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RBOG 2024 Nr. 31

Vertretung des unmündigen Opfers im Strafverfahren; Interessenkollision der Eltern; Parteistellung der Mutter

Art. 106 Abs. 2 StPO Art. 306 Abs. 3 ZGB Art. 117 Abs. 3 StPO


Zusammenfassung des Sachverhalts:

Die Staatsanwaltschaft führt ein Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen Verdachts auf sexuelle Handlungen mit einem Kind zum Nachteil seiner Tochter. Die Beschwerde richtet sich dagegen, dass die Staatsanwaltschaft der Mutter als Beschwerdegegnerin in einer bestimmten Einvernahme im Strafverfahren Parteirechte gewährte. Der Beschwerdeführer beanstandet zunächst die von der Staatsanwaltschaft bejahte Legitimation der Mutter zur (gesetzlichen) Vertretung der gemeinsamen Tochter im Strafverfahren. Weiter verlangt der Beschwerdeführer die Feststellung, dass der Mutter im Strafverfahren gegen ihn keine Parteirechte zustünden und sie keinen Anspruch auf rechtliches Gehör habe.

Aus den Erwägungen:

[…]

2.

2.1.

Parteien sind im Strafverfahren die beschuldigte Person, die Privatklägerschaft und im Haupt- und Rechtsmittelverfahren die Staatsanwaltschaft[1]. Andere Verfahrensbeteiligte sind – unter anderem – die geschädigte Person und die Person, die Anzeige erstattet[2]. Werden sie in ihren Rechten unmittelbar betroffen, so stehen ihnen die zur Wahrung ihrer Interessen erforderlichen Verfahrensrechte einer Partei zu[3].

2.2.

Als Privatklägerschaft gilt die geschädigte Person, die ausdrücklich erklärt, sich am Strafverfahren als Straf- oder Zivilklägerin oder -kläger zu beteiligen[4]. Die Erklärung ist gegenüber einer Strafverfolgungsbehörde spätestens bis zum Abschluss des Vorverfahrens abzugeben[5]. Die geschädigte Person kann die Erklärung nach Art. 118 StPO schriftlich oder mündlich zu Protokoll abgeben[6]. In der Erklärung kann sie (kumulativ oder alternativ) die Verfolgung und Bestrafung der für die Straftat verantwortlichen Person verlangen (Strafklage)[7] und/oder adhäsionsweise privatrechtliche Ansprüche geltend machen, die aus der Straftat abgeleitet werden (Zivilklage)[8].

2.3.

Als geschädigte Person gilt die Person, die durch die Straftat in ihren Rechten unmittelbar verletzt worden ist[9].

Als Opfer gilt die geschädigte Person, die durch die Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist[10]. Als Angehörige des Opfers gelten seine Ehegattin oder sein Ehegatte, seine Kinder und Eltern sowie die Personen, die ihm in ähnlicher Weise nahe stehen[11].

2.4.

Nach Art. 106 Abs. 1 StPO kann die Partei Verfahrenshandlungen nur gültig vornehmen, wenn sie handlungsfähig ist. Eine handlungsunfähige Person wird durch die gesetzliche Vertretung vertreten[12].

Die Handlungsfähigkeit besitzt, wer volljährig und urteilsfähig ist[13]. Volljährig ist, wer das 18. Lebensjahr zurückgelegt hat[14]. Urteilsfähig ist, wem nicht wegen seines Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln[15].

3.

3.1.

Die 3,5-jährige Tochter ist Opfer im Sinn von Art. 116 Abs. 1 StPO. Sie ist aufgrund ihres Alters offensichtlich nicht prozessfähig im Sinn von Art. 106 StPO und wird dementsprechend im Strafverfahren bei der Ausübung ihrer Rechte grundsätzlich durch ihre gesetzliche Vertretung[16], das heisst hier durch ihre Eltern als Sorgerechtsinhaber, vertreten[17]. Davon ausgenommen sind jene Verfahrensrechte, die höchstpersönlicher Natur sind[18].

3.2.

Bei Interessenkollision entfallen gemäss Art. 306 Abs. 3 ZGB von Gesetzes wegen die Befugnisse der Eltern in der entsprechenden Angelegenheit. Diesfalls ernennt die Kindesschutzbehörde gestützt Art. 306 Abs. 2 ZGB einen Beistand oder regelt diese Angelegenheit selbst.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist grundsätzlich abstrakt zu bestimmen, ob eine Interessenkollision im Sinn von Art. 306 Abs. 2 und 3 ZGB vorliegt oder nicht. Von einer solchen geht die Rechtsprechung aus, wenn sich die Interessen des Vertretenen und des gesetzlichen Vertreters widersprechen oder wenn sich der gesetzliche Vertreter von Interessen ihm nahestehender Dritter, die nicht mit jenen des Vertretenen übereinstimmen, beeinflussen lassen könnte. Entscheidend ist die Frage, ob die Möglichkeit besteht, dass der gesetzliche Vertreter zum Nachteil des Vertretenen handelt[19].

Eine tatsächliche oder zumindest abstrakte Interessenkollision ist regelmässig anzunehmen, wenn Kinder Opfer im sozialen Nahraum wurden, insbesondere bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch von Kindern durch einen Elternteil. Diesfalls entfällt das Vertretungsrecht der Eltern im Strafverfahren[20].

3.3.

Unbestritten und evident ist, dass der Beschwerdeführer seine Tochter im Strafverfahren wegen einer Interessenkollision nicht vertreten kann. Strittig ist, ob die Beschwerdegegnerin die Tochter vertreten kann.

Die gemeinsame Tochter und ihre Mutter leben vom Beschwerdeführer getrennt; im Scheidungsverfahren sind gemäss den Aussagen der Beschwerdegegnerin die Obhut und die Ausgestaltung des Besuchsrechts zwischen Vater und Tochter ein strittiges Thema; auch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde wurde wegen des Besuchsrechts eingeschaltet. Vor dem Hintergrund des ehelichen beziehungsweise elterlichen Konflikts zwischen dem Beschwerdeführer und der Beschwerdegegnerin kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Beschwerdegegnerin mit der erhobenen Strafanzeige Eigeninteressen verfolgt, die womöglich den Interessen des Kindes widersprechen. Folglich ist bezüglich der Beschwerdegegnerin eine (zumindest abstrakte) Interessenkollision zu bejahen.

3.4.

Zufolge Interessenkollision entfallen gestützt auf Art. 306 Abs. 3 ZGB die Befugnisse der Eltern in der entsprechenden Angelegenheit von Gesetzes wegen (automatisch)[21]. Damit ist festzustellen, dass die Beschwerdegegnerin im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer nicht zur (gesetzlichen) Vertretung ihrer Tochter legitimiert ist.

4.

4.1.

Die Beschwerdegegnerin ist als Mutter Angehörige des Opfers im Sinn von Art. 116 Abs. 2 StPO (sogenanntes indirektes Opfer).

4.2.

Machen die Angehörigen des Opfers Zivilansprüche geltend, so stehen ihnen die gleichen Rechte zu wie dem Opfer[22]. Es muss sich dabei um eigene Zivilansprüche der Angehörigen handeln[23]. In Betracht kommen etwa der Versorgerschaden[24] und die Genugtuung[25]. Zur Geltendmachung eigener Zivilansprüche genügt es nicht, frei erfundene Zivilforderungen ohne jede Grundlage einzubringen. Für die Zulässigkeit der Klage müssen die Zivilansprüche mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit begründet sein. Ein strikter Nachweis ist nicht erforderlich, da dies Gegenstand des Prozesses ist[26].

4.3.

4.3.1.

Die Beschwerdegegnerin erhob mit dem Formular "Geltendmachung von Rechten als Privat­klägerschaft" einerseits Strafklage im Sinn von Art. 119 Abs. 2 lit. a StPO und andererseits Zivilklage im Sinn von Art. 119 Abs. 2 lit. b StPO. Sie erklärte, sie stelle finanzielle Ansprüche und verlange Schadenersatz in noch zu beziffernder Höhe. Ihre Zivilansprüche würden weder ganz noch teilweise durch eine Versicherung gedeckt.

4.3.2.

Der Umstand, dass die Beschwerdegegnerin die Zivilforderungen bislang nicht bezifferte, gereicht ihr nicht zum Nachteil.

Zwar ist nach Art. 123 Abs. 1 StPO die in der Zivilklage geltend gemachte Forderung nach Möglichkeit in der Erklärung[27] zu beziffern und, unter Angabe der angerufenen Beweismittel, kurz schriftlich zu begründen. Dabei handelt es sich jedoch um eine blosse Ordnungsvorschrift[28]. Gemäss Art. 123 Abs. 2 StPO (in der seit 1. Januar 2024 in Kraft stehenden Fassung) haben Bezifferung und Begründung innert der von der Verfahrensleitung gemäss Art. 331 Abs. 2 StPO angesetzten Frist zu erfolgen. Eine Bezifferung und Begründung der Forderung ist somit spätestens im Verfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht im Rahmen der Vorbereitung der Hauptverhandlung vorzunehmen[29].

4.3.3.

Es ist hier nicht näher zu prüfen, welche eigenen Zivilansprüche die Beschwerdegegnerin dereinst stellen wird. Ansätze dafür liefert indes die Duplik; darin machte sie geltend, die eigenen Ansprüche könnten mit den sie persönlich treffenden finanziellen Folgen der Teilnahme im Strafverfahren und den Kosten, die im Zusammenhang mit den begleiteten Besuchen beim Vater entstünden, begründet werden. Dazu legte die Beschwerdegegnerin einen Kostenvoranschlag ins Recht. Schliesslich sei nicht von der Hand zu weisen, dass der Tatverdacht mit einer grossen seelischen und emotionalen Belastung von ihr selbst verbunden sei. Die in der Duplik aufgeführten Ansprüche erscheinen zumindest nicht völlig unplausibel; eine vertiefte Abklärung ist in diesem Verfahrensstadium nicht angezeigt[30].

4.4.

Es ist daher davon auszugehen, dass sich die Beschwerdegegnerin im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer ordnungsgemäss als Zivilklägerin im Sinn von Art. 119 Abs. 2 lit. b StPO konstituierte, weshalb ihr Parteirechte zukommen. Dem Wortlaut von Art. 117 Abs. 3 StPO lässt sich keine Einschränkung in dem Sinn entnehmen, dass den Angehörigen, die Zivilansprüche geltend machen, nur insoweit die gleichen Rechte wie dem Opfer zukommen, als dies die Durchsetzung der Zivilansprüche erleichtert[31].

Damit ist die Beschwerde abzuweisen. Der Beschwerdegegnerin stehen im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer Parteirechte zu, und sie hat damit auch Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinn von Art. 107 Abs. 1 StPO.

[…]

Obergericht, 2. Abteilung, 6. Juni 2024, SW.2024.39


[1]    Art. 104 Abs. 1 StPO

[2]    Art. 105 Abs. 1 lit. a und lit. b StPO

[3]    Art. 105 Abs. 2 StPO

[4]    Art. 118 Abs. 1 StPO

[5]    Art. 118 Abs. 3 StPO

[6]    Art. 119 Abs. 1 StPO

[7]    Art. 119 Abs. 2 lit. a StPO

[8]    Art. 119 Abs. 2 lit. b StPO

[9]    Art. 115 Abs. 1 StPO

[10]  Art. 116 Abs. 1 StPO

[11]  Art. 116 Abs. 2 StPO

[12]  Art. 106 Abs. 2 StPO

[13]  Art. 13 ZGB

[14]  Art. 14 ZGB

[15]  Art. 16 ZGB

[16]  Art. 106 Abs. 2 StPO

[17]  Art. 304 Abs. 1 ZGB i.V.m. Art. 296 Abs. 2 ZGB

[18]  Art. 106 Abs. 3 StPO

[19]  BGE 145 III 393 E. 2.7; vgl. Urteile des Bundesgerichts vom 6B_1105/2016 vom 14. Juni 2017 E. 2.2; 6B_184/2016 vom 7. Juli 2016 E. 5.1; BGE 118 II 101 E. 4; 107 II 109 E. 4

[20]  Küffer/Jost, Basler Kommentar, 3.A., Art. 106 StPO N. 10; Schwenzer/Cottier, Basler Kommentar, 7.A., Art. 306 ZGB N. 5; Urteil des Bundesgerichts 1P.848/2005 vom 18. Juli 2006 E. 1.4; Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich SB180339 vom 25. Januar 2019 E. II.2.2

[21]  Schwenzer/Cottier, Art. 306 ZGB N. 6

[22]  Art. 117 Abs. 3 StPO

[23]  Art. 122 Abs. 2 StPO

[24]  Art. 45 Abs. 3 OR

[25]  Art. 47 OR

[26]  Mazzucchelli/Postizzi, Basler Kommentar, 3.A., Art. 118 StPO N. 6; Lieber, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 117 N. 6a; BGE 139 IV 89 E. 2.2; Urteil des Bundesgerichts 1B_380/2017 vom 22. Dezember 2017 E. 3 f.

[27]  Art. 119 Abs. 2 Bst. b StPO

[28]  Urteil des Bundesgerichts 1B_380/2017 vom 22. Dezember 2017 E. 3; Dolge, Basler Kommentar, 3.A., Art. 123 StPO N. 1; Jositsch/Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 4.A., Art. 123 N. 1; Lieber, Art. 123 StPO N. 1

[29]  Vgl. Dolge, Art. 123 StPO N. 2

[30]  BGE 139 IV 89 E. 2.4; Urteil des Bundesgerichts 1B_380/2017 vom 22. Dezember 2017 E. 4

[31]  BGE 139 IV 121 E. 5.2


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