bei der Beurteilung des nachehelichen Unterhalts als beispielsweise die Aufgabenteilung oder Lebensstellung während der Ehe.

2.5.2.

Im Zusammenhang mit der Ermittlung des Bedarfs der Berufungsklägerin und der Leistungsfähigkeit des Berufungsbeklagten ist festzuhalten, dass sich weder aus dem Protokoll der Einigungsverhandlung noch aus dem angefochtenen Entscheid hinreichend ergibt, auf welche konkreten Zahlen sich die Vorinstanz bei ihrem Entscheid stützt. Dem Protokoll ist zu entnehmen, dass das Gericht von einem durchschnittlichen Einkommen des Berufungsbeklagten für das Jahr 2023 von monatlich Fr. 4'257.00 (bei 40%) ausging. Der Berufungsbeklagte wurde anlässlich der Einigungsverhandlung zwar zu einem möglichen Stellenwechsel und Bewerbungen befragt, der angefochtene Entscheid äussert sich jedoch nicht zur Frage eines allfälligen hypothetischen Einkommens. Dies wäre zur Beurteilung einer offensichtlichen Unangemessenheit jedoch erforderlich gewesen. Ebenfalls wäre die vorinstanzliche Bedarfsberechnung – soweit ersichtlich und wie die Berufungsklägerin zu Recht geltend macht – teilweise zu korrigieren gewesen: Abzahlungsschulden sind nicht Teil des betreibungsrechtlichen Notbedarfs. Sodann wäre von den angemessenen, an den Betreibungsrichtlinien orientierten Wohnkosten (und nicht von den tatsächlichen Wohnkosten von damals Fr. 1'990.00) auszugehen und davon ein Anteil für den gemeinsamen Sohn (ein Drittel) in Abzug zu bringen.

Von welchen Bemessungsgrundlagen (Einkommen, Bedarf und Vermögen) die Vorinstanz ausging und ausgehen durfte, kann hier jedoch offenbleiben. Nicht ernsthaft bestritten werden kann die Tatsache, dass im Bedarf der Berufungsklägerin ein deutliches Manko ausgewiesen wird, solange sie lediglich eine IV-Rente bezieht und im Wohnheim wohnt. Aufgrund der konkreten Situation erscheint ein Unterhaltsverzicht wie in der Scheidungsvereinbarung enthalten so oder anders als offensichtlich unangemessen:

2.5.3.

Wäre die Vorinstanz zum Schluss gelangt, dass die Leistungsfähigkeit des Berufungsbeklagten bejaht werden muss, hätte sie der Berufungsklägerin entsprechend Art. 125 ZGB aufgrund ihres Mankos einen nachehelichen Unterhaltsbeitrag zugesprochen. In welcher Höhe ist vorderhand unerheblich, denn angesichts der prekären finanziellen Situation der Berufungsklägerin (sehr geringes Einkommen aufgrund nur einer IV-Rente und sehr hohe Ausgaben aufgrund ihres Aufenthalts im Wohnheim) würde die Vereinbarung eines freiwilligen Unterhaltsverzichts – und damit eine entsprechende Aufrechnung in Bezug auf Ergänzungsleistungen[9] und allenfalls Sozialhilfe[10] – nur schon bei einem Anspruch auf wenige hundert Franken Unterhalt pro Monat wesentlich von der gesetzlichen Regelung abweichen und die Berufungsklägerin in eine schwierige finanzielle Situation bringen und sie noch abhängiger von Sozialleistungen machen. In einer Gesamtbetrachtung der mit Konvention vereinbarten Scheidungsfolgen kommt der Berufungsbeklagte der Berufungsklägerin sodann in keiner Weise – im Sinn einer Gegenleistung für ihren Verzicht – entgegen (keine überhälftige Teilung des Pensionskassenguthabens, keine güterrechtliche Ausgleichszahlung oder Ähnliches). Eine Abweichung von der gesetzlichen Regelung erscheint deshalb auch aus Billigkeitsüberlegungen nicht zumutbar.

Sodann macht es für die Berufungsklägerin auch bei fehlender Leistungsfähigkeit des Berufungsbeklagten einen wesentlichen Unterschied im Hinblick auf die zur Diskussion stehenden Sozialleistungen (Ergänzungs- und Sozialhilfeleistungen) und eine allenfalls drohende Aufrechnung, ob ihr das Gericht (allenfalls auf übereinstimmenden Antrag der Parteien) mangels Leistungsfähigkeit des Berufungsbeklagten keinen nachehelichen Unterhalt zuspricht oder den freiwilligen Unterhaltsverzicht von ihr genehmigt. Die gewählte Formulierung eines "Verzichts" erscheint unter den konkreten Umständen und in Anbetracht der zur Diskussion stehenden Ergänzungsleistungen als heikel[11]. Auch in dieser Konstellation ist deshalb eine sofort erkennbare und wesentliche Abweichung von der gesetzlichen Regelung zu bejahen. Diese lässt sich aus Billigkeitsgründen auch nicht rechtfertigen.

2.6.

Im Ergebnis ist der gegenseitige Verzicht auf nachehelichen Unterhalt wie in der Scheidungsvereinbarung enthalten aufgrund der konkreten Umstände als offensichtlich unangemessen zu qualifizieren. Der Unterhaltsverzicht erscheint sowohl bei vorhandener als auch bei fehlender Leistungsfähigkeit des Berufungsbeklagten für die Berufungsklägerin nicht hinnehmbar. Die Scheidungsvereinbarung hätte in dieser Form nicht genehmigt werden dürfen.

[…]

Obergericht, 2. Abteilung, 29. August 2024, ZBR.2024.2


[1]    Art. 111 Abs. 2 ZGB

[2]    Fankhauser/Bleichenbacher, in: FamKommentar Scheidung (Hrsg.: Fankhauser), 4.A., Art. 288 ZPO N. 4; Bähler, Basler Kommentar, 3.A., Art. 288 ZPO N. 1; Sutter-Somm/Seiler, in: Handkommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Seiler), Zürich/Basel/Genf 2021, Art. 288 N. 2

[3]    ZR 2018 Nr. 16; Stein, in: FamKommentar Scheidung (Hrsg.: Fankhauser), 4.A., Art. 279 ZPO N. 20 und 23; Bähler, Art. 279 ZPO N. 3b; Sutter-Somm/Gut, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger), 3.A., Art. 279 N. 16; Stalder/van de Graaf, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar (Hrsg.: Oberhammer/Domej/Haas), 3.A., Art. 279 N. 10

[4]    Urteile des Bundesgerichts 5A_1031/2019 vom 26. Juni 2020 E. 3.2 mit weiteren Hinweisen; 5A_980/2018 vom 5. Juni 2019 E. 4.1; Stein, Art. 279 ZPO N. 23 ff.; Spycher, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 279 ZPO N. 30 f.; Sutter-Somm/Gut, Art. 279 ZPO N. 17; Stalder/van de Graaf, Art. 279 ZPO N. 11

[5]    Urteil des Bundesgerichts 5A_980/2018 vom 5. Juni 2019 E. 4.1 mit weiteren Hinweisen; Stein, Art. 279 ZPO N. 24

[6]    Vgl. Art. 125 ZGB; Spycher, Art. 279 ZPO N. 30

[7]    Verhandlungsgrundsatz, Art. 277 Abs. 1 ZPO

[8]    BGE 145 III 474 E. 5.6

[9]    Art. 11a Abs. 2 ELG (Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung, SR 831.30)

[10]  Vgl. § 2a Abs. 1 SHV (Sozialhilfeverordnung, RB 850.11) und Erläuterungen zu SKOS-Richtlinien Ziff. D.4.1. (Version vom 1. Januar 2024)

[11]  Vgl. Bähler, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Brunner/Gasser/Schwander), 2.A., Art. 285 Fn. 15: "Sind die Voraussetzungen für nachehelichen Unterhalt nicht erfüllt und stehen Ergänzungsleistungen zur Diskussion, sollte nicht von 'Verzicht' gesprochen werden, da diesfalls eine Aufrechnung gemäss ELG droht."


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