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RBOG 2024 Nr. 35

Unzulässigkeit einer Alternativanklage bezüglich verschiedener Personen

Art. 325 Abs. 2 StPO Art. 30 StPO


Zusammenfassung des Sachverhalts:

Die Staatsanwaltschaft führte zwei getrennte Strafverfahren gegen den Berufungskläger und die Privatklägerin. Das gegen die Privatklägerin geführte Verfahren sistierte sie; im Verfahren gegen den Berufungskläger erhob sie Anklage. Das Bezirksgericht sprach den Berufungskläger daraufhin schuldig, bestrafte ihn mit einer bedingten Freiheits- und Geldstrafe und hiess die Zivilforderung der Privatklägerin gut. Das Gesuch des Berufungsklägers um Rückweisung der Anklage an die Staatsanwaltschaft mit der Anweisung, das Strafverfahren gegen den Berufungskläger mit demjenigen gegen die Privatklägerin zu vereinigen, wies das Bezirksgericht ab. Diesen Entscheid focht der Berufungskläger an und stellte sich – wie bereits vor Vorinstanz – auf den Standpunkt, die beiden Strafverfahren hätten zusammen geführt werden müssen, da es sich um eine Aussage-gegen-Aussage-Situation handle, in der sich Berufungskläger und Privatklägerin gegenseitig beschuldigten.

Aus den Erwägungen:

[…]

2.2.

Straftaten werden gemeinsam verfolgt und beurteilt, wenn eine beschuldigte Person mehrere Straftaten verübt hat oder Mittäterschaft oder Teilnahme vorliegt[1]. Dieses Prinzip bildet seit langem ein Wesensmerkmal des schweizerischen Straf- und Strafverfahrensrechts. Es besagt unter anderem, nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der sachlichen Zuständigkeit, dass mehrere Straftaten einer einzelnen Person in der Regel in einem einzigen Verfahren verfolgt und beurteilt werden müssen[2]. Der Grundsatz der Verfahrenseinheit bezweckt die Verhinderung sich widersprechender Urteile, sei dies bei der Sachverhaltsfeststellung, der rechtlichen Würdigung oder der Strafzumessung. Er gewährleistet somit das Gleichbehandlungsgebot[3]. Überdies dient er der Prozessökonomie[4]. Eine Verfahrenstrennung ist gemäss Art. 30 StPO nur bei Vorliegen sachlicher Gründe zulässig und muss die Ausnahme bleiben. Die sachlichen Gründe müssen objektiv sein. Die Verfahrenstrennung soll dabei vor allem der Verfahrensbeschleunigung dienen beziehungsweise eine unnötige Verzögerung vermeiden helfen. In der Literatur werden als sachliche Gründe etwa die bevorstehende Verjährung einzelner Straftaten oder die Unerreichbarkeit einzelner beschuldigter Personen genannt. Alle Beispiele beziehen sich auf Charakteristika des Verfahrens, des Täters oder der Tat, nicht aber auf organisatorische Aspekte auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden[5]. Dass umfangreiche Verfahren mit vielen Delikten und/oder beschuldigten Personen organisatorisch aufwändig und für die Verfahrensleitung herausfordernd zu führen sein können, ist daher kein Grund für eine Trennung des Verfahrens. Die Abtrennung des Verfahrens muss die Ausnahme bleiben[6].

2.3.

Im vorliegenden Strafverfahren wurde berücksichtigt, dass der Berufungskläger die Privatklägerin der Täterschaft bezichtigte. Eine Vereinigung der Verfahren hätte damit keinen erkennbaren Einfluss auf das vorliegende Verfahren gehabt; Nachteile des Berufungsklägers aus der Führung getrennter Verfahren sind nicht erkennbar. Es kommt hinzu, dass die Vorinstanz zu Recht darauf hinwies, dass der Berufungskläger die Sistierung des Verfahrens gegen die Privatklägerin nicht anfocht. Damit akzeptierte er aber auch, dass die beiden Verfahren getrennte Schicksale haben beziehungsweise nicht vereinigt werden. Die Sistierung des Verfahrens gegen die Privatklägerin ist im Übrigen nicht zu beanstanden, geht doch die Staatsanwaltschaft nach durchgeführtem (koordiniertem) Untersuchungsverfahren davon aus, dass der Berufungskläger und nicht die Privatklägerin Täter ist.

Eine gemeinsame Anklage beziehungsweise gemeinsame Gerichtsverfahren gegen die Privatklägerin und den Berufungskläger wären zudem selbst dann nicht möglich gewesen, wenn die Staatsanwaltschaft die beiden Verfahren im Untersuchungsverfahren vereint hätte. Alternativanklagen sind ausschliesslich sachverhaltsbezogen. Bezüglich verschiedener beschuldigter Personen ist eine Alternativanklage nicht zulässig[7]. Hat der Staatsanwalt Anklage gegen eine Person wegen einer bestimmten Tat erhoben, so ist es ihm unmöglich und daher verwehrt, "alternativ" oder "eventual" dieselbe Tat einem anderen Beschuldigten anzulasten, mögen sich auch gegen diesen anderen Verdachtsmomente ergeben haben. Die Vorstellung, dass der Staatsanwalt gegen sämtliche Personen, bei denen eine Tatbegehung nicht ausgeschlossen erscheint, gleichzeitig Anklage erheben müsse, um dem Gericht die Entscheidung zu überlassen, wer schuldig sei, ist mit dem Wesen des Anklageprozesses nicht in Einklang zu bringen. Dieser räumt dem Ankläger nicht bloss eine formale Rolle ein, sondern verpflichtet ihn, nach seiner Überzeugung schuldige Täter zu verfolgen. Die Staatsanwaltschaft musste sich somit spätestens mit der Anklageerhebung für die Täterschaft einer der beiden – Berufungskläger oder Privatklägerin – entscheiden, da kein Fall von Mittäterschaft, sondern von Gegenanzeigen vorliegt. Der Auffassung der Vorinstanz ist im Ergebnis zuzustimmen.

[…]

Obergericht, 3. Abteilung, 23. Januar 2024, SBR.2023.53

Eine dagegen erhobene Beschwerde ist beim Bundesgericht hängig (6B_263/2024).


[1]    Art. 29 Abs. 1 StPO

[2]    BGE 138 IV 214 E. 3.2

[3]    Art. 8 BV

[4]    BGE 138 IV 29 E. 3.2; Jositsch/Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 4.A., Art. 29 N. 1

[5]    BGE 138 IV 214 E. 3.2

[6]    Schlegel, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 30 N. 6

[7]    Bosshard/Landshut, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 325 N. 6 f. und 32; Heimgartner/Niggli, Basler Kommentar, 3.A., Art. 325 StPO N. 14


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