Skip to main content

RBOG 2024 Nr. 36

Inwiefern ist das Verschlechterungsverbot im Fall einer Berufung der Privatklägerschaft zu beachten?

Art. 391 Abs. 2 StPO


Zusammenfassung des Sachverhalts:

Das Bezirksgericht sprach den Berufungsbeklagten in Bezug auf bestimmte Anklagesachverhalte schuldig und bestrafte ihn mit einer bedingten Geldstrafe und einer Busse. In Bezug auf andere Anklagesachverhalte sprach es den Berufungsbeklagten frei und verwies allfällige Zivilforderungen der Privatklägerin auf den Zivilweg. Gegen diesen Entscheid erhoben die Staatsanwaltschaft und die Privatklägerin Berufung. Später zog die Staatsanwaltschaft ihre Berufungsanmeldung jedoch wieder zurück.

Aus den Erwägungen:

1.

1.1.

Nach Art. 398 Abs. 1 StPO ist die Berufung zulässig gegen Urteile erstinstanzlicher Gerichte, mit denen das Verfahren ganz oder teilweise abgeschlossen wurde. Die Berufung ist ein vollkommenes Rechtsmittel, das es dem Berufungskläger erlaubt, den erstinstanzlichen Entscheid vollumfänglich überprüfen zu lassen[1]. Im Berufungsverfahren gilt indessen die Dispositionsmaxime[2]. Das Berufungsgericht überprüft das erstinstanzliche Urteil – unter Vorbehalt der Ausdehnung zwecks Vermeidung gesetzeswidriger oder unbilliger Ergebnisse – nur in den angefochtenen Punkten. Es kann zugunsten der beschuldigten Person auch nicht angefochtene Punkte überprüfen, um gesetzwidrige oder unbillige Entscheidungen zu verhindern[3]. Nicht angefochtene Punkte werden – unter Vorbehalt von Art. 404 Abs. 2 StPO – rechtskräftig[4].

1.2.

Gemäss dem Verschlechterungsverbot (reformatio in peius) nach Art. 391 Abs. 2 StPO darf die Rechtsmittelinstanz Entscheide nicht zum Nachteil der beschuldigten oder verurteilten Person abändern, wenn das Rechtsmittel nur zu deren Gunsten ergriffen worden ist. Das Verschlechterungsverbot greift jedoch nicht, wenn eine andere Partei als die beschuldigte Person das Rechtsmittel führt. Im Rahmen der gestellten Anträge wird der erstinstanzliche Entscheid zum Gegenstand des zweitinstanzlichen Prozesses[5].

[…]

1.6.

1.6.1.

Vorliegend zog die Staatsanwaltschaft ihre Berufungsanmeldung zurück, womit ihre Berufung abzuschreiben ist.

1.6.2.

Die Berufung der Privatklägerin richtet sich gegen die vorinstanzlichen Freisprüche in gewissen Anklagesachverhalten, den Verweis der Zivilforderungen auf den Zivilweg und die damit zusammenhängenden Kosten- und Entschädigungsfolgen. Im Umfang der Anträge der Berufungsklägerin darf der Schuldpunkt zulasten des Berufungsbeklagten abgeändert werden. Die nicht angefochtenen Punkte sind in Rechtskraft erwachsen.

1.6.3.

Fraglich ist, inwiefern bei der gegebenen prozessualen Ausgangslage das Verschlechterungsverbot zu beachten ist.

1.6.3.1.

Das Verschlechterungsverbot ist ein Institut des schweizerischen Strafprozessrechts. Es findet keine Grundlage in der EMRK[6] oder dem UNO-Pakt II. Der Sinn des Verschlechterungsverbots besteht darin, dass die beschuldigte Person nicht durch die Befürchtung, strenger angefasst zu werden, von der Ausübung eines Rechtsmittels abgehalten wird[7]. Ob eine unzulässige Verschlechterung vorliegt, bestimmt sich durch Vergleich des Dispositivs des angefochtenen Entscheids mit demjenigen im Rechtsmittelverfahren[8].

1.6.3.2.

Führt die Staatsanwaltschaft Berufung, ist das Gericht an deren Anträge gebunden. Es kann keine höhere als die beantragte Strafe aussprechen[9]. Wenn die Staatsanwaltschaft als Anschlussberufungsklägerin auftritt, ist sie nach bundesgerichtlicher Praxis an ihre Anträge im Strafpunkt vor erster Instanz gebunden. Sie darf nicht ohne Begründung eine schärfere oder höhere Sanktion verlangen[10]. Soweit ersichtlich weder durch die Lehre[11] noch durch die Rechtsprechung geklärt ist hingegen die Frage, ob und wie das Verschlechterungsverbot gilt, wenn die Privatklägerschaft Berufung erhebt. Anders als bei einer Berufung der Staatsanwaltschaft fehlt bei einem durch die Privatklägerschaft ergriffenen Rechtsmittel ein für das Berufungsgericht verbindlicher Antrag im Strafpunkt, weil der Privatklägerschaft diesbezüglich die Legitimation fehlt[12].

1.6.3.3.

Massgebend muss der Sinn und Zweck des Verschlechterungsverbots sein. Dieses soll der beschuldigten Person ermöglichen, einen erstinstanzlichen Entscheid anzufechten, ohne eine strengere Bestrafung befürchten zu müssen. In der hier zu beurteilenden Konstellation wird das Verschlechterungsverbot nicht tangiert, weil der Berufungsbeklagte selbst kein Rechtsmittel ergriff. Daran ändert die vorerwähnte Praxis zur Berufung und Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft nichts. Die Beschränkung der gerichtlichen Entscheidzuständigkeit auf die Berufungsanträge der Staatsanwaltschaft ist Ausdruck der Dispositionsmaxime; in der hier zu beurteilenden Konstellation ist der Streitgegenstand aber gerade nicht durch Anträge im Strafpunkt eingeschränkt, denn die Privatklägerin kann zur Strafzumessung gar keine Anträge stellen[13]. Ähnliches gilt für die Schranken der Anschlussberufung. Diese fliessen aus dem Grundsatz von Treu und Glauben und ermöglichen dem Berufungskläger, in Kenntnis der Anträge gemäss Anschlussberufung zu prüfen, ob er die Berufung zurückziehen will. Als Berufungsbeklagter fehlt ihm diese Entscheidungsmöglichkeit.

1.6.3.4.

Bezogen auf den vorliegenden Fall ist das Verschlechterungsverbot demnach nicht zu beachten. Der Berufungsbeklagte kann auch anders – härter oder schärfer – bestraft werden, als es die Staatsanwaltschaft mit Strafbefehl vorsah.

[…]

Obergericht, 1. Abteilung, 29. Februar 2024, SBR.2022.29


[1]    Art. 398 Abs. 3 StPO

[2]    Urteil des Bundesgerichts 6B_1299/2018 vom 28. Januar 2019 E. 2.3

[3]    Art. 404 Abs. 1 und 2 StPO

[4]    Urteil des Bundesgerichts 6B_533/2016 vom 29. November 2016 E. 4.2

[5]    BGE 147 IV 167 E. 1.5.3

[6]    BGE 146 IV 172 E. 3.3.3

[7]    BGE 144 IV 198 E. 5.3; 144 IV 35 E. 3.1.1

[8]    BGE 142 IV 129 E. 4.5; 139 IV 282 E. 2.6

[9]    BGE 147 IV 167 E. 1.5.3

[10]  BGE 147 IV 505

[11]  Vgl. Keller, Basler Kommentar, 3.A., Art. 391 StPO N. 4 f.

[12]  Art. 382 Abs. 2 StPO

[13]  BGE 147 IV 167 E. 1.5.3: "Ein zulasten des Beschuldigten erhobenes Rechtsmittel macht den erstinstanzlichen Entscheid im Rahmen der gestellten Anträge zum Gegenstand des zweitinstanzlichen Prozesses."


JavaScript errors detected

Please note, these errors can depend on your browser setup.

If this problem persists, please contact our support.