TVR 2013 Nr. 4
Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kopftuchtrageverbot, genügende gesetzliche Grundlage
Art. 15 BV, Art. 36 BV, Art. 9 EMRK
Eine von der Schulbehörde erlassene Schulordnung genügt nicht, um das von der Glaubens- und Gewissensfreiheit geschützte Tragen von religiösen Symbolen (Kopftuch) einzuschränken. Hierzu bedarf es einer genügenden gesetzlichen Grundlage.
L und Z besuchen in R die Schule. Dort ist laut der Schulordnung für die Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule das Tragen von Caps, Kopftüchern und Sonnenbrillen während der Schulzeit untersagt. L und Z stellten das Gesuch, als gläubige Musliminnen das Kopftuch tragen zu dürfen. Dieses Gesuch wurde abgelehnt, ebenso wie der hierauf beim DEK erhobene Rekurs. Die dagegen beim Verwaltungsgericht erhobene Beschwerde wird gutgeheissen.
Aus den Erwägungen:
3. Die Vorinstanzen werfen zunächst die Frage auf, ob das Kopftuchverbot überhaupt unter den Schutz von Art. 15 BV fällt. Insbesondere von Seiten der verfahrensbeteiligten Schulgemeinde wurde geltend gemacht, die Mehrzahl der Musliminnen würde sich ohnehin nicht diesem Brauch unterwerfen.
3.1 Laut Art. 15 Abs. 1 BV ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleistet. Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen (Art. 15 Abs. 2 BV). Mit dem Beitritt zur EMRK ist die dort durch Art. 9 garantierte Religionsfreiheit auch durch internationale Verpflichtungen abgesichert und unmittelbar anwendbares Recht geworden (Cavelti/Kley, in: Ehrenzeller/Mastronardi/Schweizer/Vallender [Hrsg.], Die Schweizerische Bundesverfassung - Kommentar, 2. Aufl., Zürich 2008, Art. 15 N. 5; ähnlich gilt dies für Art. 18 und 27 UNO-Pakt II).
Die Glaubens- und Gewissenfreiheit verschafft dem Einzelnen das Recht, sich eine religiöse Überzeugung frei von jeglicher staatlicher Beeinflussung zu bilden, zu wählen und zu wechseln, zu praktizieren und zu verbreiten oder auch abzulehnen und nach der gewonnenen Einsicht sein Leben zu gestalten. Dazu gehört das Recht des Einzelnen, grundsätzlich sein ganzes Verhalten nach den Lehren des Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäss zu handeln. Das Bundesgericht umschreibt allerdings den Rahmen der religiös motivierten Handlungsgebote nicht näher. Zum individuellen Kult zählen das persönliche Gebet, Meditation, Beichte oder Fasten. Die gemeinschaftlichen Kulthandlungen umfassen namentlich Gottesdienst, Predigt, Messe, Prozessionen, rituelle Tänze, Spendung der Sakramente, Taufe und Hochzeit, religiöse Gesänge oder das Freitagsgebet der Muslime und schliesslich das religiöse Brauchtum. Die religiöse Überzeugung manifestiert sich in der Kundgabe durch jede Ausdrucksweise wie Wort, Schrift, Bild, Musik, Film und auch im Vorbereiten und Werben. Dies ist unter anderem der Fall beim Tragen des islamischen Kopftuches oder religiöser Kleidung (Cavelti/Kley, a.a.O., N. 10; BGE 123 I 296 E. 2b/aa). Massgebend ist einzig und allein, dass ein Gläubiger oder eine betroffene Religionsgemeinschaft eine Verhaltensweise als religiös begründet ansieht und diese Beurteilung glaubhaft vermittelt. Das islamische Kopftuch zum Beispiel fällt somit in den Anwendungsbereich der Religionsfreiheit, wenn die Muslimin es als Ausdruck ihres Glaubens empfindet. Ob der Koran das Kopftuch vorschreibt oder empfiehlt, ist für die Beurteilung von Rechtsfällen belanglos (Hangartner, Religionsfreiheit, AJP 2010, S. 441 ff., 448).
3.2 Die Frage der religiösen Erziehung ist grundsätzliche eine Frage der Elternrechte (vgl. hierzu BGE 119 Ia 178). Mit ihrem eigenhändig unterzeichneten Rekurs haben die Eltern der Beschwerdeführerinnen zum Ausdruck gebracht, dass sie um eine Dispensation des Kopftuchtrageverbots im Sinne der Schulordnung der verfahrensbeteiligten Schulgemeinde ersuchen. Ebenfalls wurden die beiden Schülerinnen durch die Vorinstanz einvernommen (Art. 23 und 24). Beide Schülerinnen haben ausgesagt, dass sie das Kopftuch aus freien Stücken und aus religiöser Überzeugung tragen. Im Lichte der zitierten Lehre und Rechtsprechung ist demnach festzuhalten, dass die Vorschrift, während des Schulunterrichts sei das Tragen eines Kopftuches verboten, die Glaubens- und Gewissensfreiheit verletzt. Zu prüfen ist daher weiter, ob diese Verletzung zulässig ist.
4.
4.1 Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr. Einschränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein. Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein (Art. 36 Abs. 1 - 3 BV). Abs. 1 von Art. 36 BV verlangt für jede Einschränkung eines Grundrechts eine gesetzliche Grundlage. Dabei ist das Erfordernis des Rechtssatzes von jenem der Gesetzesform zu unterscheiden. Das Erfordernis des Rechtssatzes, das heisst einer generell-abstrakten Norm, gewährleistet die Rechtsgleichheit und die Rechtssicherheit. Letztere wird durch das Prinzip der genügenden Bestimmtheit einer Norm sichergestellt, damit die Bürgerinnen und Bürger ihr Verhalten nach den vorhersehbaren Folgen richten können (BGE 132 I 49 E. 6; 130 I 134 E. 3). Der zweite Satz von Abs. 1 verlangt für schwerwiegende Einschränkungen die Gesetzesform. Beurteilt wird unter diesem Gesichtspunkt die Normstufe. Entscheidend ist also die demokratische Legitimation eines Erlasses: Je schwerer der Eingriff wiegt, desto höher sind diesbezüglich die Anforderungen. Bei weniger schweren Eingriffen genügt eine Verordnung, die jedoch auf jeden Fall formell und materiell verfassungsmässig sein muss. Das heisst, sie muss von einer Behörde erlassen worden sein, die dazu befugt ist, und sie muss sich im Rahmen der Gesetzesdelegation bewegen (Schweizer, in: Die Schweizerische Bundesverfassung - Kommentar, a.a.O., Art. 36 N. 10 f.).
4.2 Hinsichtlich der gesetzlichen Grundlage verweisen die Vorinstanzen auf die Schulordnung für Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule. Für Organisation und Verfahren verweist § 60 VSG auf das GemG und insbesondere auf dessen § 20 Abs. 1, wonach die Gemeindebehörde alle Gemeindeangelegenheiten besorgt, soweit sie nicht durch die Gemeindeordnung oder diesem übergeordneten Recht einem anderen Organ zugewiesen sind. Gemäss § 1 GemG gilt dieses Gesetz auch für die Schulgemeinden. Laut § VSV hat in den Schulgemeinden eine Schulordnung zu bestehen, die Rechte und Pflichten in den örtlichen Schulbetrieben sowie nach Bedarf weitere schulbezogene Pflichten der Schülerinnen und Schüler regelt. Die Schulgemeinden sind im Rahmen übergeordneter Vorgaben verantwortlich für die Organisation und den Betrieb der Schule sowie die Erfüllung der Schulpflicht der Schülerinnen und Schüler (§ 6 VSV). Die Schulbehörde ist zudem nach § 63 Abs. 1 VSG das ausführende Organ. Kälin (Grundrechte im Kulturkonflikt, Zürich 2000, S. 153) führt hierzu aus, grundsätzlich sei es Sache der lokalen Schulbehörden, über Bekleidungsvorschriften zu entscheiden; dabei sei allerdings auf den Charakter der örtlichen Bevölkerung Rücksicht zu nehmen, was eine Berücksichtigung spezieller Kleidungswünsche in stark muslimisch geprägten Quartieren oder Stadtteilen ohne weiteres ermögliche.
4.3 Während das Bundesgericht im Entscheid BGE 119 Ia 178 noch zum Schluss gelangte, aus religiösen Gründen sei ein Dispens für den gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht auf der Primarschulstufe zu erteilen, gelangte es in BGE 135 I 79 zum Schluss, von den Ausländern dürfe und müsse erwartet werden, dass sie im Zusammenleben mit der einheimischen Bevölkerung bereit seien, die Schweizerische Rechtsordnung mit ihren demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen - die der Staat auch gegenüber kulturell begründeten Abweichungen und Ansprüchen zu bewahren habe - sowie die hiesigen sozialen und gesellschaftlichen Gegebenheiten zu akzeptieren (BGE 135 I 79 E. 7.2). Weiter führte das Bundesgericht im gleichen Abschnitt aus, was folgt: „Es kommt weiter hinzu, dass die hier in Frage stehende Glaubensregel auch nicht mit den für die Mädchen islamischen Glaubens geltenden Bekleidungsvorschriften gleichgestellt werden kann. Diese gebieten den Frauen das Verhüllen des eigenen Körpers und richten sich an die Gläubigen selber. Die Frauen können selber entscheiden, ob sie diese Gebote verfolgen wollen. Anders verhält es sich beim verpönten Anblick von Körperteilen des anderen Geschlechts. Hier kann der gläubige Schüler nicht verlangen, dass die Mitschülerinnen anderen Glaubens ihren Körper entsprechend den islamischen Bekleidungsvorschriften verhüllen, nur um ihnen diesen Anblick zu ersparen.“
4.4 Das Bundesgericht ging bei der Frage des gemischt geschlechtlichen Schwimmunterrichts letztlich von einer im Grunde genommen „passiven“ Verhaltensvorschrift aus, deren Missachtung sich in der Schweiz kaum umgehen lasse (wie das Bundesgericht in diesem Entscheid ebenfalls ausführte). Das von der Verfahrensbeteiligten verfügte Kopftuchtrageverbot stellt jedoch einen Eingriff in eine „aktive“ Verhaltensregel, die von strenggläubigen Musliminnen eine bestimmte Verhaltensweise, nämlich das Tragen des Kopftuches ausserhalb des Hauses ab der Geschlechtsreife, verlangt bzw. es von ihnen abfordert. Aus dem oben genannten Zitat des Bundesgerichts lässt sich ohne weiteres schliessen, dass das Bundesgericht diesen Regeln, die ein aktives Verhalten von den Gläubigen verlangen (Verhüllen des Körpers), einen höheren Stellenwert beimisst als den im Alltagsleben ohnehin nicht einzuhaltenden passiven Verhaltensregeln. Zwar hat das Bundesgericht im Entscheid BGE 123 I 296 das Kopftuchtrageverbot gegenüber einer Lehrerin in der Schule für zulässig erachtet, doch ging es dort um die in einem Gesetz im formellen Sinn verankerte religiöse Neutralität der obligatorischen Schule. Vorliegend geht es um die Glaubens- und Gewissensfreiheit der betroffenen Beschwerdeführerinnen, wobei auch das Grundrecht auf persönliche Freiheit betroffen ist. Im Gegensatz zu einer Lehrerin ist eine Schülerin in keiner Weise zur religiösen Neutralität verpflichtet. Zwar ist das Verwaltungsgericht durchaus der Auffassung, dass allgemeine Kleidervorschriften ohne weiteres im Rahmen einer Schulordnung erlassen werden können und dürfen. Insofern ist es deshalb korrekt, wenn die Vorinstanzen ausführen, die Beschwerdeführerinnen befänden sich in einem Sonderstatusverhältnis, weshalb zur Einschränkung von Grundrechten weniger formelle Rechtsgrundlagen genügten. Wenn es aber um das Verbot einer für strenggläubige Musliminnen wichtigen Verhaltesregel geht, so genügt zu deren Einschränkung eine einfache Schulordnung nicht mehr. Dies muss umso mehr gelten, als letztlich zur Durchsetzung des Verbots ein Schulausschluss für bestimmte Zeit oder sogar der Antrag auf frühzeitigen Ausschluss bzw. Versetzung in eine andere Schulgemeinde angeordnet werden kann. Zur Einschränkung des Kopftuchtrageverbots bzw. zur Verweigerung des Dispenses davon aus religiösen Gründen bedarf es einer gesetzlichen Grundlage im formellen Sinn.
4.5 An anderen Schulen im Kanton Thurgau ist das Tragen eines Kopftuches erlaubt, obwohl diese Schulen ebenfalls bestimmte Kleidervorschriften kennen. Es stellt sich daher nicht nur die Frage der Verletzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie der persönlichen Freiheit, sondern auch der Rechtsgleichheit. Auch wenn der Erlass der Schulordnung grundsätzlich Sache der Schulgemeinden ist, so bedarf es wegen des Anspruchs auf rechtsgleiche Behandlung mit Bezug auf die Regelung eines Verbots des Tragens von Kopftüchern aus religiösen Gründen einer kantonalen Regelung. Diese hat festzulegen, ob, in welchem Umfang und aus welchen Gründen ein entsprechendes Kopftuchverbot durch die einzelnen Schulgemeinden erlassen werden darf und wann gegebenenfalls ein Dispens zu erteilen ist. Lediglich eine (nota bene undatierte und nicht unterschriebene) Schulordnung, deren Rechtmässigkeit nicht vorgängig überprüft werden konnte, genügt für einen so schweren Eingriff in die Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht. Einzig aus Gründen der Sicherheit (Schulsport, Werken) und damit gestützt auf die allgemeine Polizeiklausel kann im Einzelfall das Abziehen des Kopftuches dennoch verlangt werden. Dies aber nur dann, wenn keine andere Massnahme die gleiche Schutzwirkung erzielen kann. Die Beschwerde wird daher mangels genügender gesetzlicher Grundlage für ein allgemeines Kopftuchtrageverbot bzw. die Verweigerung des Dispenses davon gutgeheissen.
Entscheid VG.2011.186/E vom 6. Juni 2012
Das Bundesgericht hat eine dagegen gerichtete Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit Urteil 2C_794/2012 vom 11. Juli 2013 (= BGE 139 I 280) abgewiesen.