RBOG 2024 Nr. 28
Zuständigkeit des Oberstaatsanwalts zur Bestellung und zum Widerruf der amtlichen Verteidigung
Art. 61 lit. a StPO Art. 133 Abs. 1 StPO Art. 133 Abs. 1bis StPO Art. 134 Abs. 2 StPO § 32 Abs. 1 ZSRG § 1 Abs. 2 OVSTA
Zusammenfassung des Sachverhalts:
Die Staatsanwaltschaft führt ein Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer, wobei sie Rechtsanwalt A. zum amtlichen Verteidiger ernannte. Später verlangte der Beschwerdeführer die Übertragung der amtlichen Verteidigung auf Rechtsanwalt B. Dies lehnte der Oberstaatsanwalt ab.
Aus den Erwägungen:
1.
1.1.
1.1.1.
Der Beschwerdeführer macht unter dem Titel "formelle Rechtswidrigkeit" der angefochtenen Verfügung geltend, mangels Verfahrensleitung, die bei der verfahrensführenden Staatsanwältin liege, sei der Oberstaatsanwalt nicht legitimiert, über die Bestellung und/oder den Wechsel der amtlichen Verteidigung zu entscheiden, zumal der Kanton Thurgau von der Möglichkeit gemäss Art. 133 Abs. 1bis StPO keinen Gebrauch gemacht habe. Weder das ZSRG[1] noch die Verordnung des Regierungsrats über die Organisation der Staatsanwaltschaft (OVSTA)[2] enthielten eine Norm, die eine Delegation der Bestellung der amtlichen Verteidigung von der Verfahrensleitung an andere ermögliche. Beide genannten Bestimmungen übertrügen dem Oberstaatsanwalt ausschliesslich die generelle Leitung der Staatsanwaltschaft im Sinn einer Behördenleitung als Ganzes; eine punktuelle Verfahrensleitung in dem Sinn, einzelne Verfahrenshandlungen anstelle der Verfahrensleitung vorzunehmen, erlaubten sie dagegen nicht. Damit sei die angefochtene Verfügung, wenn sie denn nicht gar nichtig sei, als formell rechtswidrig aufzuheben.
[…]
1.2.
1.2.1.
Die amtliche Verteidigung wird von der im jeweiligen Verfahrensstadium zuständigen Verfahrensleitung bestellt[3]. Das Verfahren leitet bis zur Einstellung oder Anklageerhebung die Staatsanwaltschaft[4].
Fällt der Grund für die amtliche Verteidigung dahin, so widerruft die Verfahrensleitung das Mandat[5]. Ist das Vertrauensverhältnis zwischen der beschuldigten Person und ihrer amtlichen Verteidigung erheblich gestört oder eine wirksame Verteidigung aus andern Gründen nicht mehr gewährleistet, so überträgt die Verfahrensleitung die amtliche Verteidigung einer anderen Person[6].
Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts stehen die Bestellung und der Widerruf der amtlichen Verteidigung miteinander in einem derart engen Zusammenhang, dass sie sinnvollerweise in Beachtung des Grundsatzes der Parallelität der Formen von derselben Behörde gefällt werden müssen[7].
1.2.2.
Bund und Kantone bestimmen ihre Strafbehörden und deren Bezeichnungen. Sie regeln die Wahl, die Zusammensetzung, die Organisation und die Befugnisse der Strafbehörden, soweit die StPO oder andere Bundesgesetze dies nicht abschliessend regeln. Sie können Ober- oder Generalstaatsanwaltschaften vorsehen. Weiter können sie mehrere gleichartige Strafbehörden einsetzen und bestimmen für diesen Fall den jeweiligen örtlichen und sachlichen Zuständigkeitsbereich[8].
Nach § 27 ZSRG erfolgt die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs durch die Generalstaatsanwaltschaft, die Staatsanwaltschaften und die Jugendanwaltschaft. Die Generalstaatsanwältin oder der Generalstaatsanwalt, die Oberstaatsanwältinnen oder Oberstaatsanwälte, die Staatsanwältinnen oder Staatsanwälte, die Jugendanwältinnen oder Jugendanwälte haben in ihrem Zuständigkeitsbereich alle gesetzlichen Rechte und Pflichten, einschliesslich zur Sistierung oder Einstellung von Verfahren. Sie erlassen die Strafbefehle auch in Übertretungsstrafsachen. Sie sind berechtigt, im ganzen Kanton Amtshandlungen vorzunehmen[9].
Die Generalstaatsanwaltschaft regelt die Vertretung, die Berechtigung zur Anklageerhebung und Anklagevertretung sowie die Zuständigkeit, Rechtsmittel einzureichen oder zurückzuziehen[10]. Die Generalstaatsanwältin oder der Generalstaatsanwalt ist gegenüber den Staatsanwaltschaften und der Jugendanwaltschaft weisungsberechtigt, regelt Kompetenzkonflikte unter den Staatsanwaltschaften abschliessend und kann Änderungen in der Zuständigkeitsregelung vornehmen[11].
Die Staatsanwaltschaft gliedert sich in die Abteilungen Generalstaatsanwaltschaft, Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsstraffälle und Organisierte Kriminalität, Staatsanwaltschaften Bischofszell, Frauenfeld sowie Kreuzlingen und Jugendanwaltschaft[12]. Die Staatsanwaltschaften werden je durch eine Oberstaatsanwältin oder einen Oberstaatsanwalt geführt[13].
1.3.
1.3.1.
Gemäss dem seit 1. Januar 2024 geltenden Art. 133 Abs. 1bis StPO können Bund und Kantone die Auswahl der amtlichen Verteidigung an eine andere Behörde oder an Dritte übertragen. Mit Art. 133 Abs. 1bis StPO sollten die in verschiedenen Kantonen bereits bestehenden Lösungen, die Auswahl der amtlichen Verteidigung an eine nicht unmittelbar mit der Sache befasste zentrale Stelle zu delegieren, bundesrechtskonform werden[14]. Wie der Beschwerdeführer zutreffend ausführt, hat der Kanton Thurgau gestützt auf Art. 133 Abs. 1bis StPO keine Norm erlassen, die eine Delegation von der Verfahrensleitung an eine andere Behörde oder an Dritte ermöglicht.
1.3.2.
Beim Oberstaatsanwalt handelt es sich im Fall eines bei der Staatsanwaltschaft pendenten Strafverfahrens jedoch nicht um eine "andere Behörde" (erst recht nicht um einen Dritten) im Sinn von Art. 133 Abs. 1bis StPO.
Der Bundesgesetzgeber versteht den Begriff der Verfahrensleitung funktional[15] und nicht in dem Sinn, dass nicht ein anderer Staatsanwalt innerhalb der gleichen Staatsanwaltschaft als gleicher Behörde über Bestellung, Entlassung und Wechsel der amtlichen Verteidigung befinden dürfte. Es kann nicht nur der verfahrensführende Staatsanwalt, sondern beispielsweise bei dessen Verhinderung auch jeder andere Staatsanwalt der betreffenden Amtsstelle ohne besondere Ernennungsverfügung im betreffenden Fall verfahrensleitende Funktionen übernehmen[16].
Der Oberstaatsanwalt kann, zumal er die Staatsanwaltschaft führt und gegenüber den Staatsanwältinnen und Staatsanwälten weisungsbefugt ist[17], ein Strafverfahren jederzeit an sich ziehen und die Verfahrensleitung übernehmen, bei prozessualen Zwischenentscheiden jedenfalls dann, wenn das regelbasiert erfolgt. Das ist der Fall, sieht doch die Geschäftsordnung der Staatsanwaltschaft Thurgau vor, was gerichtsnotorisch ist, dass der Oberstaatsanwalt oder die Oberstaatsanwältin der das Vorverfahren führenden Staatsanwaltschaft die amtliche Verteidigung bestellt. Diesfalls obliegt laut Bundesgericht der gleichen Stelle auch der Entscheid über Widerruf und Wechsel der amtlichen Verteidigung[18].
Es verhält sich hier auch nicht wie im Kanton Zürich, der die Auswahl der amtlichen Verteidigung an das bei der Oberstaatsanwaltschaft angegliederte Büro für amtliche Mandate übertrug[19]. Die Oberstaatsanwaltschaft Zürich entspricht im Kanton Thurgau der Generalstaatsanwaltschaft; ein bei der Generalstaatsanwaltschaft angesiedeltes Büro für amtliche Mandate könnte für einen der Staatsanwaltschaft übertragenen Fall nicht als Verfahrensleitung betrachtet werden.
1.4.
Zusammenfassend fällt der Oberstaatsanwalt, als Leiter einer Staatsanwaltschaft, im Vorverfahren unter den Begriff der Verfahrensleitung im Sinn von Art. 133 Abs. 1 StPO. Damit ist die angefochtene Verfügung formell rechtmässig.
[…]
Obergericht, 2. Abteilung, 7. November 2024, SW.2024.102
[1] Gesetz über die Zivil- und Strafrechtspflege, RB 271.1
[2] RB 311.61
[3] Art. 133 Abs. 1 StPO
[4] Art. 61 lit. a StPO
[5] Art. 134 Abs. 1 StPO
[6] Art. 134 Abs. 2 StPO
[7] Urteil des Bundesgerichts 1B_251/2014 vom 4. September 2014 E. 3.6
[8] Art. 14 Abs. 1-4 StPO
[9] § 28 Abs. 1 ZSRG
[10] § 28 Abs. 2 ZSRG
[11] § 30 Abs. 2 ZSRG
[12] § 1 Abs. 1 OVSTA
[13] § 32 Abs. 1 ZSRG; § 1 Abs. 2 OVSTA
[14] Lieber, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 133 N. 2 sowie N. 13; Ruckstuhl, Basler Kommentar, 3.A., Art. 133 StPO N. 17; Botschaft zur Änderung der Strafprozessordnung vom 28. August 2019, BBl 2019 S. 6733
[15] Frischknecht/Reut, Basler Kommentar, 3.A., Art. 62 StPO N. 1
[16] Jositsch/Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 4.A., Art. 61 N. 3; vgl. Frischknecht/Reut, Art. 61 StPO N. 5
[17] § 32 Abs. 1 ZSRG; § 1 OVSTA
[18] Urteil des Bundesgerichts 1B_251/2014 vom 4. September 2014 E. 3.6
[19] Botschaft, S. 6732