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TVR 2009 Nr. 37

Rentenanspruch eines abgewiesenen Asylbewerbers


Art. 14 Abs. 2 bis AHVG, Art. 2 Abs. 2 AHVV, Art. 36 Abs. 1 IVG, Art. 2 Abs. 2 IVV


Rentenanspruch eines abgewiesenen Asylbewerbers bei vorläufiger Aufnahme in der Schweiz. Sofern aufgrund der damaligen Gesetzeslage zu Unrecht keine Beiträge erhoben wurden, wären diese – soweit nicht verjährt – nachzufordern und bei der Prüfung der Invalidenrente zu berücksichtigen. Eine Rente würde hingegen auch dann von vorneherein ausser Betracht fallen, wenn der Versicherte bereits mit dem invalidisierenden Gesundheitsschaden in die Schweiz eingereist wäre.


M reiste im April 1993 als Asylbewerber aus Somalia in die Schweiz ein. Mit Verfügung vom 26. November 1993 wies das Bundesamt für Flüchtlinge das Gesuch ab und wies M aus der Schweiz aus. Eine Rückschaffung nach Somalia sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zumutbar, weshalb er vorläufig in der Schweiz aufgenommen werde. In der Folge wurde M mehrmals psychiatrisch hospitalisiert, erstmals im Mai 1994. Er wird vom Sozialamt K finanziell unterstützt. Am 10. Juni 2008 meldete sich M bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an und beantragte die Ausrichtung einer Rente. Die IV-Stelle verneinte den Rentenanspruch mit der Begründung, dass die erforderliche Beitragszeit nicht erfüllt worden sei. Dagegen erhob die Sozialhilfekommission K Beschwerde, welche das Versicherungsgericht in dem Sinne gutheisst, dass es die Sache zu weiteren Abklärungen und anschliessender Neuverfügung an die IV-Stelle zurückweist.

Aus den Erwägungen:

2. In zeitlicher Hinsicht sind grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgeblich, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 123 V 70 E. 2). Massgebend sind somit die Gesetzesbestimmungen zum Zeitpunkt des Eintritts der Invalidität bzw. des Ablaufs der Wartezeit, welcher von der IV-Stelle auf den 1. Januar 1995 festgelegt wurde. Nicht von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, wann die Anmeldung zum Leistungsbezug eingereicht worden ist und wann es infolge verspäteter Anmeldung tatsächlich zu einem Leistungsbezug kommen könnte.

3. Anspruch auf ordentliche Renten haben die rentenberechtigten Versicherten, die bei Eintritt der Invalidität während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet haben (Art. 36 Abs. 1 in der bis 31. Dezember 2007 gültigen Fassung [aIVG]). Der Verfahrensbeteiligte hat in der Schweiz offensichtlich nie – oder nie für längere Zeit – gearbeitet. Entgegen den Ausführungen der Beschwerdeführerin sind die Bestimmungen von Art. 14 Abs. 2bis AHVG auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, da diese Regelung erst seit Januar 2007 in Kraft ist. Auch die bis Ende Dezember 2006 gültig gewesene Bestimmung von Art. 2 Abs. 2 AHVV, wonach Asylsuchende ohne Erwerbstätigkeit in den ersten sechs Monaten nach Einreichung ihres Asylgesuches nicht versichert sind und nach Anerkennung als Flüchtlinge rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Einreichung ihres Gesuches versichert werden, trat erst im Januar 1997 in Kraft und wäre daher vorliegend ebenfalls noch nicht anwendbar (wobei eine Anerkennung als Flüchtling vorliegend ja dann gar nie erfolgt ist). Somit wäre grundsätzlich einmal davon auszugehen, dass nichterwerbstätige Asylsuchende bei der damaligen Gesetzeslage erfasst und von ihnen Beiträge hätten erhoben werden müssen (vgl. dazu auch Botschaft zur Änderung des AHVG, BBl 2002 6845, S. 6923), was denn auch zu möglichen Leistungen der Invalidenversicherung geführt hätte. Gemäss IK-Auszug hat der Verfahrensbeteiligte jedoch keinerlei Buchungen aufzuweisen. Der Frage nach einer Beitragspflicht ist die IV-Stelle in keiner Weise nachgegangen und ihrem Entscheid lassen sich diesbezüglich auch keine Ausführungen entnehmen, was eine Verletzung der Begründungspflicht darstellt und nicht vom Gericht zu heilen ist. Die Sache ist daher bereits aus diesem Grund zurückzuweisen. Die IV-Stelle wird abzuklären und auszuführen haben, aufgrund von welchen gesetzlichen Grundlagen vom Verfahrensbeteiligten keine Beiträge (zumindest in Form der Minimalbeiträge für nichterwerbstätige Versicherte) erhoben worden sind, nachdem er in der Schweiz Wohnsitz begründet hatte. Falls dies zu Unrecht unterlassen wurde, wären die noch nicht verjährten Forderungen vom Amt für AHV und IV zu erheben und die Beitragszeiten (auch diejenigen, für die aufgrund der Verjährung keine Nachforderung mehr möglich ist) bei der Prüfung der Invalidenrente zu berücksichtigen. Ebenso wenig hat die IV-Stelle in diesem Zusammenhang Stellung zum Anspruch auf eine ausserordentliche Rente unter Bezugnahme auf die damalige Rechtslage genommen. (…)

4. Unabhängig von diesen Abklärungen würde eine Rente aber auch dann von vorneherein ausser Betracht fallen, wenn der Verfahrensbeteiligte bereits mit dem invalidisierenden (Art. 8 Abs. 1 ATSG) Gesundheitsschaden in die Schweiz eingereist wäre. Dafür bestehen zumindest gewisse Anzeichen, nachdem die erste Hospitalisation bereits im Mai 1994 erfolgt ist und auch die Lebensgeschichte auf persönliche und intellektuelle Einschränkungen in der Entwicklung hinweist. Auch ist nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass sich das geschilderte Krankheitsbild (teils paranoid, teils hebephrene Schizophrenie, episodisch, mit stabilem Residuum, möglicherweise vor dem Hintergrund einer Kriegstraumatisierung) plötzlich entwickelt haben sollte. Der Verfahrensbeteiligte war zudem in der Schweiz nie – zumindest nicht längere Zeit – arbeitstätig. Dass die Ärzte des E die Diagnose somit auf das Jahr 1994 datieren, dürfte in erster Linie mit der 1. Hospitalisation in diesem Jahr zusammenhängen. Mit der Frage nach dem effektiven Eintritt der Invalidität wurden die Gutachter hingegen nie konfrontiert. Sollten die Abklärungen somit ergeben, dass der Verfahrensbeteiligte grundsätzlich beitragspflichtig gewesen wäre und die Beitragszeit von einem Jahr (faktisch) erfüllt hätte, hätte die IV-Stelle in einem weiteren Schritt abzuklären, ob der Gesundheitsschaden in der Schweiz eingetreten oder der Verfahrensbeteiligte bereits damit in die Schweiz eingereist ist. Neben den diesbezüglichen Erhebungen beim E und P – wo der Verfahrensbeteiligte jeweils hospitalisiert wurde – wären auch die Akten des Asylverfahrens beizuziehen, woraus sich ebenfalls Hinweise zur Beantwortung dieser Frage ergeben könnten (Entscheide des Bundesgerichts 8C_808/2007 vom 16. Mai 2008 und 9C_989/2008 vom 5. Februar 2009). Die Beschwerde ist daher in dem Sinne gutzuheissen, dass die Sache zu weiteren Abklärungen und anschliessender Neuverfügung mit einlässlicher Begründung an die IV-Stelle zurückgewiesen wird.

Entscheid vom 2. Dezember 2009

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