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TVR 2000 Nr. 9

Unbeschränktes Novenrecht vor der Steuerrekurskommission


§ 175 StG, § 47 Abs. 1 VRG


Vor der Steuerrekurskommission können – ausgenommen § 177 StG – grundsätzlich noch einmal unbeschränkt Noven vorgebracht werden.


R U übernahm von seinem Vater L U als Erbvorbezug per 1. Januar 1995 die Liegenschaft Dorfstrasse 3 und per 1. Januar 1996 die Liegenschaft Hauptstrasse9, beide in B. Wegen dieser Übernahme wurde das Ehepaar R und O U per 1. Januar 1996 zwischenveranlagt. In der Hauptveranlagung 1997/1998 wurde die Zwischenveranlagung 1996 mitberücksichtigt. Sowohl gegen die Zwischenveranlagung als auch gegen die Hauptveranlagung 1997/1998 erhob das Ehepaar Einsprache. Sie ersuchten unter anderem, in der Steuerveranlagung 1997/1998 eine Darlehensschuld gegenüber L U in der Höhe von Fr. 210 000.– zu berücksichtigen. R U reichte hierzu einen schriftlichen, von beiden Parteien unterzeichneten Darlehensvertrag über die genannte Summe ein. Im Rahmen des Einspracheverfahrens wurde festgehalten, dass das Darlehen gegenüber dem Vater in der Höhe von Fr. 210 000.– anerkannt wird. In der Folge reichte das Ehepaar U Rekurs bei der Steuerrekurskommission ein und machte unter anderem sinngemäss geltend, die Schlussbilanz auf dem Konto 20.65 «Hypothek» für die Liegenschaft Dorfstrasse 3 habe per 31. Dezember 1995 Fr. 892 500.– betragen. Eröffnet worden sei die Bilanz per 1. Januar 1996 jedoch mit einem Saldo von Fr. 142 413.–. Es sei nicht erklärbar, wie diese Differenz habe entstehen können, doch sei die Höhe des Darlehens zweifelsfrei ausgewiesen und somit erstellt, dass der in der Eröffnungsbilanz per 1. Januar 1996 eingesetzte Betrag um Fr. 750 087.– zu tief angesetzt sei.
Die Steuerrekurskommission wies das Rechtsmittel ab, soweit sie überhaupt darauf eintrat. Nicht eingetreten wurde auf den Rekurs mit Bezug auf die falsche Verbuchung der Hypothek per 1. Januar 1996. Dies mit der Begründung, die Hypotheken auf den Liegenschaften seien im Rahmen des Einspracheverfahrens gar nie zur Diskussion gestanden. Damit sei im Rekursverfahren der Gegenstand in unzulässiger Weise ausgeweitet worden. Gegen den Rekursentscheid erhob das Ehepaar U Beschwerde, welche das Verwaltungsgericht teilweise gutheisst.

Aus den Erwägungen:

2. a) Die Vorinstanz ist – wie bereits erwähnt – auf den Antrag bezüglich Berücksichtigung der falsch verbuchten Hypotheken nicht eingetreten, da sie dies für eine unzulässige Ausweitung des Streitgegenstandes hielt.
Gegen den Veranlagungsentscheid der Steuerbehörde kann ein Steuerpflichtiger innert 30 Tagen nach Zustellung bei der zuständigen Behörde schriftlich Einsprache erheben (§ 164 Abs. 1 StG). Ist ein Steuerpflichtiger nicht mit der erstinstanzlichen Steuerveranlagung einverstanden, so genügt es, wenn er dies ohne weitere Begründung schriftlich bei der zuständigen Behörde kundtut. In der Folge ist das Einspracheverfahren durchzuführen, wobei Gegenstand dieses Verfahrens die ganze Steuerveranlagung ist, was aus § 165 Abs. 2 StG erhellt. Dementsprechend betrifft auch der Einspracheentscheid die gesamte Veranlagung und nicht etwa einzelne Punkte davon, weshalb eine Ausweitung des Streitgegenstands im Rekursverfahren begrifflich gar nicht möglich ist.
Zu berücksichtigen ist auch folgendes: Gegen die Entscheide der Einsprachebehörde kann nach § 175 StG Rekurs bei der Steuerrekurskommission erhoben werden. Laut § 47 Abs. 1 VRG können mit dem Rekurs alle Mängel des Verfahrens und des angefochtenen Entscheides geltend gemacht werden. Zulässig sind somit neue Begehren verfahrensrechtlicher Art und neue tatsächliche Behauptungen sowie die Bezeichnung neuer Beweismittel (§ 47 Abs. 3 VRG). Die Rekursinstanz entscheidet sodann, ohne an die Anträge der Beteiligten gebunden zu sein. Sie kann zugunsten des Rekurrenten über dessen Anträge hinausgehen, den angefochtenen Entscheid zu seinem Nachteil ändern oder die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückweisen (§ 51 Abs.1 VRG). Die Rekursinstanz kann also eine Änderung der Veranlagung in einem bisher völlig unstrittigen Punkt zu Ungunsten des Rekurrenten vornehmen, ohne dass etwa ein dahingehender Antrag von Seiten der Steuerverwaltung vorliegen müsste. Ein Rekurrent hat also immer auch mit einer reformatio in peius zu rechnen. Unter diesen Umständen muss es ihm aber schon wegen des Prinzips der Waffengleichheit möglich sein, im Rekursverfahren eine Abänderung der Steuerveranlagung zu seinen Gunsten zu verlangen, unbesehen davon, was bisher im Einspracheverfahren zur Diskussion stand.
Ein Vergleich mit anderen Kantonen bestätigt diesen Schluss: Im Kanton St. Gallen können laut Art. 46 VRP im Rekurs alle Mängel der angefochtenen Verfügung oder des angefochtenen Entscheides geltend gemacht werden, wobei neue Begehren zulässig sind. Weidmann/Grossmann/Zigerlig (Wegweiser durch das St. Gallische Steuerrecht, 6. Aufl., Muri-Bern 1999, S. 394) führen dazu aus, die Verfahrensbeteiligten hätten das Recht, sich mit begründeten Anträgen über ihre früheren Anträge und Stellungnahmen hinwegzusetzen, beispielsweise neue Tatsachen zu behaupten und weitergehende Berichtigungen der Steuerveranlagung zu verlangen. Nicht anders verhält es sich im Kanton Zürich. Laut § 147 des Steuergesetzes dieses Kantons können mit dem Rekurs alle Mängel des angefochtenen Entscheids und des vorangegangenen Verfahrens gerügt werden. Das heisst, dass mit dem Rekurs alle tatsächlichen und (materiell- sowie ver-Nr. 9 64 fahrens-) rechtlichen Mängel gerügt werden können. Die Rekursbehörde hat solche Fehler grundsätzlich von sich aus zu beheben und einen eigenen Entscheid zu treffen, der an die Stelle des angefochtenen tritt. Die Rekursbehörde kann alle Tat- und Rechtsfragen frei beurteilen sowie den angefochtenen Entscheid auf seine Angemessenheit hin überprüfen, ohne an die Parteianträge gebunden zu sein (Richner/Frei/Weber/Brütsch, Zürcher Steuergesetz, Kurzkommentar, 2. Aufl., Zürich 1997, § 92 N. 1). Auch hier also gilt, dass die Rekursbehörde grundsätzlich in ihrer Prüfungsbefugnis frei ist und sie muss dementsprechend alle Anträge eines Rekurrenten prüfen, selbst wenn der einzelne Steuerfaktor bisher nicht zur Diskussion gestanden ist. In einem gewissen Sinne am weitesten geht die Regelung im Kanton Aargau. Laut § 146 des Aargauer Steuergesetzes muss eine Einsprache angeben, gegen welche Punkte der Veranlagung sie sich richtet und sie hat eine entsprechende Begründung zu enthalten. Dennoch können im Rekursverfahren neue, in der Einsprache nicht gestellte oder über die Einsprachebegehren hinausgehende Anträge gestellt werden (Baur/Klöti-Weber/Koch/Meier/Ursprung, Kommentar zum Aargauer Steuergesetz, Muri-Bern 1991, § 49 N. 11). Im Vergleich mit den Regelungen und den Kommentaren der soeben erwähnten Kantone wird offensichtlich, welcher Art die Befugnisse einer erstinstanzlichen Steuerrekurskommission grundsätzlich sein sollen. Diese kann als erste verwaltungsunabhängige Instanz noch einmal alle Faktoren in einer Veranlagung überprüfen, unabhängig davon, welche Punkte im bisherigen Verfahren strittig waren. Dies muss auch im Kanton Thurgau gelten. Die Steuerrekurskommission hat uneingeschränkt neue Anträge entgegenzunehmen und – soweit nicht eine Beweismittelverweigerung im Veranlagungsverfahren vorliegt – auch neue Beweismittel zu würdigen (Schwarz, Das Verfahren der Steuerveranlagung nach Thurgauer Recht, Frauenfeld 1985, S. 188).
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Vorinstanz auf den Antrag bezüglich der in ihrer Höhe falsch verbuchten Hypothek der Liegenschaft Dorfstrasse 3 zu Unrecht nicht eingetreten ist. Vielmehr wäre der Rekurs in diesem Punkt – da Bestand und Höhe der Hypothek unbestritten sind – wohl gutzuheissen gewesen. Dementsprechend ist die Beschwerde diesbezüglich zu schützen und die Sache zur Neuveranlagung an die Steuerverwaltung zurückzuweisen.

Entscheid vom 26. Januar 2000

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