TVR 2010 Nr. 21
Beschwerde des BVG-Versicherers bei mangelhaften Abklärungen durch die Invalidenversicherung
Art. 17 ATSG, Art. 21 Abs. 4 ATSG, Art. 49 Abs. 4 ATSG, Art. 53 Abs. 2 ATSG
1. Praxisgemäss sind die Vorsorgeeinrichtungen im Bereich der gesetzlichen Mindestvorsorge an die Feststellungen der IV-Organe gebunden, soweit die IV-rechtliche Betrachtung aufgrund einer gesamthaften Prüfung der Akten nicht als offensichtlich unhaltbar erscheint. Dem BVG-Versicherer steht daher ein selbständiges Beschwerderecht im Verfahren nach IVG zu (E. 1.2).
2. Die IV-Stelle ist verpflichtet, weitere Abklärungen vorzunehmen, wenn sich eine Verbesserung der effektiven Auswirkungen der Behinderung nicht von vorneherein ausschliessen lässt. Sollte sich aufgrund der Abklärungen zudem zeigen, dass das ursprüngliche Gutachten durch invaliditätsfremde Faktoren oder Simulation beeinflusst wurde, wäre die ursprüngliche Rentenzusprache allenfalls als zweifellos unrichtig zu bezeichnen (E. 3.1).
3. Im Rahmen der grundsätzlichen Schadenminderungspflicht kann von der versicherten Person erwartet werden, dass sie sich in psychiatrischer und somatischer Hinsicht von einem Facharzt behandeln lässt, ihrer Dekonditionierung entgegen wirkt und sich aktiv an Massnahmen der Invalidenversicherung beteiligt (E. 3.2).
D meldete sich im März 2000 wegen Problemen mit der Bandscheibe bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Einholung der beruflichen und medizinischen Unterlagen liess ihn die IV-Stelle am M multidisziplinär abklären. Gestützt auf das Gutachten sprach sie D mit Verfügung vom 3. Juli 2002 eine ganze Rente ab dem 1. Februar 2000 zu. Mit Mitteilung vom 12. Juli 2005 wurde der Invaliditätsgrad bestätigt.
Am 19. Mai 2008 lud die IV-Stelle D zu einem persönlichen Standortgespräch ein, nachdem ihm die B AG eine Anstellung für Heimarbeit in Aussicht gestellt hatte. Zudem wurde ein Arztbericht von Dr. med. S eingeholt. Im Weiteren erfolgte eine Überwachung durch die A AG. Am 13. November 2009 gewährte die IV-Stelle D ein Belastbarkeitstraining und forderte ihn unter Androhung von Massnahmen zur Mitwirkung auf. Mit Verfügung vom 4. Februar 2010 wurde die Massnahme abgebrochen und mit Mitteilung vom gleichen Tag der unveränderte Invaliditätsgrad bestätigt. Mit Schreiben vom 12. Februar 2010 ersuchte die Pensionskasse der B AG um Erlass einer beschwerdefähigen Verfügung. In der Folge hielt die IV-Stelle mit Verfügung vom 6. Mai 2010 an der Ausrichtung der ganzen Rente fest. Dagegen erhob die Pensionskasse der B AG am 21. Mai 2010 Beschwerde und beantragte die Aufhebung der Verfügung und eine interdisziplinäre Begutachtung. Der Versicherte sei trotz seines Leidens nicht in psychiatrischer oder anderweitiger fachärztlicher Behandlung. Integrationsmassnahmen seien ohne ärztliche Unterlagen abgebrochen worden. Die Beschwerde wird vom Versicherungsgericht in dem Sinne gutgeheissen, dass die Verfügung aufgehoben und die Sache zu weiteren Abklärungen an die IV-Stelle zurückgewiesen wird.
Aus den Erwägungen:
1.2 Aus der engen Verbindung zwischen dem Recht auf eine Rente der Invalidenversicherung und demjenigen auf eine Invalidenleistung nach BVG ergibt sich, dass der Invaliditätsbegriff im obligatorischen Bereich der beruflichen Vorsorge und in der Invalidenversicherung grundsätzlich der gleiche ist (BGE 132 V 1). Praxisgemäss sind daher die Vorsorgeeinrichtungen im Bereich der gesetzlichen Mindestvorsorge (Art. 6 BVG) an die Feststellungen der IV-Organe (Eintritt der invalidisierenden Arbeitsunfähigkeit, Eröffnung der Wartezeit, Festsetzung des Invaliditätsgrades) gebunden, soweit die IV-rechtliche Betrachtung aufgrund einer gesamthaften Prüfung der Akten nicht als offensichtlich unhaltbar erscheint. Dem BVG-Versicherer steht somit ein selbständiges Beschwerderecht im Verfahren nach IVG zu (Art. 49 Abs. 4 ATSG).
(…)
3.1 Dem Beschwerdeführer wurde mit Verfügung vom 3. Juli 2002 mit Wirkung ab 1. Februar 2000 eine ganze Rente zugesprochen. Dabei stützte sich die IV-Stelle auf das Gutachten des M vom 18. Januar 2002. Aus dem Gutachten ist ersichtlich, dass der Beschwerdeführer neben den Rückenproblemen ein abnormes Krankheitsverhalten aufweist und sich auch bewusstseinsnahe Elemente wie Verdeutlichungstendenzen und Aggravation zeigten. Neben den rheumatologischen Befunden standen zudem auch eine Dekonditionierung und eine erhebliche Schmerzperzeption im Vordergrund. Auch anlässlich der EFL im Oktober 1999 wurde zudem explizit darauf hingewiesen, dass sich der Beschwerdeführer selber unter Angabe von Schmerzen limitiere, bevor die funktionelle Leistungsgrenze erreicht werde. Bei dieser Ausgangslage ist es jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass durch einen gewissen Zeitablauf oder geeignete Therapien und Schmerzbewältigungsmechanismen eine Erhöhung der Arbeitsfähigkeit - bei grundsätzlich gleich gebliebener Diagnose - erreicht werden kann. Diesbezügliche Abklärungen wurden von der IV-Stelle jedoch in keiner Weise getätigt, obwohl sogar der Hausarzt des Beschwerdeführers einen Versuch mit Heimarbeit als möglich ansah. Gerade auch aus den Observationsunterlagen der A AG vom 22. Juni 2009 zeigt sich zudem, dass der Beschwerdeführer offensichtlich zwischenzeitlich in der Lage ist, sich normal zu bewegen und Gegenstände ins Auto ein- und auszuladen, was zumindest darauf hindeutet, dass er bei alltäglichen Verrichtungen durch seine Rückenprobleme nicht mehr massgeblich eingeschränkt ist. Auch ist er offensichtlich in der Lage, die lange Autofahrt in seine Heimat mit seinem eigenen Personenwagen zurückzulegen und diesen auch selber zu lenken. Eine Verbesserung der effektiven Auswirkungen der Behinderung ist daher nicht von vorneherein zu verneinen. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen und die Sache zu weiteren medizinischen Erhebungen und allfällig zusätzlichen Massnahmen zur Ermittlung der effektiven Einschränkungen des Beschwerdeführers an die IV-Stelle zurückzuweisen. Dabei hat die IV-Stelle abzuklären, ob und in welchem Umfang der Beschwerdeführer aktuell in seiner Arbeitsfähigkeit tatsächlich eingeschränkt ist. Dabei sind möglichst objektive Anhaltspunkte zu ermitteln und es ist nicht bloss auf die eigenen Darstellungen des Beschwerdeführers über seine Leiden abzustellen. Sollte sich aufgrund der Abklärungen zudem zeigen, dass das Gutachten des M durch invaliditätsfremde Faktoren oder Simulation des Beschwerdeführers beeinflusst wurde, wäre die ursprüngliche Rentenzusprache allenfalls als zweifellos unrichtig zu beurteilen, was eine Wiedererwägung im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG zur Folge haben könnte, nachdem es im Übrigen auch klar einen Betrug darstellt, wenn während einer Begutachtung ausdrücklich und konkludent ein Gesundheitszustand vorgespielt wird, der so nicht besteht (Urteil des Bundesgerichts 6B_46/2010 vom 19. April 2010).
3.2 Zudem ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die versicherte Person eine grundsätzliche Schadenminderungspflicht trifft (Meyer, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2010, S. 30 ff.). Im zumutbaren Rahmen (vgl. dazu Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2009, Art. 21 N. 74 ff.) kann daher auch vom Beschwerdeführer erwartet werden, dass er sich in Bezug auf die psychiatrische und die somatische Komponente von einem Facharzt behandeln lässt, seiner Dekonditionierung entgegen wirkt und sich aktiv an Massnahmen der Invalidenversicherung (wie beispielsweise an einem Belastbarkeitstraining) beteiligt. In diesem Zusammenhang ist es vorliegend denn auch in keiner Weise nachvollziehbar, dass die IV-Stelle das zugesprochene Belastbarkeitstraining beendet hat, ohne abzuklären, ob das Verhalten des Beschwerdeführers medizinisch begründet war und ohne die angedrohten Sanktionen näher zu prüfen. Sollten die medizinischen Abklärungen daher aufzeigen, dass durch medizinische, therapeutische oder berufliche Massnahmen eine Verbesserung der Arbeitsfähigkeit erreicht werden kann, wäre ein Mahn- und Bedenkzeitverfahren nach Art. 21 Abs. 4 ATSG durchzuführen und dem Beschwerdeführer eine Leistungskürzung oder -verweigerung anzudrohen, falls er sich den entsprechenden Massnahmen widersetzt oder nicht aktiv daran teilnimmt. Im Übrigen ist aufgrund der Akten auch nicht klar, weshalb der von der B AG in Aussicht gestellte Heimarbeitsplatz nicht realisiert werden konnte. Hierzu findet sich lediglich die Bemerkung, dass der Beschwerdeführer dabei zu wenig kooperiert habe, was jedoch die Arbeitsstelle nicht aus objektiver Sicht als unzumutbar erscheinen lässt. Auch aus diesen Gründen lässt sich die Verfügung der IV-Stelle vom 6. Mai 2010 nicht halten.
Entscheid vom 1. September 2010