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TVR 2013 Nr. 30

Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Art. 2 und Art. 11 Abs. 3 lit. e. Beitragspflicht von nichterwerbstätigen Ehepartnern


Art. 3 Abs. 3 AHVG, Art. 20 Abs. 2 FamZG, Art. 8 FZA, § 15 TG FamZG


Es erfolgt keine Befreiung der nichterwerbstätigen Ehefrau mit Wohnsitz in der Schweiz von der AHV/IV/EO- und FAK-Beitragspflicht, wenn der in Deutschland erwerbstätige Ehemann nicht der schweizerischen AHV unterstellt ist und somit keine Doppelbelastung vorliegt.


F ist die Ehefrau von H. Beide Ehepartner sind deutsche Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Schweiz. H ist Beamter des Landes Baden-Württemberg und in der Schweiz nicht AHV-pflichtig. Im Rahmen der Anmeldung des Ehemannes für eine Altersrente prüfte die Ausgleichkasse, ob F als Nichterwerbstätige erfasst werden müsse. In der Folge erliess die Ausgleichskasse Beitragsverfügungen akonto für die Zeit vom 1. Januar 2009 bis 31. Dezember 2012 AHV/IV/EO über Fr. 50'935.80 und Familienausgleichskassenbeiträge (FAK-Beiträge) von Fr. 8'131.20 sowie Verzugszinsen von Fr. 2'541.55. Eine gegen die Beitragspflicht erhobene Einsprache wies die Ausgleichskasse mit Entscheid vom 12. September 2012 ab.
Dagegen erhob F mit Eingabe vom 26. September 2012 Beschwerde. Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgebracht, ihre Versorgung sei qualitativ mit den Vorsorgeansprüchen ihres Ehemannes in Deutschland gleichzusetzen. Einer zusätzlichen Versorgung bedürfe es nicht. H sei von der Sozialversicherungspflicht in der Schweiz ausgenommen. Letztlich müsse er nun aber den AHV-Beitrag seiner Ehefrau aus seinem Einkommen und Vermögen bezahlen. Somit werde er wirtschaftlich belastet, was gemäss Art. 13 der Verordnung (EWG) 1408/71 ausgeschlossen sein sollte. Im Hinblick auf die Einkommenshöhe würde der Beitrag des Ehemannes zudem das Doppelte des Mindestbeitrages bei weitem übersteigen. Die wirtschaftliche Belastung treffe ihn daher nur deshalb, weil er selbst aufgrund der bilateralen Abkommen von der Beitragspflicht in der Schweiz befreit sei. Es liege daher eine Doppelbelastung und eine Ungleichbehandlung vor, da sie als Ehefrau eines Schweizer Professors nicht zu AHV-Beiträgen herangezogen würde. Am 9. Oktober 2012 liess F ihre Eingabe ergänzen und ausführen, dass die bisher gültige Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ersetzt worden sei. Mit massgeblichen inhaltlichen Änderungen sei dies allerdings nicht verbunden. Das Versicherungsgericht weist die Beschwerde ab.

Aus den Erwägungen:

3.
3.1 Nach Art. 8 FZA regeln die Vertragsparteien die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäss Anhang II des Abkommens, so unter anderem zur Gewährleistung der Gleichbehandlung und Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften. Gemäss Art. 1 Anhang II des Abkommens kommen die Vertragsparteien überein, im Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit untereinander die in Abschnitt A dieses Anhangs genannten Rechtsakte der Europäischen Union in der durch diesen Abschnitt geänderten Fassung oder gleichwertige Vorschriften anzuwenden. Der Begriff „Mitgliedstaat(en)“ in den Rechtsakten, auf die in Abschnitt A des Anhangs Bezug genommen wird, ist ausser auf die von den betreffenden Rechtsakten der Europäischen Union erfassten Staaten auch auf die Schweiz anzuwenden. Dabei wird Bezug genommen auf die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009, zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und zur Festlegung des Inhalts ihrer Anhänge (Art. 3 des Anhangs II). Die neue EU-Verordnung Nr. 883/2004 und die Durchführungsverordnung Nr. 987/2009 sind in den Beziehungen zwischen der Schweiz und den EU-Mitgliedstaaten ab 1. April 2012 anwendbar. An diesem Tag tritt der revidierte Anhang II zum FZA in Kraft. Diese Verordnungen ersetzen die Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und Nr. 574/72, wobei sich inhaltlich in Bezug auf die vorliegende Problematik nichts Wesentliches geändert hat.

3.2 Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen (Art. 2). Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Die Beschwerdeführerin fällt somit gemäss Art. 2 klar in den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und zwar direkt als Staatsangehörige eines Mitgliedstaates und nicht nur abgeleitet als Ehegattin eines deutschen Bürgers. Jedoch ist sie selber weder in Deutschland erwerbstätig, noch ist sie Beamtin des Landes Baden-Württemberg. Für sie ist daher Art. 11 Abs. 3 lit. e der Verordnung anwendbar, was bedeutet, dass sie den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats untersteht, weshalb das Schweizerische Recht zur Anwendung gelangt (vgl. dazu auch Cadotsch/Cardinau, Die Auswirkungen des Abkommens auf die Versicherungs- und Beitragspflicht in der AHV, in: Murer, Das Personenverkehrsabkommen mit der EU und seine Auswirkungen auf die soziale Sicherheit der Schweiz, Freiburger Sozialrechtstag 2000, Bern 2001, S. 120 f.). Diese Regelung entspricht im Übrigen auch den Bestimmungen gemäss dem Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über Soziale Sicherheit (Art. 5; vgl. dazu auch Entscheid des Bundesgerichts H 114/05 vom 9. Mai 2007, E. 4.3.2).

4.
4.1 Versichert sind nach Art. 1a lit. a AHVG die natürlichen Personen mit Wohnsitz in der Schweiz. Die Versicherten sind beitragspflichtig, solange sie eine Erwerbstätigkeit ausüben. Für Nichterwerbstätige beginnt die Versicherungspflicht am 1. Januar nach Vollendung des 20. Altersjahres und dauert bis zum Ende des Monats, in welchem Frauen das 64. und Männer das 65. Altersjahr vollendet haben (Art. 3 Abs. 1 AHVG). Die eigenen Beiträge gelten bei nichterwerbstätigen Ehegatten von erwerbstätigen Versicherten als bezahlt, sofern der Ehegatte Beiträge von mindestens der doppelten Höhe des Mindestbeitrages bezahlt hat (Art. 3 Abs. 3 AHVG). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass bei Ehepaaren die Versicherteneigenschaft des einen Ehegatten nicht auf den anderen ausgedehnt wird. Ist also nur der eine Ehegatte der schweizerischen AHV unterstellt, kann sich die Frage, ob die Beiträge des anderen Ehegatten als bezahlt gelten, gar nicht stellen (Kieser, Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Alters- und Hinterlassenenversicherung, 3. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2012, Art. 3 Rz. 24).

4.2 Im vorliegenden Fall ist der Ehemann der Beschwerdeführerin nicht der schweizerischen AHV unterstellt (Art. 1a Abs. 2 lit. b AHVG). Insofern kann die Beschwerdeführerin nicht gemäss Art. 3 Abs. 3 AHVG von der Beitragspflicht befreit werden (vgl. dazu auch BGE 125 V 230). Dies bedeutet für sie auch keine Doppelbelastung, da sie selber in Deutschland keine Beiträge an die Altersvorsorge leistet. Zudem wird ihre Versicherteneigenschaft nicht auf ihren Ehegatten ausgedehnt, weshalb bei ihm ebenfalls nicht von einer Doppelbelastung gesprochen werden kann. Vielmehr leistet er seine Sozialversicherungsbeiträge in Deutschland (wobei diese bei Beamten offensichtlich direkt vom Staat bezahlt werden), und seine Ehefrau wird in der Schweiz beitragspflichtig. Dies entspricht denn auch dem mit der 10. AHV-Revision eingeführten Individualrentenkonzept mit Einführung des Splittings sowie der Erziehungs- und Betreuungsgutschriften und der Abkehr vom Ehepaarrentenkonzept (BGE 125 V 230 E. 3.c). Auch wenn die Altersvorsorge nach einer allfälligen Scheidung oder dem Vorversterben ihres Ehemannes gesichert sein sollte - was jedoch weder von der Beschwerdegegnerin noch vom hiesigen Gericht zu überprüfen ist - steht ihr aufgrund der Beitragszahlungen zur AHV im Versicherungsfall ein eigenständiger Leistungsanspruch zu, was ebenfalls in Einklang mit den auf den 1. Januar 1997 in Kraft getretenen Regelungen der 10. AHV-Revision steht. Wer die Beiträge aus wirtschaftlicher Sicht bezahlt und ob diese aus dem Erwerbseinkommen des Ehegatten oder aus dem Vermögen der Beschwerdeführerin beglichen werden, ist dabei nicht von Bedeutung. Zudem liegt eine verordnungs- und verfassungswidrige Rechtsungleichheit im Vergleich mit Ehegatten, die beide der gleichen Versicherung angehören, nicht vor, da im Umstand der Unterstellung unter zwei verschiedene Versicherungen ein vernünftiger Grund zur Ungleichbehandlung zu erblicken ist (BGE 125 V 230 E. 3.c). Auch ist beizufügen, dass die von der Beschwerdeführerin zu entrichtenden Beiträge nicht nur für die AHV, sondern auch für die Invalidenversicherung (IV) und für den Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft (EO) bestimmt sind und sich die Beschwerdeführerin in diesen Bereichen ohnehin nicht auf eine finanzielle Absicherung im Pensionsalter durch die Rentenzahlungen an ihren Ehemann berufen kann.

4.3 Im Übrigen ist auch zu beachten, dass das Staatsvertragsrecht eine Koordinationsaufgabe erfüllt, indem es ausgehend von einem Anknüpfungspunkt wie Wohnsitz oder Erwerbsort das anwendbare nationale Recht bestimmt. Dagegen ist eine Harmonisierung des materiellen Rechts nicht Gegenstand der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (vgl. dazu auch Bergmann, Überblick über die Regelung des APF betreffend soziale Sicherheit, in: Schaffhauser/Schürer, Rechtsschutz der Versicherten und der Versicherer gemäss Abkommen EU/CH über die Personenfreizügigkeit [APF] im Bereich der Sozialen Sicherheit, St. Gallen 2002, S. 14 ff.). Grundanliegen des FZA im Bereich der sozialen Sicherheit sind neben der Gleichbehandlung und der Bestimmung des anwendbaren Rechts die Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften berücksichtigten Versicherungszeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen, die Zahlung der Leistungen an Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien haben sowie die Amtshilfe und Zusammenarbeit der Behörden und Einrichtungen (BGE 138 V 258 E. 4.1). Das FZA und die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 wollen tendenziell Inland- und EU-Auslandsachverhalte gleich behandeln (vgl. dazu auch Doleschal, Die sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen im Freizügigkeitsabkommen und dessen Anhang II, in: Murer, a.a.O., S. 33), weshalb Personen, die sich innerhalb des EU-Raums bzw. von dort zur Schweiz bewegen, sozialversicherungsrechtlich keine Nachteile erleiden, sondern gleich behandelt werden sollen wie übrige Staatsangehörige. Im vorliegenden Fall wird die Beschwerdeführerin gegenüber einer schweizerischen Staatsangehörigen, deren Ehemann im Ausland erwerbstätig ist, jedoch nicht benachteiligt. Vielmehr wäre auch die Schweizerin in diesem Fall beitragspflichtig und könnte sich nicht auf Art. 3 Abs. 3 AHVG berufen (vgl. dazu auch Entscheid des Bundesgerichts H 114/05 vom 9. Mai 2007, E. 4.3.2, sowie Kieser, a.a.O., Art. 3 Rz. 24). Demgegenüber wäre Art. 3 Abs. 3 AHVG auf die Beschwerdeführerin dann anwendbar, wenn ihr Ehemann - auch als Deutscher Staatsangehöriger - in der Schweiz einer Erwerbstätigkeit nachgehen würde und mindestens die doppelte Höhe des Mindestbeitrages bezahlen würde. Insofern liegt aufgrund der Staatsangehörigkeit in keiner Weise eine Diskriminierung vor. Die Beschwerde ist daher bezüglich der AHV/IV/EO-Beitragspflicht abzuweisen.

5. Nichterwerbstätige haben, sofern sie AHV-Beiträge zahlen müssen, gemäss Art. 20 Abs. 2 FamZG in Verbindung mit § 15 TG FamZG einen Anteil von 20% ihrer AHV-Beiträge zu leisten, sofern diese den Mindestbeitrag nach Art. 10 AHVG übersteigen. Dieser Wert ist bei der Beschwerdeführerin sicher überschritten. Auch ist nicht ersichtlich, warum die Beschwerdeführerin als im Kanton Thurgau wohnhafte, nicht erwerbstätige Person diese Beiträge nicht entrichten müsste. Die Beiträge werden vom Kanton Thurgau zur Finanzierung der Familienzulagen für Nichterwerbstätige erhoben. Die Beschwerdeführerin kann sich einer Beitragspflicht nicht mir dem Hinweis, ihr Mann sei in Deutschland altersrentenversichert, entziehen. Vielmehr untersteht die Beschwerdeführerin gemäss Art. 11 Abs. 3 lit. e der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 dem schweizerischen Recht und hat somit die gemäss schweizerischer respektive thurgauischer Gesetzgebung festgelegten Beiträge zu entrichten. Die Beschwerde ist somit auch betreffend FAK-Beiträge abzuweisen.

Entscheid VV.2012.328/E vom 9. Januar 2013

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