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TVR 2013 Nr. 31

Erstmalige berufliche Ausbildung


Art. 2 Abs. 5 BehiG, Art. 3 lit. f BehiG, Art. 20 Abs. 1 BehiG, Art. 20 Abs. 2 BehiG, Art. 16 Abs. 1 IVG, Art. 5 Abs. 1 IVV


Es besteht kein Anspruch auf Kostenübernahme durch die IV-Stelle für eine private Maturitätsschule, wenn die Probezeit an der kantonalen Maturitätsschule zweimal aus nicht gesundheitlichen Gründen nicht bestanden wurde (E. 3). Ein solcher Rechtsanspruch findet sich auch im Behindertengleichstellungsgesetz nicht (E. 5).


M, geboren 1994, leidet unter einem linksbetonten Fehlbildungssyndrom. Aufgrund diverser damit zusammenhängender Geburtsgebrechen wurden ihm von der IV-Stelle unter anderem Sonderschulmassnahmen zugesprochen. Auf das Schuljahr 2010/2011 trat er in die Probezeit des Gymnasiums an der Kantonsschule P ein, welche er - nach Verbleib in der angestammten Klasse - im Schuljahr 2011/2012 in einer ersten Klasse wiederholen konnte. Auch beim zweiten Mal wurde die Probezeit jedoch nicht bestanden. Am 18. Mai 2012 stellte M den Antrag auf Wiederaufnahme der beruflichen Massnahmen in Form einer Ausbildung am Institut A. Mit Schreiben vom 10. August 2012 nahm RA K Stellung zum Verfahren und führte aus, dass M aus gesundheitlichen Gründen die Probezeit nicht bestanden habe. Mittlerweile könne er aufgrund des fortgeschrittenen Alters nicht mehr an einer Kantonsschule die Mittelschule abschliessen. Mit Verfügung vom 18. Dezember 2012 verneinte die IV-Stelle den Anspruch von M auf Kostengutsprache für eine erstmalige berufliche Ausbildung. Die dagegen erhobene Beschwerde weist das Versicherungsgericht ab.

Aus den Erwägungen:

2. Nach Art. 16 Abs. 1 IVG haben Versicherte, die noch nicht erwerbstätig waren und denen infolge Invalidität bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung in wesentlichem Umfange zusätzliche Kosten entstehen, Anspruch auf Ersatz dieser Kosten, sofern die Ausbildung den Fähigkeiten des Versicherten entspricht und unter der weiteren Voraussetzung, dass das Eingliederungsziel dadurch voraussichtlich erreicht werden kann. Als erstmalige berufliche Ausbildung gilt laut Art. 5 Abs. 1 IVV jede Berufslehre oder Anlehre sowie, nach Abschluss der Volks- oder Sonderschule, der Besuch einer Mittel-, Fach- oder Hochschule und die berufliche Vorbereitung auf eine Hilfsarbeit oder auf die Tätigkeit in einer geschützten Werkstätte. Unter erstmaliger beruflicher Ausbildung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 IVG ist eine gezielte und planmässige Förderung in beruflicher Hinsicht zu verstehen, mit anderen Worten der Erwerb oder die Vermittlung spezifisch beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten (Entscheid des EVG I 529/01 vom 19. März 2002, E. 1.b).

3.
3.1 Der Beschwerdeführer leidet seit seiner Geburt unter Fehlbildungen, welche ihn körperlich stark behindern. Aus dem Bericht von Dr. med. D ergibt sich zudem, dass er bezüglich der schulischen Ausbildung einer entsprechenden Rücksichtsnahme oder einer entsprechenden speziellen Betreuung bedarf. Es können jedoch nur invaliditätsbedingte Mehrkosten Gegenstand von Art. 16 IVG sein. Die Kosten für den Maturitätslehrgang am Institut A sind also nur dann von der Invalidenversicherung zu übernehmen, wenn der Beschwerdeführer aus invaliditätsbedingten Gründen die zweimalige Probezeit an der Kantonsschule P nicht bestanden hat.

3.2 Anlässlich der Abklärungen mittels PSB-R 6-13 (Prüfsystem für Schul- und Bildungsberatung) erzielte der Beschwerdeführer einen IQ-Wert von 110, was einem durchschnittlichen Wert entspricht. Daraus lässt sich somit nichts Genaueres ableiten. Auch ist festzustellen, dass der Beschwerdeführer bereits ein Jahr der Sekundarschule (2. Klasse) repetieren musste. Im Schreiben vom 13. Februar 2012 bezeichnete die Schulleitung der Kantonsschule P die Leistungen des Beschwerdeführers in der zweiten Probezeit als nicht ausreichend und wies darauf hin, dass sie nicht glauben würden, dass der Beschwerdeführer die Ressourcen aufbringen könne, im Kontext ihrer Schule die gymnasiale Matura zu bestehen. Im E-Mail vom 24. Mai 2012 führte die Schuladministration zudem aus, dass nicht die Absenzen der Grund für die Leistungen gewesen seien. Die Absenzen hätten sich im normalen Rahmen gehalten. Im Schreiben des Prorektors der Kantonsschule P werden die im Klassenbuch erfassten Absenzen aufgelistet. Es gebe keine Hinweise auf zu spätes Erscheinen im Unterricht. Soweit die Klassenlehrerin sich aus dem Französischunterricht erinnern könne, sei dies auch nicht häufiger als bei anderen Schülern vorgekommen. Viele Schüler seien mit zusätzlichen Herausforderungen belastet. Es sei jedoch davon auszugehen, dass die Jugendlichen über genügend Ressourcen und Reserven verfügen würden, zusätzlich zu den schulischen Anforderungen ihre weiteren Herausforderungen zu bewältigen. Über diese Reserven verfüge der Beschwerdeführer ihres Erachtens nicht. Das Schulumfeld für den Beschwerdeführer werde als zumutbar beurteilt, zumal dieser während der Zeit an der Kantonsschule P auch nicht auf den Rollstuhl angewiesen gewesen sei. Den Schulzimmerwechsel habe er jeweils zusammen mit seinen Klassenkollegen und -kolleginnen bewerkstelligen können. Aus seiner Sicht gebe es keinen Zusammenhang zwischen den Ressourcen des Beschwerdeführers und der Infrastruktur der Schule. Die Schule habe vor einigen Jahren mit der Beschulung eines Schülers im Rollstuhl auch belegt, dass sie in der Lage sei, behinderte Schüler in ihren Schulhäusern adäquat zu unterrichten. Es seien im vorliegenden Fall jedoch keine speziellen Massnahmen geschaffen worden, da dafür kein Bedarf bestanden habe.

3.3 Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers sind die Aussagen der Schulleitung der Kantonsschule P klar und belegen, dass die Probezeit nicht aus invaliditätsrelevanten Gründen nicht bestanden wurde. Aus dem Bericht von B zeigt sich denn auch schlüssig, dass der Beschwerdeführer zumindest während seiner Zeit an der Kantonsschule P nicht notwendigerweise auf den Rollstuhl angewiesen war, bzw. die verlangten Gehstrecken mit Hilfe von Kollegen zurücklegen konnte. Insofern ist auch nicht weiter von Bedeutung, ob die Schule durchgängig rollstuhlgängig ist oder nicht. Wenn der Beschwerdeführer zudem geltend macht, Schulstunden seien auch in einer nicht rollstuhlgängigen Baracke abgehalten worden, so muss dem entgegen gehalten werden, dass für die Schule aufgrund der Gehfähigkeiten des Beschwerdeführers offensichtlich kein Anlass bestand, diese Stunden in ein anderes Klassenzimmer zu verlegen, was sicherlich möglich gewesen wäre. Auch im Bericht vom 12. Juli 2012 hielt Dr. D im Übrigen fest, dass der Beschwerdeführer an Stöcken gehe und nur längere Strecken in einem Rollstuhl zurücklegen müsse, und eine weitere Operation fand erst im März 2012 statt, weshalb der Beschwerdeführer auch erst ab diesem Zeitpunkt vermehrter Hilfe und Pflege bedurfte und vorübergehend vollständig auf den Rollstuhl angewiesen war. Die zweite Probezeit endete jedoch nach einem Semester (vgl. § 13 der Verordnung des Regierungsrates über die Aufnahme in die Maturitätsschulen sowie in die Fach- und Handelsmittelschule) mit den Sportferien im Jahr 2012 (30. Januar 2012). Zudem bestehen keinerlei Gründe dafür, weshalb nicht auf die Ausführungen des Prorektors der Kantonsschule P abgestellt werden könnte. Dr. med. W des RAD weist in seiner Stellungnahme vom 4. Februar 2013 denn auch zu Recht darauf hin, dass die Akten eine ungestörte Entwicklung dokumentieren und dass sich die Schule der Problematik des Beschwerdeführers durchaus bewusst war. So wurde ihm denn auch die Möglichkeit geboten, vorübergehend in seiner angestammten Klasse zu verbleiben und die Probezeit noch ein zweites Mal in einer ersten Klasse zu absolvieren. Selbstverständlich durften die Lehrer die Noten aber nicht aus irgendwelchen behinderungsbedingten Gründen anpassen und es ist nicht ersichtlich, weshalb versäumter Schulstoff mittels Literatur oder den Notizen von Schulkollegen nicht zu Hause hätte aufgearbeitet werden können (was auf gymnasialer Stufe von den Schülern denn auch erwartet werden darf), zumal der Beschwerdeführer ja die Probezeit und die erste Klasse schon einmal durchlaufen hatte und ihm daher der Schulstoff bereits bekannt war. Es bestehen aktenmässig zudem auch keine Anzeichen dafür, dass der Beschwerdeführer durch psychomentale Leistungseinschränkungen oder durch die Einnahme von Medikamenten (auch während der früheren Schulzeit) eingeschränkt gewesen wäre oder dass er während der Probezeit Opiate hätte einnehmen müssen. Die erfassten Absenzen während der zweiten Probezeit von sieben ganzen und einem halben Tag sowie einer Lektion sind nicht weiter auffällig und dürften im normalen Bereich liegen, wie dies auch die Schuladministration und Dr. W festhielten. Weshalb auf diese Stellungnahme durch Dr. W zudem nicht abgestellt werden dürfte, ist nicht plausibel, kommt einem solchen Bericht doch gerade die Funktion zu, einen feststehenden Sachverhalt zu beurteilen und für den medizinischen Laien verständlich zu machen (vgl. dazu insbesondere den Entscheid des Bundesgerichts 9C_589/2010 vom 8. September 2010, E. 2). Eine psychologische Betreuung im Rahmen der Behandlungen am K ist denn auch nicht mit einer regelmässigen psychologischen oder psychiatrischen Betreuung gleichzusetzen und für eine solche Betreuung während den beiden Probezeiten finden sich in den Akten denn auch keine Hinweise. Mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ist das zweimalige Nichtbestehen der Probezeit somit nicht auf gesundheitliche Gründe zurückzuführen.

3.4 (…)

4. (…)

5.
5.1 Im Weiteren beruft sich der Beschwerdeführer auf das BehiG.

5.2 Nach Art. 1 Abs. 2 BehiG sollen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es Menschen mit Behinderungen erleichtern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und insbesondere selbstständig soziale Kontakte zu pflegen, sich aus- und fortzubilden und eine Erwerbstätigkeit auszuüben (vgl. dazu auch BGE 138 I 475 E. 4.2). Eine nach Art. 1 Abs. 1 BehiG zu verhindernde, zu verringernde oder zu beseitigende Benachteiligung liegt auch dann vor, wenn eine unterschiedliche Behandlung Behinderter fehlt, die zur tatsächlichen Gleichstellung mit nicht Behinderten notwendig ist (Art. 2 Abs. 2 in fine; vgl. auch Art. 5 Abs. 2 BehiG). Bei der Inanspruchnahme von Aus- und Weiterbildung ist eine Benachteiligung unter anderem gegeben, wenn die Verwendung behindertenspezifischer Hilfsmittel oder der Beizug notwendiger persönlicher Assistenz erschwert wird oder die Dauer und Ausgestaltung des Bildungsangebotes sowie Prüfungen den spezifischen Bedürfnissen Behinderter nicht angepasst sind (Art. 2 Abs. 5 lit. a und b; vgl. auch Art. 3 lit. f BehiG). Direkt durchsetzbare Rechtsansprüche ergeben sich aus dem BehiG indes im Wesentlichen im Zusammenhang mit baulichen Gegebenheiten, mit dem öffentlichen Verkehr oder mit Dienstleistungen (Art. 7 f.). Ansonsten enthält das Gesetz lediglich Kompetenzzuweisungen und andere Rahmenbestimmungen (Art. 13 ff.; BGE 131 V 9 E. 3.5.1.3). Art. 20 BehiG ist daher rein deklaratorischer Natur und stellt lediglich eine Auslegungshilfe zur Konkretisierung von Art. 19 BV dar (Schefer/Hess-Klein, die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung bei Dienstleistungen, in der Bildung und in Arbeitsverhältnissen, in: Jusletter 19. September 2011, S. 9). Art. 3 lit. f BehiG umfasst im Übrigen alle Bildungsangebote, für deren Regelung der Bund zuständig ist. Auf kantonale Bildungsangebote findet das Gesetz hingegen keine Anwendung (Schefer/Hess-Klein, a.a.O., S. 12). Damit ist nicht ersichtlich, inwiefern der Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren aus dem BehiG etwas zu seinen Gunsten ableiten will. Insbesondere benötigt denn auch Art. 16 IVG keine gesetzliche Norm, welche eine Benachteiligung von Behinderten im Gegensatz zu Nichtbehinderten statuiert, da Art. 16 IVG grundsätzlich nur bei invaliden Versicherten zur Anwendung gelangt. Eine Rüge gegenüber der Kantonsschule P oder der kantonalen gymnasialen Maturitätsschulen im Allgemeinen wäre im Übrigen nicht im vorliegenden Verfahren geltend zu machen.

Entscheid VV.2013.21/E vom 22. Mai 2013

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