TVR 2013 Nr. 19
Anleingebot für das Ausführen mehrerer Hunde
Rudelverhalten von Hunden. Ein Anleingebot für den Fall, dass eine - auch zertifizierte - Hundehalterin drei oder vier Hunde gleichzeitig ausführt, ist verhältnismässig. Im konkreten Fall ist dagegen ein Anleingebot, soweit es auch für das Ausführen von lediglich einem oder zwei Hunden angeordnet wurde, nicht erforderlich und damit unverhältnismässig.
C, Gemeindeammann der Politischen Gemeinde X, war am 19. Juni 2011 entlang der Thur auf dem Fahrrad unterwegs. Dort spazierte gleichzeitig H mit mehreren, nicht angeleinten Hunden. Gemäss Darstellung von C kamen plötzlich ca. zehn Hunde bellend auf ihn zugerannt und verfolgten ihn etwa 100 m weit. H sei nicht in der Lage gewesen, die Hunde zurückzurufen. H bestreitet das Zusammentreffen mit C zwar nicht, macht allerdings geltend, sie habe nur fünf Hunde ausgeführt. Ein einziger Hund sei schwanzwedelnd zur Begrüssung auf den velofahrenden Gemeindeammann zugerannt und ihm - immer noch freudig schwanzwedelnd - eine kurze Distanz nachgelaufen. Eine Bedrohungs- oder Gefährdungssituation habe, so H, nicht bestanden.
In der Folge erliess der Gemeinderat der Politischen Gemeinde X, unter vorgängiger Gewährung des rechtlichen Gehörs und unter Ausstandswahrung von C, am 12. September 2011 gegenüber H einen Entscheid, wonach (1.) diese verpflichtet werde, ihre Hunde im öffentlich zugänglichen Raum an der Leine zu führen, (2.) pro Person nur noch maximal 4 Hunde gleichzeitig ausgeführt werden dürften und (3.) im Falle weiterer Verstösse gegen das kantonale Hundegesetz beim Bezirksgericht Strafanzeige eingereicht werde. Einen dagegen von H erhobenen Rekurs wies das DIV mit Entscheid vom 7. November 2012 ab. Auf Beschwerde hin bestätigt das Verwaltungsgericht den Rekursentscheid.
Aus den Erwägungen:
3.
3.1 Gemäss § 1 Abs. 1 HundeG sind Hunde so zu halten, dass Mensch und Tier nicht gefährdet oder belästigt werden. § 3 HundeG enthält nebst einem Betretverbot für gewisse Örtlichkeiten ein kantonalrechtliches Anleingebot mit der Möglichkeit für die Gemeinden, zusätzliche Orte mit einem Anleingebot zu belegen. Wenn durch die Hundehaltung Mensch oder Tier verletzt, gefährdet oder ernsthaft belästigt werden, kann die Gemeinde entsprechend dem Ausmass der Mangelhaftigkeit der Hundehaltung Massnahmen über Erziehung, Beaufsichtigung, Pflege oder Unterbringung anordnen (§ 7 Abs. 1 HundeG). Abs. 2 von § 7 HundeG listet - in nicht abschliessender Weise (TVR 2011 Nr. 17, E. 3) - konkrete Massnahmen auf, unter anderem in Ziff. 5 die Verpflichtung, im öffentlich zugänglichen Raum dem Hund einen Maulkorb anzulegen oder ihn an der Leine zu führen. § 7 Abs. 2 Ziff. 11 HundeG sieht eine Beschränkung der Anzahl gehaltener Hunde vor; eine Beschränkung der Anzahl ausgeführter Hunde ist nicht explizit erwähnt. Angeordnete Massnahmen sind gemäss § 7 Abs. 5 HundeG im ganzen Kantonsgebiet rechtsgültig; die Gemeinde hat ihre Massnahmen in der Datenbank der Registrierungsstelle zu registrieren.
3.2 Zu prüfen ist vorweg, ob die strittigen Anordnungen der verfahrensbeteiligten Gemeinde rechtmässig sind bzw. sich auf eine ausreichende Rechtsgrundlage zu stützen vermögen.
3.2.1 Der Erlass von einschränkenden Massnahmen setzt eine mangelhafte Hundehaltung voraus, welche sich dahingehend auswirkt, dass Mensch oder Tier verletzt, gefährdet oder ernsthaft belästigt werden (§ 7 Abs. 1 HundeG). Vorliegend ist erstellt, dass die Beschwerdeführerin beim Vorfall vom 19. Juni 2011 eine mangelhafte Hundehaltung offenbarte. Dies wird auch ihrerseits insoweit nicht bestritten, als sie einen Hund nicht davon abhalten konnte, auf einen von hinten nahenden Velofahrer zuzugehen, ihn zu einer Verlangsamung seiner Fahrt zu zwingen und ihm über eine gewisse Distanz nachzulaufen. Die Beschwerdeführerin anerkennt ausdrücklich, dass durch diesen einen Hund C einer ernsthaften Belästigung im Sinne des Gesetzes ausgesetzt war. Massnahmen gegenüber diesem einen Hund hätte sie denn auch akzeptiert. Allerdings verstarb der betreffende Hund „Y“ kurz vor Rekurserhebung. Ein Nachweis dafür, dass es sich beim fehlbaren Hund tatsächlich um „Y“ gehandelt hat, fehlt allerdings, was vorliegend allerdings nicht weiter von Relevanz ist.
Bei der Prüfung, ob die strittigen Massnahmen rechtmässig sind, ist mithin eine gesamthafte Würdigung des Vorfalls vom 19. Juni 2011 vorzunehmen. Unberücksichtigt bleiben muss dabei, dass die Beschwerdeführerin regelmässig mit vielen freilaufenden Hunden entlang der Thur spaziert. Die Behauptung der verfahrensbeteiligten Gemeinde, die Beschwerdeführerin sei in der Gemeinde dafür bekannt und ihr Verhalten führe dazu, dass andere den Thurdamm mieden, wenn sie mit ihren Hunden unterwegs sei, ist in keiner Weise belegt und vorliegend ebenfalls nicht ausschlaggebend.
3.2.2 Sachverhaltsmässig unbestritten ist, dass C radfahrend am 19. Juni 2011 mit mindestens fünf freilaufenden Hunden konfrontiert wurde. Eine ängstliche Veranlagung ist nicht erforderlich, um das Passieren eines freilaufenden Rudels von fünf oder mehr Hunden als bedrohlich und unberechenbar zu empfinden. Das gilt für Erwachsene und erst recht für Kinder mit oder ohne Begleitung von Erwachsenen. Die Bedrohungssituation könnte durch eine Hundehalterin dann entschärft werden, wenn sie durch klare Kommandos alle ihre frei laufenden Hunde zu sich ruft. Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin nicht einmal behauptet, sie habe einen entsprechenden Versuch unternommen. Aus Sicht eines Velofahrers war somit das bedenkenlose Passieren der Hundegruppe nicht gewährleistet. Er musste nicht nur damit rechnen, dass ihm Hunde ohne böse Absicht vor das Fahrrad laufen oder daran hochspringen und ein Ausweichmanöver oder sogar einen Sturz verursachen. Er konnte auch nicht ausschliessen, dass sich alle frei laufenden Hunde auf ihn zubewegen würden, sei dies nun zu einem blossen „schwanzwedelnden Begrüssungsversuch“, wie von der Beschwerdeführerin formuliert, sei dies, um ihn anzubellen oder gar anzugreifen. Zumindest im Falle eines Hundes hat sich die direkte Kontaktnahme eines Tieres zum Velofahrer anerkanntermassen realisiert. Bei der von der Beschwerdeführerin als dafür verantwortlich bezeichneten Hündin „Y“ handelte es sich allerdings nicht um ein kleines Schosshündchen, sondern gemäss Rapport des Zürcher Veterinäramtes um einen Schäferhund bzw. „Schäfer-Mix“. Unmassgeblich ist dabei namentlich auch, dass die Beschwerdeführerin am besagten 19. Juni 2011 nicht allein, sondern in Begleitung von zwei männlichen Personen unterwegs gewesen sein soll. Die Verantwortung für die Hunde lag unbestrittenermassen allein bei ihr.
3.2.3 Der Vorfall vom 19. Juni 2011 dokumentiert - bereits ausgehend vom unbestrittenen Sachverhalt - in rechtsgenüglicher Weise, dass die Hundehaltung der Beschwerdeführerin mangelhaft im Sinne von § 7 Abs. 1 HundeG war. Die ihr gegenüber angeordneten und strittigen Massnahmen (Leinenpflicht beim Ausführen von Hunden sowie die zahlenmässige Beschränkung für das gleichzeitige Ausführen von maximal vier Hunden) stützen sich auf eine ausreichende Rechtsgrundlage, zumal der in § 7 Abs. 2 HundeG enthaltene Massnahmenkatalog nicht abschliessend ist, und erweisen sich damit als grundsätzlich rechtmässig.
3.3 Zu prüfen ist sodann, ob die betreffenden Massnahmen auch verhältnismässig sind.
3.3.1 Dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit kommt im Polizeirecht besondere Bedeutung zu. Er verlangt, dass behördliche Massnahmen im öffentlichen oder privaten Interesse geeignet und erforderlich sind und sich für die Betroffenen in Anbetracht der Schwere der Grundrechtseinschränkung zumutbar und verhältnismässig erweisen. Erforderlich ist eine vernünftige Zweck-Mittel-Relation. Eine Massnahme ist unverhältnismässig, wenn das Ziel mit einem weniger schweren Grundrechtseingriff erreicht werden kann (BGE 137 I 31 E. 7.5.2 mit Hinweis auf BGE 136 I 87 E. 3.2; Urteil des Bundesgerichts 2C_1200/2012 vom 3. Juni 2013, E. 4.3).
3.3.2 Die verfahrensbeteiligte Gemeinde und die Vorinstanz beschränkten die Anzahl der gleichzeitig ausgeführten Hunde auf vier. Die Vorinstanz verweist unter anderem auf ein in TVR 2003 Nr. 19 publiziertes Urteil des Verwaltungsgerichts, bei welchem es allerdings um eine entwichene Meute von Alaska Malamuts, welche Kinder angegriffen und verletzt hatten, und um die Frage der Umplatzierung bzw. Tötung ging. Wie in jenem Urteil - ausgehend von einem Fachgutachten - festgehalten wurde (E. 3c), ist bereits ab drei Hunden praktisch von einem Rudel auszugehen. In diesem Fachgutachten wurde ausserdem allgemein ausgeführt, dass das Rudelverhalten eine grössere Eigendynamik annehmen könne, je grösser das Rudel sei. Ein grosses Rudel stelle ein exponentiell grösseres Gefahrenpotenzial dar als nur zwei zusammen gehaltene Hunde (TVR 2003 Nr. 19, E. 3b).
Dem Rapport des Zürcher Veterinäramtes lässt sich entnehmen, dass die Beschwerdeführerin die Auffangstation „H“ führt und damals - neben fünf Katzen - sieben Hunde hielt (fünf im Eigentum der Auffangstation, zwei Fremdtiere). Mit dem ins Recht gelegten Zertifikat des Ausbildungszentrums „A“ vom 4. Juni 2012 macht die Beschwerdeführerin geltend, dass sie eine fachlich versierte Hundehalterin sei. Dieses Zertifikat enthält aber auch die Aussage, dass die Beschwerdeführerin fachlich befähigt sei, ein Tierheim für Hunde und Katzen mit maximal 19 Betreuungsplätzen zu betreiben. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass - nachdem der Hundebestand der Beschwerdeführerin schon damals sieben, zum Teil fremde Hunde umfasste - der Bestand noch weiter anwachsen könnte.
Auch wenn es sich bei der Beschwerdeführerin um eine zertifizierte Hundehalterin handelt, erweist sich die Beschränkung auf maximal vier gleichzeitig auszuführende Hunde als vertretbar und angebracht. Es bedarf keines Wesenstests bei jedem einzelnen Hund, um zur Feststellung zu gelangen, dass eine verlässliche Kontrolle aller Hunde im Falle einer Begegnung mit Spaziergängern, Velofahrern, anderen Hunden oder Katzen bei fünf Hunden oder mehr durch eine einzige Person nicht mehr garantiert werden kann. Dies gilt auch für normale, nicht konfliktbelastete Situationen und auch für den Fall, dass alle Hunde angeleint sind. Es ist nachvollziehbar und muss nicht gutachterlich belegt werden, dass das Zurückhalten von fünf oder mehr angeleinten Hunden auch von einer kräftigen Person nicht mehr bewerkstelligt werden kann. Dies gilt in jedem Fall für Hunde vergleichbarer Grösse, wie sie die Beschwerdeführerin hält (Pointer, Schäfer, Berner Sennenhund, Appenzeller, Irish Terrier). Dabei ist namentlich auch das durch das Rudelverhalten bedingte grössere Gefahrenpotential zu berücksichtigen (TVR 2003 Nr. 19, E. 3b).
Die Einschränkung auf maximal vier (angeleinte) Hunde, die gleichzeitig von einer Person ausgeführt werden, ist damit als vertretbar und verhältnismässig, wenn nicht sogar als grosszügig zu qualifizieren.
3.3.3 Fraglich und zu prüfen ist weiter die Verhältnismässigkeit des gegenüber der Beschwerdeführerin verfügten Anleingebots beim Ausführen von Hunden im öffentlich zugänglichen Raum.
Diese Anordnung basiert offensichtlich auf der Annahme, dass die Beschwerdeführerin stets mit einem Hunderudel unterwegs ist. Werden drei oder vier Hunde gleichzeitig ausgeführt, erweist sich diese Massnahme zweifellos als verhältnismässig. Die Dynamik einer Hundegruppe von drei oder vier frei laufenden Tieren gewährleistet es - selbst ohne Berücksichtigung des durch das Rudelverhalten bedingten grösseren Gefahrenpotentials - in keiner Weise, dass die Beschwerdeführerin als Halterin alle Tiere abrufen und damit unter Kontrolle halten kann. Es muss mit anderen Worten nicht die Gefahr eines Angriffs auf die Gesundheit von Mensch oder Tier drohen, um eine Anleinpflicht beim Ausführen von drei oder mehr Hunden zu begründen. Es genügt bereits, dass ohne diese Massnahme eine ernsthafte Belästigung von Tier oder Mensch erwartet werden muss. Dies ist bereits dann der Fall, wenn sich eine Gruppe von Hunden einem Spaziergänger oder Velofahrer zuwendet und ihn beim Weitergehen oder -fahren behindert. Insbesondere Velofahrer (Erwachsene und erst recht Kinder) unterliegen einer erheblichen Sturzgefahr, wenn sie von Hunden bedrängt werden, sei dies nun schwanzwedelnd, bellend oder zähnefletschend. (…)
Dies führt zum Ergebnis, dass das Anleingebot für den Fall, dass die Beschwerdeführerin drei oder vier Hunde gleichzeitig ausführt, auch als verhältnismässig zu betrachten ist.
3.3.4 Als fraglich erscheint die Verhältnismässigkeit dieser Anordnung, soweit sie sich auch auf das Ausführen mit einem oder zwei Hunden bezieht. Aus dem Vorfall vom Juni 2011 ist nur unzureichend abzuleiten, dass die Beschwerdeführerin - immerhin zertifizierte Hundehalterin - nicht in der Lage ist, einen oder zwei frei laufende Hunde unter Kontrolle zu halten. Entsprechende Anhaltspunkte sind den Akten nicht zu entnehmen. Unter den gegebenen Umständen erweist sich das Anleingebot, soweit es auch für das Ausführen von einem oder zwei Hunden gilt, nicht als erforderlich und damit als unverhältnismässig.
3.4 (Verzicht auf weitergehende Abklärungen, namentlich etwa in Form eines kynologischen Gutachtens, zumal davon im vorliegenden Fall keine entscheidrelevanten Erkenntnisse zu erwarten sind)
3.5 Dies führt zum Ergebnis, dass die strittige Anordnung insoweit recht- und verhältnismässig ist, als damit gegenüber der Beschwerdeführerin die Anzahl ausführbarer Hunde auf maximal vier (pro Person) beschränkt und die Anleinpflicht für drei oder mehr Hunde verfügt wurde. In dieser Hinsicht ist der angefochtene Entscheid zu bestätigen. Soweit die Anleinpflicht auch für das Ausführen von einem oder zwei Hunden angeordnet wurde, ist die betreffende Massnahme dagegen als nicht verhältnismässig zu qualifizieren. In diesem Sinne ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen.
Allerdings wird die Beschwerdeführerin darauf hingewiesen, dass im Falle von Missständen bzw. wenn sich - auch beim Ausführen von lediglich einem oder zwei Hunden - ein erneuter Vorfall ereignen sollte, bei welchem Menschen oder Tiere verletzt, gefährdet oder ernsthaft belästigt werden, die Anordnung weitergehender Massnahmen, so namentlich die Erweiterung der Anleinpflicht, ausdrücklich vorbehalten bleibt.
Entscheid VG.2012.189/E vom 3. Juli 2013