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TVR 2011 Nr. 25

Rückforderung von Kurzarbeitsentschädigung, Vertrauensschutz


Art. 25 ATSG


Die Frage des Vertrauensschutzes ist nicht erst im Erlassverfahren, sondern bereits bei der Rückforderung der Leistungen zu prüfen. Im vorliegenden Fall hätte die Arbeitslosenkasse die arbeitgeberähnliche Stellung der betreffenden Mitarbeiter aus dem Handelsregister entnehmen können. Die Rückforderung der ausgerichteten Kurzarbeitsentschädigung verstösst daher gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes.


Die A GmbH mit Sitz in P meldete am 24. März 2009 beim Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau (nachfolgend „AWA“) Kurzarbeit an und ersuchte um Kurzarbeitsentschädigungen für ihre Arbeitnehmer E und K. Dabei wies die A GmbH darauf hin, dass beide Arbeitnehmer mit je 5% als Gesellschafter an der Firma beteiligt seien. Ihre Zeichnungsberechtigung sei kollektiv, jedoch nur zusammen mit X, welcher 90% der Stammanteile innehabe. Die wichtigen Entscheidungen liefen ausschliesslich über X. Das AWA erhob am 30. März 2009 teilweisen Einspruch und hielt fest, die Arbeitslosenkasse des Kantons Thurgau könne ab 6. April 2009 Kurzarbeitsentschädigungen ausrichten, sofern die übrigen Voraussetzungen erfüllt seien. Für deren Prüfung sei die Arbeitslosenkasse zuständig. Diese Verfügung enthielt einen fett gedruckten allgemeinen Hinweis, dass Personen, welche die Entscheidungen des Arbeitgebers massgeblich beeinflussen könnten, keinen Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung hätten.
In der Folge zahlte die Arbeitslosenkasse der A GmbH mit Leistungsverfügungen für die Monate April 2009 bis August 2010 Kurzarbeitsentschädigungen von insgesamt Fr. 97'114.90 aus. Die letzten Auszahlungen nahm die Arbeitslosenkasse am 8. September 2010 vor.
Mit Verfügung vom 8. Oktober 2010 forderte die Arbeitslosenkasse die geleistete Kurzarbeitsentschädigung von Fr. 97'114.90 von der A GmbH zurück. Die Arbeitslosenkasse habe festgestellt, dass K und E als Gesellschafter und Geschäftsführer im Handelsregister eingetragen seien, was den Entschädigungsanspruch ohne weiteres ausschliesse.
Die A GmbH erhob am 3. November 2011 Einsprache, welche die Arbeitslosenkasse mit Entscheid vom 25. Februar 2011 insofern teilweise guthiess, als der Rückforderungsanspruch (infolge teilweiser Verjährung desselben) auf Fr. 54'763.65 reduziert wurde. Im Übrigen hielt die Arbeitslosenkasse an der Rückforderung fest. Eine dagegen erhobene Beschwerde heisst das Versicherungsgericht gut.

Aus den Erwägungen:

2.
2.1 Die Beschwerdegegnerin stützt den von ihr geltend gemachten Rückforderungsanspruch auf Art. 25 Abs. 1 ATSG, wonach unrechtmässig bezogene Leistungen zurückzuerstatten sind. (…)

2.2 und 2.3 (Frage offen gelassen, ob es zweifellos unrichtig war, dass der Beschwerdeführerin für die geschäftsführenden Gesellschafter K und E Kurzarbeitsentschädigungen ausbezahlt wurden, nachdem der von der Beschwerdeführerin angerufene Grundsatz des Vertrauensschutzes einer Rückforderung entgegensteht [nachfolgend E. 3])

3.
3.1 Die Beschwerdeführerin bringt vor, sie habe auf die Beständigkeit der hinterher umgestossenen Leistungsverfügungen vertraut und sei in ihrem berechtigten Vertrauen zu schützen. Die Beschwerdegegnerin vertritt hingegen die Auffassung, es seien nicht alle Kriterien des Vertrauensschutzes erfüllt und diese Frage sei ohnehin erst in einem allfälligen Erlassverfahren zu klären.

3.2 Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen nach Treu und Glauben behandelt zu werden (Art. 9 BV). Dieser Grundsatz verleiht den Privaten Anspruch auf Schutz ihres berechtigten Vertrauens in das bestimmte Erwartungen begründende Verhalten der Behörden. Auf den Vertrauensschutz berufen kann sich, wer von einer Vertrauensgrundlage Kenntnis hatte, deren Fehlerhaftigkeit er nicht kannte oder hätte kennen müssen, und der gestützt auf dieses Vertrauen eine Disposition getätigt hat, die sich nicht ohne Nachteil wieder rückgängig machen lässt. Eine Interessenabwägung im Einzelfall bleibt dabei stets vorbehalten (vgl. Häfelin/Müller/Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2006, N. 631 ff.).

3.2.1 Der Grundsatz des Vertrauensschutzes gebietet es, auf eine Rückforderung zu verzichten, wenn die versicherte Person aufgrund des Verhaltens des Versicherungsträgers davon ausgehen darf, der Leistungsbezug erfolge rechtmässig (Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2009, Art. 25 N. 16, mit Hinweis auf BGE 118 V 214 E. 3). Der Einwand der Beschwerdegegnerin, diese Prüfung sei erst im Erlassverfahren vorzunehmen, geht insbesondere in der vorliegenden Situation, wo letztlich die Kurzarbeitsentschädigungen nicht primär der Beschwerdeführerin, sondern den von ihr beschäftigten beiden Arbeitnehmern, an welche sie ausbezahlt wurden, zugute kamen, fehl. Im Übrigen hat das Bundesgericht im von der Beschwerdegegnerin in diesem Kontext zitierten Entscheid die Frage des Vertrauensschutzes sehr wohl geprüft, dessen Voraussetzungen aber für nicht erfüllt betrachtet (BGE 122 V 270 E. 4). Daraus kann im Umkehrschluss gefolgert werden, dass die Kriterien des Vertrauensschutzes praxisgemäss bereits beim Entscheid über die Rückforderung zu prüfen sind. Auch dass die Beschwerdegegnerin eine Wiedererwägung vorgenommen hat, spricht nicht gegen eine Berufung auf den Vertrauensgrundsatz. Den anderslautenden Ausführungen von Kieser (a.a.O., Art. 53 N. 38) kann nicht gefolgt werden, wobei anzumerken ist, dass der dort zitierte Entscheid des Eidgenössischen Versicherungsgerichts eine Korrektur für die Zukunft betraf, nicht aber - wie in vorliegendem Fall - eine rückwirkende Korrektur zum Gegenstand hatte (SVR 2004 IV Nr. 23, E. 4.2)

3.2.2 Die Beschwerdeführerin hat bereits anlässlich der Voranmeldung von Kurzarbeit am 24. März 2009 schriftlich darauf hingewiesen, dass die betroffenen Mitarbeiter „mit je 5% als Gesellschafter an der Firma beteiligt“ seien. Nach diesem ausdrücklichen Hinweis durfte die Beschwerdeführerin aufgrund der leistungszusprechenden Entscheide der Beschwerdegegnerin in den folgenden Monaten darauf vertrauen, dass die Behörde eine Prüfung der Einflussmöglichkeiten der betroffenen Mitarbeiter vorgenommen hatte und gestützt darauf zum Ergebnis gekommen war, dass eine Anspruchsberechtigung bestehe. Dass die Beschwerdeführerin lediglich auf die Gesellschaftereigenschaft und die Zeichnungsberechtigung, dagegen nicht noch zusätzlich auf die Geschäftsführerstellung der betroffenen Arbeitnehmer hingewiesen hat, kann ihr nicht vorgehalten werden. Die Beschwerdegegnerin hätte die Geschäftsführerstellung ohne weiteres dem - mit Publizitätswirkung ausgestatteten - Handelsregister entnehmen können, das auch für sie massgebend ist (vgl. das Urteil des Bundesgerichts 8C_719/2009 vom 10. Februar 2010, E. 4).

3.2.3 Die Beschwerdegegnerin bringt vor, die Unrichtigkeit der Leistungsausrichtung sei für die Beschwerdeführerin ohne weiteres erkennbar gewesen. Dabei verkennt die Beschwerdegegnerin jedoch, dass weder Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG noch der Hinweis in der Verfügung des AWA vom 30. März 2009 mit hinreichender Klarheit zum Ausdruck bringen, dass geschäftsführende Gesellschafter einer GmbH prinzipiell keinen Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung haben sollen. Hingewiesen wurde die Beschwerdeführerin einzig auf den Ausschluss von Personen, welche die Entscheidungen des Arbeitgebers massgeblich beeinflussen können. Daraus musste die Beschwerdeführerin nicht den Schluss ziehen, dass die Leistungsausrichtung unrichtig war, zumal sie ja vorgängig ihren Standpunkt, dass die wichtigen Entscheidungen nur via X liefen, klar zum Ausdruck gebracht hatte. Das Studium von Kreisschreiben des Seco stellt überdies keine Pflicht der Antragstellerin dar. Im Gegenteil wäre der über die Anspruchsberechtigung entscheidenden Arbeitslosenkasse (Art. 39 Abs. 1 AVIG) gegenüber der versicherten Person eine Aufklärungspflicht zugekommen (Art. 27 Abs. 1 ATSG).

3.2.4 Die Beschwerdeführerin führt aus, dass sie gestützt auf ihr Vertrauen Dispositionen getätigt habe, welche sie nicht ohne Nachteil wieder rückgängig machen könne. Die diesbezüglichen Ausführungen der Beschwerdeführerin sind nachvollziehbar. Die Kurzarbeit bezweckt eine Produktionsdrosselung und Kosteneinsparung bei gleichzeitiger Erhaltung der Arbeitsplätze (BGE 123 V 234 E. 7). Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass die Beschwerdeführerin als Folge der wegen der Wirtschaftskrise drastisch reduzierten Produktion zumindest einen der betroffenen Arbeitnehmer entlassen hätte, wenn die Beschwerdegegnerin den Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung nicht als gegeben erachtet hätte. Die Beschwerdeführerin hat dies nicht getan, weil sie sich in guten Treuen darauf verlassen hat, dass die Beschwerdegegnerin die Anspruchsberechtigung der betroffenen Arbeitnehmer geprüft hatte und nicht auf ihre Entscheide zurückkommen würde. Diese Vertrauensbestätigung lässt sich heute nicht mehr ohne erhebliche Nachteile rückgängig machen. Von der Beschwerdegegnerin wird auch nicht geltend gemacht, dass es sich bei den beiden Arbeitnehmern, für welche Kurzarbeitsentschädigungen zur Auszahlung gelangten, um Personen gehandelt habe, die von der Beschwerdeführerin kaum entlassen worden wären, falls die Kurzarbeitsentschädigungen nicht gewährt worden wären. Etwas derartiges ist auch aktenmässig nicht erkennbar. Damit unterscheidet sich aber der vorliegende Sachverhalt doch klar von jenem, der dem Entscheid BGE 122 V 270 zugrunde lag. Dort waren es familiäre Bande und eine Stellung im Unternehmen der entsprechenden Person, für welche unrechtmässig Kurzarbeitsentschädigung erwirkt worden war, die klar dagegen sprachen, dass jene Person ohne Zuspruch der Kurzarbeitsentschädigung entlassen worden wäre (BGE 122 V 270 E. 4).

3.2.5 Selbst wenn die Voraussetzungen des Vertrauensschutzes erfüllt sind, können sich Private nicht darauf berufen, falls ein überwiegendes öffentliches Interesse entgegensteht (Häfelin/Müller/Uhlmann, a.a.O., N. 665 ff.). Die Prinzipien des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit sprechen vorliegend stark dafür, die Beschwerdegegnerin an ihre ursprünglichen leistungszusprechenden Entscheide zu binden. Erheblich ins Gewicht fällt zudem das private Interesse der Beschwerdeführerin, für die eine Rückforderung erhebliche Folgen hätte. Dabei ist - wie bereits angeführt - zu berücksichtigen, dass letztlich nicht die Beschwerdeführerin, sondern die von ihr beschäftigten beiden Arbeitnehmer in den Genuss der Kurzarbeitsentschädigung kamen und somit die beiden Arbeitnehmer auch nicht erwerbslos geworden waren. Dieses Interesse überwiegt vorliegend das entgegenstehende Interesse an der richtigen Rechtsanwendung und der damit verbundenen Rückerstattung der Kurzarbeitsentschädigung.

Entscheid vom 31. August 2011

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