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TVR 2013 Nr. 1

Diskriminierungsverbot; Einbürgerung einer geistig Behinderten; Beschwerdelegitimation der Gemeinde.


Art. 8 Abs. 2 BV, § 6 KBüG, § 44 Ziff. 1 VRG


1. Die Gemeinde ist berechtigt, einen Rekursentscheid, mit dem ein ablehnender Einbürgerungsentscheid aufgehoben wird, anzufechten (E.1).

2. Der Einbürgerungswille von geistig Behinderten ist anhand der äusseren Umstände zu ermitteln. Die Verweigerung der Einbürgerung wegen fehlendem Einbürgerungswillen ist diskriminierend (E. 2).


Y ist serbische Staatsangehörige und geistig behindert. Im Juli 2009 stellten ihre Eltern beim Amt für Handelsregister und Zivilstandswesen ein Gesuch um eidgenössische Einbürgerung und damit um die Schweizerische Staatsbürgerschaft. Bei einem Gespräch mit den zuständigen kommunalen Behörden wurde festgestellt, dass Y zwar deutsch und albanisch versteht, sich jedoch nur mit Hilfe eines speziellen Computers oder in Gebärdensprache äussern kann und ein sehr tiefes Bildungsniveau aufweist. Der Stadtrat M beschloss daher, das Einbürgerungsgesuch nicht zu unterstützen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, Y habe keinen eigenen Willen zur Erlangung des Schweizer Bürgerrechts. Die Gemeindeversammlung der Stadt M entschied, das Einbürgerungsgesuch gemäss der Empfehlung des Stadtrates abzulehnen. Gegen diesen Entscheid liess Y, vertreten durch ihre Schwester und Vormundin V, beim DJS Rekurs erheben, der gutgeheissen wurde. Gegen diesen Entscheid erhob die Stadt M beim Verwaltungsgericht Beschwerde. Diese weist das Verwaltungsgericht ab.

Aus den Erwägungen:

1. Eine Gemeinde ist nach § 44 Ziff. 1 VRG zur Erhebung eines Rechtsmittels berechtigt, wenn sie von einem Entscheid berührt ist und die Verletzung schutzwürdiger Interessen glaubhaft geltend macht. Ein schutzwürdiges Interesse der Gemeinde liegt dann vor, wenn der angefochtene Entscheid entweder den Bereich kommunaler Rechtsetzung oder kommunaler Selbstverwaltung betrifft, soweit das kantonale Recht keine abschliessenden Regelungen enthält und den Gemeinden eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit, eine qualifizierte Eigenständigkeit belässt (TVR 2008 Nr. 8, E. 1b/bb, TVR 1998 Nr. 95, E. 2a). Der Entscheid der Gemeindeversammlung, das Gemeindebürgerrecht nicht zu erteilen, betrifft einen ursprünglichen Bereich der kommunalen Selbstverwaltung. Die Beschwerdeführerin ist demnach zur Rechtsmittelerhebung legitimiert.

2.
2.1 Laut Art. 14 BüG ist vor der Erteilung der Einbürgerungsbewilligung zu prüfen, ob der Bewerber zur Einbürgerung geeignet ist, insbesondere, ob er in die schweizerischen Verhältnisse eingegliedert ist, mit den schweizerischen Lebensgewohnheiten, Sitten und Gebräuchen vertraut ist, die schweizerische Rechtsordnung beachtet und die innere oder äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährdet. Diese Voraussetzungen sind vom Bundesamt für Migration geprüft worden und es hat die eidgenössische Einbürgerungsbewilligung erteilt.

2.2 Nach § 6 Abs. 1 KBüG setzt die Einbürgerung eines Ausländers voraus, dass der Bewerber hierzu geeignet ist. Vor der Erteilung des Bürgerrechts ist durch die zuständige Gemeindebehörde insbesondere zu prüfen, ob der Bewerber in die örtlichen, kantonalen und schweizerischen Verhältnisse eingegliedert ist, mit den Lebensgewohnheiten, Sitten und Gebräuchen des Landes vertraut ist, die Rechtsordnung beachtet und die innere und äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährdet sowie über eine ausreichende Existenzgrundlage verfügt.
Das Verwaltungsgericht hat in früheren Entscheiden ausgeführt, grundsätzlich bestehe kein Anspruch auf Einbürgerung (TVR 2000 Nr. 2, TVR 2003 Nr. 1). Der entsprechende Entscheid der Gemeindebehörde darf aber nicht diskriminierend sein. Zudem muss das Vorverfahren in Bezug auf die Abklärungen willkürfrei durchgeführt werden. Diese Voraussetzungen mit Bezug auf das Vorverfahren sind vorliegend - wie die Vorinstanz zu Recht festgestellt hat - erfüllt. Zu prüfen ist allerdings, ob der Entscheid gegen das in Art. 8 Abs. 2 BV statuierte Diskriminierungsverbot verstösst.

2.3 Gemäss Art. 8 Abs. 2 BV darf niemand diskriminiert werden, namentlich nicht wegen seiner Herkunft und der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Eine Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person ungleich behandelt wird, allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, welche historisch oder in der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit tendenziell ausgegrenzt oder als minderwertig behandelt wird. Eine Diskriminierung stellt eine qualifizierte Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren Situationen dar, indem sie eine Benachteiligung von Menschen bewirkt, die als Herabwürdigung oder Ausgrenzung einzustufen ist, weil sie an Unterscheidungsmerkmalen anknüpft, die einen wesentlichen und nicht oder nur schwer aufgebbaren Bestandteil der Identität der betroffenen Person ausmachen; insofern beschlägt das Diskriminierungsverbot auch Aspekte der Menschenwürde nach Art. 7 BV. Das Diskriminierungsverbot gemäss Art. 8 Abs. 2 BV schliesst indes die Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal wie beispielsweise Herkunft, Rasse, Geschlecht, soziale Stellung oder religiöse Überzeugung nicht absolut aus. Eine solche begründet zunächst lediglich den blossen Verdacht einer unzulässigen Differenzierung. Diese kann indes durch eine qualifizierte Rechtfertigung umgestossen werden. Eine indirekte oder mittelbare Diskriminierung liegt demgegenüber vor, wenn eine Regelung, die keine offensichtliche Benachteiligung von spezifisch gegen Diskriminierung geschützten Gruppen enthält, in ihren tatsächlichen Auswirkungen Angehörige einer solchen Gruppe besonders benachteiligt, ohne dass dies sachlich begründet wäre (BGE 126 II 377 E. 6; 135 I 49 E. 3; 132 I 49 E. 8.1).
Die Bestimmung von Art. 8 Abs. 2 BV verbietet, wie dargelegt, Diskriminierungen namentlich auch wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Dieser Katalog von verpönten Anknüpfungspunkten ist nicht abschliessend, wie sich aus der „namentlichen“ Aufzählung ergibt und in der Lehre unbestritten ist. Die Verfassungsbestimmung fällt allgemein in Betracht, wenn eine mehr oder weniger bestimmbare Gruppe von gesellschaftlicher Herabwürdigung und Abwertung oder Ausgrenzung nach stereotypen Vorurteilen bedroht ist. Die Konturen betreffend die Anwendbarkeit des Diskriminierungsverbotes sind in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bisher nur in Ansätzen umschrieben worden. Gleichermassen findet sich in der Doktrin bisher keine einhellige Auffassung über die wesentlichen Elemente, Anknüpfungspunkte und Hintergründe des direkten oder indirekten Diskriminierungsverbotes. Von einer indirekten oder mittelbaren Diskriminierung wird etwa gesprochen, wenn ein Rechtsakt nicht der Form nach, sondern aufgrund der Auswirkung für eine bestimmte geschützte Personengruppe eine qualifizierte rechtsungleiche Schlechterstellung zur Folge haben kann. Gleichermassen wird eine solche angenommen, wenn eine Norm neutrale Differenzierungen aufweist und besonders geschützte Personengruppen in spezifischer Weise rechtsungleich trifft oder aber wenn mangels erforderlicher Differenzierung eine des Schutzes bedürftige Gruppe besonders benachteiligt wird (BGE 135 I 49 E. 4.3).

2.4 Die Beschwerdeführerin hat die Einbürgerung mit der Begründung verweigert, es fehle am Einbürgerungswillen bzw. dieser sei überhaupt nicht eruierbar. Werde das Einbürgerungsgesuch gutgeheissen, so führe dies mit Bezug auf behinderte Personen zu einem unzulässigen Automatismus.
Folgte man der Argumentation der Beschwerdeführerin, führte dies aber zur Situation, dass behinderte Menschen, denen die intellektuelle Fähigkeit fehlt, den eigenen Willen genügend klar auszudrücken, gar nie eingebürgert werden könnten. Dies ist aber offensichtlich nicht der Wille des Gesetzgebers, denn ansonsten könnten Kleinkinder überhaupt nie eingebürgert werden. § 9 KBüG sieht aber z. B. die Einbürgerung von unmündigen Kindern eines Bewerbers - unabhängig vom Alter des Kindes - ausdrücklich vor. Auch § 8 Abs. 1 KBüG sieht die Möglichkeit vor, dass Entmündigte durch ihren gesetzlichen Vertreter das Gesuch um selbständige Einbürgerung stellen können. Von einem Entmündigten kann aber gar nicht immer ein eigener Willen eruiert werden. Sowohl das KBüG als auch das BüG (Art. 34 BüG) sehen die Einbürgerung von Unmündigen, nicht Urteilsfähigen offensichtlich vor bzw. schliessen sie nicht aus.
Die Vorinstanz hat zu Recht ausgeführt, dass in solchen Fällen auf den mutmasslichen Willen des urteilsunfähigen Bewerbers abzustellen ist. Da die Verfahrensbeteiligte seit ihrem fünften Altersjahr in der Schweiz lebt und unter der Woche im Ekkarthof untergebracht ist, ist sie offensichtlich - soweit ihr dies möglich ist - mit den schweizerischen Verhältnissen vertraut. Sie versteht offenbar Schweizerdeutsch und Hochdeutsch und kann sich mittels eines speziellen Computers auch in diesen Sprachen äussern. Zwar haben ihre Eltern selbst kein Gesuch um Einbürgerung gestellt. Wäre die Verfahrensbeteiligte noch unmündig, so wäre das Verhalten der Eltern in der Tat als entscheidrelevant anzusehen, weil § 9 KBüG statuiert, dass unmündige Kinder in der Regel mit ihren Eltern einzubürgern sind. Nachdem die verfahrensbeteiligte Gesuchstellerin aber in der Zwischenzeit und noch vor dem Entscheid der Gemeinde volljährig geworden ist und ihre Schwester, die bereits in der Schweiz eingebürgert ist (ebenso wie ihr Bruder), das Gesuch befürwortet, ist davon auszugehen, dass auch die Verfahrensbeteiligte selbst, wäre sie urteilsfähig, mit einiger Wahrscheinlichkeit nach Erlangen der Volljährigkeit ein Einbürgerungsgesuch gestellt hätte. Gegenteilige Indizien liegen nicht vor. Die Schwester der verfahrensbeteiligten Gesuchstellerin, die auch die Vormundschaft übernommen hat, übernimmt die Verantwortung für ihr Mündel. Insofern hängt der Wille des Mündels auch vom Willen der Vormundin ab. Letztere hat sich deutlich dahin gehend geäussert, dass sie das Einbürgerungsgesuch befürwortet. Unter diesen Umständen darf die Tatsache, dass eine behinderte Person keinen eigenen Willen bilden kann, nicht zur Verweigerung der Einbürgerung führen. Vielmehr tritt an die Stelle des Willens der Gesuchstellerin derjenige des gesetzlichen Vertreters (§ 9 KBüG) bzw. des Vormundes (§ 8 Abs. 1 KBüG) zusammen mit dem mutmasslichen Willen der Gesuchstellerin, der lediglich aufgrund der äusseren Umstände eruiert werden kann. Vorliegend sprechen sowohl die Umstände/Indizien als auch der Wille der Vormundin dafür, dass bei der Verfahrensbeteiligten der Wille zur Einbürgerung vorhanden ist. Dementsprechend hätte der Stadtrat M das Einbürgerungsgesuch zur Annahme empfehlen müssen (vgl. hierzu TVR 2000 Nr. 2). Die Beschwerde ist daher abzuweisen und die Sache wird demnach im Sinne der Erwägungen und in Übereinstimmung mit dem vorinstanzlichen Entscheid an die Stadt M zurückgewiesen, damit sie noch einmal über das Einbürgerungsgesuch im Sinne der Erwägungen entscheide.

Entscheid VG.2012.71/E vom 5. September 2012

Eine gegen diesen Entscheid beim Bundesgericht erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wurde mit Urteil 1D_2/2012 vom 13. Mai 2013 abgewiesen.

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