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TVR 2010 Nr. 26

Fehlende Zuständigkeit der IV-Stelle, Fristwiederherstellung, Rückwirkende Einstellung einer Invalidenrente wegen Meldepflichtverletzung


Art. 17 ATSG, Art. 41 ATSG, Art. 69 Abs. 1 lit a IVG, Art. 77 IVV, § 26 VRG, Art. 88 Abs. 2 lit. b bis IVV


1. Eine fehlende Zuständigkeit der IV-Stelle macht eine Verfügung praxisgemäss nicht nichtig. Unter den gegebenen Umständen hätten die Aufhebung der Verfügung und Überweisung der Sache an die IV-Stelle für Versicherte im Ausland allein aus prozessualen Gründen einen Leerlauf bedeutet (E. 1.1).

2. Der Umstand, dass der Postschalter geschlossen war, stellt keinen Grund dafür dar, eine letztmals erstreckte Frist noch weiter zu erstrecken. Für die Einhaltung einer letztmalig erstreckten Frist kann es auch nicht genügen, am letzten Tag ein (erneutes) Fristerstreckungsgesuch zu stellen (E. 1.3).

3. Eine Invalidenrente darf wegen Verletzung der Meldepflicht rückwirkend aufgehoben werden, wenn es sich aufgrund einer Überwachung gezeigt hat, dass der Versicherte im Ausland ein eigenes Lokal betreibt (E. 3.1 und 4.1).


Z, geboren 1953, arbeitete als Bauarbeiter/Maschinist. Im September 1996 meldete er sich wegen Rückenproblemen bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. In der Folge sprach ihm die IV-Stelle mit Verfügung vom 4. Dezember 1998 eine ganze Rente ab Mai 1997 zu. In der Zeit von Februar bis 21. Mai 2009 führte das Büro für Schadenermittlung für die B-Versicherungen Ermittlungen und Überwachungen in Mazedonien durch, wo Z nunmehr lebt. Gestützt auf dessen Bericht sowie diverse Videoaufnahmen stellte die IV-Stelle des Kantons Thurgau die Rente mit Verfügung vom 25. Januar 2010 per 31. Juli 1999 rückwirkend ein. Dagegen erhob Z am 20. Februar 2010 beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde, welche am 9. März 2010 ans Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau als Versicherungsgericht überwiesen wurde.
In der Folge forderte der Vizepräsident des Versicherungsgerichts die IV-Stelle auf, sich zur Frage der örtlichen Zuständigkeit zu äussern, nachdem Z Wohnsitz in Mazedonien hat. In der Stellungnahme vom 10. Mai 2010 führte die IV-Stelle aus, dass auf die Beschwerde trotz des formellen Mangels eingetreten werden könne. Zu diesem Schluss komme auch die Invalidenversicherungs-Stelle für Versicherte im Ausland IVSTA in ihrem Schreiben vom 6. Mai 2010.
Am 27. Mai 2010 teilte RA S dem Gericht mit, dass er die Interessenwahrung von Z übernommen habe. Er ersuche um Frist für eine Stellungnahme und verzichte auf eine mündliche Verhandlung, falls ein weiterer Schriftenwechsel zugelassen werde. In der Folge liess Z am 15. Juli 2010 (datiert vom 14. Juli 2010) seine Stellungnahme (verspätet) einreichen und beantragen, die Verfügung vom 10. Dezember 2009 (recte 25. Januar 2010) sei ersatzlos aufzuheben, eventuell sei die Sache zur weiteren Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem verlangte er am 23. August 2010, dass sein Fristrestitutionsbegehren vom 14. Juli 2010 gutzuheissen sei. Das Restitutionsbegehren wird vom Versicherungsgericht abgewiesen und die Beschwerde teilweise gutgeheissen.

Aus den Erwägungen:

1.
1.1 Die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts als Versicherungsgericht ergibt sich grundsätzlich aus Art. 57 ATSG und Art. 69 Abs. 1 lit. a IVG i.V. mit § 69a Abs. 1 Ziff. 1 VRG. Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer Wohnsitz in Mazedonien. Zur Einstellung der Invalidenrente wäre daher die IV-Stelle für Versicherte im Ausland zuständig gewesen. Dieser Umstand macht die Verfügung jedoch praxisgemäss nicht nichtig. Die fehlende Zuständigkeit wurde vom Beschwerdeführer denn auch nicht gerügt. Eine Aufhebung der Verfügung und Überweisung an die IV-Stelle für Versicherte im Ausland würde zudem einen prozessualen Leerlauf darstellen. Wenn die IV-Stelle des Kantons Thurgau verfügt hat, ist folglich das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau als Versicherungsgericht für die Behandlung der Beschwerde zuständig (Art. 69 Abs. 1 lit. a IVG). (…) Die Beschwerdeerhebung am 24. Februar 2010 (Poststempel) ist rechtzeitig erfolgt. Verspätet ist hingegen die Replik von RA S vom 14. Juli 2010, welche am 15. Juli 2010 beim Gericht persönlich abgegeben wurde, nachdem ihm am 7. Juli 2010 eine letztmalige Fristerstreckung bis am 14. Juli 2010 bewilligt wurde. Die Replik ist daher unbeachtlich, soweit deren Inhalt nicht im Rahmen der Offizialmaxime vom Gericht zu berücksichtigen ist.

1.2 (…)

1.3 Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers war am 7. Juli 2010 die Fristerstreckung bis 14. Juli 2010 unmissverständlich als letztmalig bewilligt worden. Dies wird von ihm in seiner Eingabe vom 23. August 2010 auch nicht bestritten, sondern lediglich ausgeführt, dass dies von ihm übersehen worden sei. Eine letztmals erstreckte Frist kann nicht mehr weiter erstreckt werden. Eine Ausnahmesituation, davon abzuweichen, ist nicht ersichtlich. Bloss der Umstand, dass der Postschalter in W am 14. Juli 2010 bereits geschlossen war, kann sicher nicht als zureichender Anlass betrachtet werden, eine letztmals erstreckte Frist noch weiter zu erstrecken. Vielmehr hätte der Beschwerdeführer respektive sein Rechtsvertreter besorgt sein müssen, sich entweder rechtzeitig bei der Post in W vor Schalterschluss einzufinden oder danach eine Poststelle aufzusuchen, die noch geöffnet hat respektive auf andere Weise sicherzustellen, dass die Frist eingehalten wurde. Sicher kann es für die Fristeinhaltung nicht genügen, lediglich per Telefax um 18.14 Uhr am letzten Tag der letztmalig erstreckten Frist ein Fristerstreckungsgesuch zu stellen. Ebenso wenig bestehen Gründe, die es rechtfertigen würden, die Frist nachträglich wieder herzustellen. Das Übersehen des klaren Vermerks, dass die Frist letztmalig erstreckt wurde, wie auch das Nichtbeachten der Postöffnungszeiten in W stellen keine entschuldbaren Gründe dar, die Frist im Sinne von § 26 VRG respektive gemäss Art. 41 ATSG wieder herzustellen. Das Fristrestitutionsgesuch ist daher abzuweisen. (…)

2. (…)

3.
3.1 Aufgrund der eindeutigen Überwachung in Mazedonien hat sich gezeigt, dass der Beschwerdeführer in P das Lokal M betreibt. Diese Überwachung war gemäss Urteil 8C_239/2008 vom 17. Dezember 2009 zulässig und deren Verwertbarkeit wurde weder vom Beschwerdeführer noch von dessen Rechtsvertreter selbst in der verspätet eingereichten Eingabe vom 14. Juli 2010 in Frage gestellt. In seinem Lokal bewirtet er die Gäste teilweise selber und bereitet auch das Essen zu. Der Beschwerdeführer selber bestreitet denn auch nicht, dass er eine Club-Bar betreibt, welche offensichtlich den ganzen Tag und bis spät in die Nacht geöffnet hat. Über die Eröffnung seines Lokals hat der Beschwerdeführer die IV-Stelle jedoch in keiner Weise informiert. Dadurch hat er klar und gezielt seine Meldepflicht nach Art. 77 IVV verletzt. Dies wiegt umso schwerer, nachdem der Beschwerdeführer damit rechnen konnte, dass die Invalidenversicherung nach seinem Wegzug nach Mazedonien nichts über seine Aufnahme einer Erwerbstätigkeit - wozu die Führung einer Gastwirtschaft eindeutig zu zählen ist - erfahren würde. Durch sein Verhalten hat der Beschwerdeführer zudem nachgewiesen, dass er trotz allfälligen anderslautenden Arztberichten ohne weiteres in der Lage ist, einer leichten Tätigkeit nachzugehen. Er führt dazu selber aus, dass es für einen Rückenpatienten am Besten sei, wenn er sich in wechselnder Haltung bewege. Dafür ist die von ihm aufgenommene Tätigkeit offensichtlich bestens geeignet. Schwere körperliche Arbeiten, wie beispielsweise das Tragen von Getränkeharassen, wären von ihm im Übrigen auch in der Schweiz im Rahmen einer leichten, wechselbelastenden Tätigkeit nicht verlangt worden. Auch in der vom RAD-Arzt am 4. Dezember 2009 vorgenommenen und gemäss Urteil des Bundesgerichts 9C_323/2009 vom 14. Juli 2009 (= SVR 2009 IV Nr. 56) auch ohne eigene Untersuchung aussagekräftigen Beurteilung wird festgehalten, dass der Beschwerdeführer für rückenangepasste Tätigkeiten voll arbeitsfähig sei. Daher kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass es ihm auch in der Schweiz zumutbar wäre, einer leichten Tätigkeit - wie er sie nunmehr ausführt - nachzugehen. Durch den erbrachten Beweis der Arbeitsfähigkeit erübrigen sich denn auch weitere medizinische Abklärungen theoretischer Natur (vgl. dazu Entscheid des Bundesgerichts 9C_570/2008 vom 23. April 2009). Ausserhalb seines Arbeitsalltags vermag sich der Beschwerdeführer offensichtlich ebenfalls problemlos zu bewegen, wie die verschiedenen DVD aufzeigen. Zudem führte er gegenüber den Überwachungspersonen aus, dass ihm die Arbeit in der Schweiz als Baggerfahrer zu anstrengend gewesen sei. Das Gerüttel des Baggers und der Gestank von Diesel den ganzen Tag hätten ihm gereicht. Seit er sich jedoch in seinem Dorf aufhalte, gehe es ihm gut. Er schätze das Leben hier im Dorf und in der herrlichen guten frischen Luft, wo er den Morgen in der Natur beim Spazierengehen geniesse.

3.2 (…)

4.1 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer klar die Meldepflicht verletzt hat, indem er die Eröffnung seines Lokals der IV-Stelle nicht gemeldet hat. Zudem hat er den Tatbeweis erbracht, dass er entgegen den früheren ärztlichen Einschätzungen nunmehr ohne weiteres in der Lage ist, einer leichten Erwerbstätigkeit nachzugehen. Aufgrund der Überwachungsunterlagen lässt sich hingegen nicht beantworten, wann das Lokal eröffnet worden ist oder seit wann der Beschwerdeführer selber dort arbeitet. Im April 2009 konnte dieser Umstand erstmals durch die Ermittler selber festgestellt und beobachtet werden. Zu Gunsten des Beschwerdeführers sind die Meldepflichtverletzung und der Nachweis der Arbeitsfähigkeit daher auf diesen Zeitpunkt festzulegen. Unter Beachtung von Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV ist die Rente daher per Ende April 2009 rückwirkend aufzuheben. In diesem Sinne ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen, im Übrigen jedoch abzuweisen.

Entscheid vom 29. September 2010

Das Bundesgericht hat die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid 9C_891/2010 vom 31. Dezember 2010 vollumfänglich abgewiesen.

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