TVR 2013 Nr. 7
Widerruf der Niederlassungsbewilligung nach langjährigem Aufenthalt in der Schweiz
Ein Widerruf der Niederlassungsbewilligung nach einem über 15-jährigen Aufenthalt in der Schweiz ist auch dann möglich, wenn sich eine ausländische Person von strafrechtlichen Massnahmen nicht beeindrucken lässt und damit zeigt, dass sie auch zukünftig weder gewillt noch fähig ist, sich an die Rechtsordnung zu halten. Insofern kann auch eine Summierung von Verstössen, die für sich genommen für einen Widerruf nicht ausreichen würden, einen Bewilligungsentzug rechtfertigen.
Der 1987 geborene mazedonische Staatsangehörige N reiste im Juni 1994 zusammen mit seiner Mutter und seinen zwei Geschwistern im Rahmen des Familiennachzuges in die Schweiz ein. Bereits als Kind fiel er durch Tätlichkeiten in der Schule auf. Im Mai 2003 erfolgte eine Strafverfügung, weil er einen Mitschüler umgestossen und sich dieser am Rücken verletzt hatte. Seit 12. Oktober 2004 ist N im Besitz der Niederlassungsbewilligung C. Mit Strafverfügung des Bezirksamtes K vom 7. Juli 2005 musste er wegen Führens eines Kleinmotorrades ohne gültigen Fahrausweis mit Busse bestraft werden. Im Juni 2005 schlug er einem Jugendlichen bei einer Auseinandersetzung mehrfach ins Gesicht und auf die Brust. Die Jugendanwaltschaft des Kantons Thurgau bestrafte ihn wegen einfacher Köperverletzung. Aufgrund dieser verschiedenen Strafverfügungen wurde am 16. Januar 2006 erstmals eine Verwarnung vom Migrationsamt ausgesprochen. Wegen mehrfacher Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz wurde N im Juli 2007 sodann mit einer Geldstrafe und einer Busse belegt. Hierauf erfolgte eine formlose Ermahnung von Seiten des Migrationsamtes. Nach weiteren Verkehrsregelverletzungen wurde N im August 2009 durch das Untersuchungsrichteramt des Kantons Schaffhausen wegen einfacher Körperverletzung bestraft. N hatte einem Schweizer nach einer verbalen Auseinandersetzung mit der Faust ins Gesicht geschlagen und das linke Auge getroffen. Aufgrund dieser erneuten Verurteilungen sprach das Migrationsamt am 15. Oktober 2009 eine zweite Verwarnung aus. Im August 2009 überschritt N erneut die Geschwindigkeit innerorts massiv und benutzte gleichzeitig ein Mobiltelefon. Gegenüber der Polizei Schaffhausen bezeichnete er seinen Vater als Lenker, der das entsprechende Formular auch unterzeichnete, um seinem Sohn zu helfen. Deswegen wurde er wegen mehrfacher Verletzung der Verkehrsregeln und falscher Anschuldigung erneut bestraft. Am 10. Januar 2010 schlug er erneut einem Schweizer die Faust ins Gesicht. Als dieser darauf zu Boden ging, trat er ihm mit dem Fuss ins Gesicht. Im Juni 2010 kam es ausserorts zudem wieder zu einer massiven Geschwindigkeitsüberschreitung. Der Führerausweis wurde ihm polizeilich abgenommen. Am 25. September 2011 kam es erneut zu einer Auseinandersetzung mit einem Schweizer, wobei dieser mehrere Schläge an verschiedenen Körperstellen einstecken musste. Auch dies führte erneut zu einer Bestrafung.
Mit Verfügung vom 23. April 2012 widerrief das Migrationsamt die Niederlassungsbewilligung und wies N per 31. Juli 2012 aus der Schweiz aus. Der gegen diesen Entscheid erhobene Rekurs wurde mit Entscheid vom 9. August 2012 vollumfänglich abgewiesen und es wurde verfügt, dass N die Schweiz innerhalb eines Monats seit Rechtskraft des Entscheides zu verlassen habe. Die dagegen erhobene Beschwerde weist das Verwaltungsgericht ebenfalls ab.
Aus den Erwägungen:
2. Ein Widerruf der Niederlassungsbewilligung von Ausländerinnen und Ausländern, die sich seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz aufhalten, kommt dann in Betracht, wenn die ausländische Person zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt oder gegen sie eine strafrechtliche Massnahme im Sinne von Art. 64 oder 61 StGB angeordnet wurde (Art. 63 Abs. 2 i.V. mit Art. 62 lit. b AuG), was vorliegend nicht der Fall ist, nachdem die verschiedenen Delikte betreffend Körperverletzung eher milde bestraft wurden. Zudem kann ein Widerruf der Niederlassungsbewilligung erfolgen, wenn die ausländische Person in schwerwiegender Weise gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland verstossen hat oder diese gefährdet oder die innere oder äussere Sicherheit gefährdet (Art. 63 Abs. 2 i.V. mit Abs. 1 lit. b AuG).
3. Die öffentliche Sicherheit und Ordnung bildet den Oberbegriff der polizeilichen Schutzgüter. Die öffentliche Ordnung umfasst die Gesamtheit der ungeschriebenen Ordnungsvorstellungen, deren Befolgung nach der herrschenden sozialen und ethischen Anschauung als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten Zusammenlebens anzusehen ist. Die öffentliche Sicherheit bedeutet die Unverletzlichkeit der objektiven Rechtsordnung, der Rechtsgüter der Einzelnen (Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum etc.) sowie der Einrichtungen des Staates. Eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegt somit insbesondere dann vor, wenn gesetzliche Vorschriften und behördliche Verfügungen missachtet werden, mutwillig öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Verpflichtungen nicht erfüllt werden oder Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten öffentlich gebilligt oder dafür geworben wird oder zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufgestachelt wird. Selbst wenn einzelne Verstösse für sich allein noch keinen Widerruf rechtfertigen, kann deren wiederholte Begehung jedoch darauf hinweisen, dass die betreffende Person nicht gewillt oder nicht fähig ist, sich an die geltende Ordnung zu halten. Eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegt vor, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Aufenthalt der betroffenen Person in der Schweiz mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einem Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung führt (Hunziker, in: Caroni/Gächter/Thurnherr [Hrsg.], Handkommentar zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer, Bern 2010, Art. 62 N. 38 f.). (…)
4.
4.1 Der Beschwerdeführer reiste am 1. Juli 1994 zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern im Rahmen des Familiennachzuges in die Schweiz ein. Im Oktober 2004 erhielt er die Niederlassungsbewilligung C. Zuvor war er lediglich durch Tätlichkeiten in der Schule aufgefallen. Dementsprechend kann nicht beanstandet werden, dass dem Beschwerdeführer die Niederlassungsbewilligung erteilt wurde. Der vorliegende Fall unterscheidet sich daher wesentlich vom Entscheid des Bundesgerichts 2C_303/2011 vom 7. März 2012, worin den Behörden unter anderem vorgeworfen wurde, dass sie früher nichts gegen den betreffenden Beschwerdeführer unternommen hätten. Vorliegend kann zudem festgestellt werden, dass das Ausländer- bzw. Migrationsamt gegen den Beschwerdeführer sowohl im Sommer 2007 wie auch im Oktober 2009 Verwarnungen aussprachen. Die Behörden waren somit nicht untätig geblieben.
4.2 Wesentlich ist vorliegend, dass der Beschwerdeführer trotz zwei Verwarnungen immer wieder straffällig geworden ist. Dabei gleichen sich die Delikte, geht es doch einerseits um nicht unerhebliche Verkehrsdelikte, andererseits um Schlägereien und andere Gewaltdelikte. Der Beschwerdeführer bringt nun vor, dass er sich durch die gezielten Therapien gebessert habe und ihm somit eine günstige Prognose gestellt werden müsse. Dazu lässt er eine Bestätigung von P, Psychotherapeut APS, vom 15. Oktober 2012, einreichen. Derselbe Psychotherapeut hatte bereits am 16. März 2012 gegenüber dem Strassenverkehrsamt ausgeführt, dass der Beschwerdeführer nun entspannter und ruhiger Auto fahren könne, da er ein gewöhnliches Mittelklasseauto gekauft habe und sich nun nicht mehr von anderen provozieren lassen müsse. Er fühle sich lockerer und weniger gestresst, was sich positiv auf sein Fahrverhalten auswirke. Im neueren Bericht von P vom 15. Oktober 2012 wird ausgeführt, dass die Verkehrsdelikte Anlass für die Therapie gewesen seien. Danach sei er aber auch wegen der Auseinandersetzungen mit den Jugendlichen zu ihm gekommen. Das Hauptproblem liege bei Provokationen, auf die sich der Beschwerdeführer zu schnell eingelassen habe. Dies habe mit seinem südländischen Charakter zu tun, aber auch mit den schwierigen Erlebnissen aus seiner Kinder- und Jugendzeit. Eine kriminelle Energie werde nicht festgestellt. Er sei reifer geworden, so dass sich solche Vorfälle nicht mehr wiederholen sollten.
4.3 Am 23. September 2011 erstattete Dr. phil. K ein Fahreignungsgutachten zuhanden des Strassenverkehrsamtes. Darin wurde festgehalten, dass der Beschwerdeführer während der Untersuchung freundlich und offen gewesen sei. Im emotionalen Verhalten zeige sich im Bereich der aggressiven Interaktion eine Verbesserung, die Impulskontrolle sei aber weiterhin ungenügend. Im Bereich der Einsicht mangle es dem Probanden noch an differenziertem Wissen über die Hintergründe und Ursachen für sein Verhalten. Im Bereich der Kritikfähigkeit und Belehrbarkeit zeige sich noch eine Schwankung. Es scheint, dass vor allem der Führerausweisentzug für den Beschwerdeführer entsprechend behindernd war, was letztlich dazu führte, dass er sich freiwillig einer Therapie unterzog. Der Entscheid betreffend Widerruf der Niederlassungsbewilligung hat wohl auch dazu beigetragen, dass er sich nun um eine Therapie und damit um eine positive persönliche Bewertung bemühte. Diese Einsicht erfolgte aber erst unter massivem Druck, weshalb nicht davon ausgegangen werden kann, dass tatsächlich ein Umdenken stattgefunden hat. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass weder die erste noch die zweite Verwarnung irgend etwas bewirkt hatten und erst ein Führerausweisentzug sowie eine Verfügung betreffend Widerruf der Niederlassungsbewilligung den Beschwerdeführer veranlasst haben, ernsthafte Massnahmen vorzukehren, um die Situation noch zu retten.
4.4 Verfolgt man das bisherige Verhalten des Beschwerdeführers, so ist er dauernd und stetig und trotz Verwarnungen immer wieder straffällig geworden, obwohl er offenbar in fester Anstellung ist und ein angemessenes Einkommen erzielt. Auch seine Familie und die Freundin haben ihn nicht zu einem Umdenken bewogen. Die vielen verschiedenen Strafdelikte lassen klar den Schluss zu, dass die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch den Beschwerdeführer gefährdet ist. Die von ihm immer wieder begangenen Delikte (sowohl die massiven Tempoexzesse wie auch die Prügelattacken) sind denn auch geeignet, Personen massiv zu verletzen oder sogar zu töten. Gerade die Gewaltdelikte und massiven Verkehrsregelverletzungen lassen denn auch einen äusserst negativen Eindruck vom Beschwerdeführer entstehen. Er demonstrierte hierdurch eine ausgeprägte soziale Gefährlichkeit und eine inakzeptable Geringschätzung gegenüber der schweizerischen Rechtsordnung im Allgemeinen und der Gesundheit anderer Menschen im Besonderen. Daran ändert auch nichts, dass der Beschwerdeführer geltend macht, die Körperverletzungen jeweils alkoholisiert begangen zu haben, da ein erhebliches öffentliches Interesse gerade an der Entfernung von Personen gegeben ist, bei denen ein erhöhtes Risiko besteht, dass sie in alkoholisiertem Zustand Gewaltdelikte begehen (Entscheid des Bundesgerichts 2C_113/2011 vom 16. Juni 2011, E. 2.5). Dem vermag auch die unter dem Druck der Ausweisung und des Führerscheinentzuges vom (privaten) Therapeuten festgestellte positive Entwicklung nichts entgegen zu setzen, zumal auch das verkehrspsychologische Gutachten eine weitere Auffälligkeit im Strassenverkehr in keiner Weise ausschliesst und der Beschwerdeführer offenbar zuvor bereits eine Therapie absolviert hatte und trotzdem wieder auffällig geworden war. Zudem ist aus den polizeilichen Berichten in keiner Weise zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer anlässlich der relevanten Auseinandersetzungen die Opferrolle eingenommen hätte, noch sind in den Akten schwierige Erlebnisse dokumentiert; vielmehr macht der Beschwerdeführer selber ein stabiles Umfeld geltend und führte aus, dass er in geordneten Verhältnissen aufgewachsen sei. Zudem war der Beschwerdeführer anlässlich des Vorfalles vom 10. Januar 2011 bereits gut 22 Jahre und beim Vorfall vom 25. September 2011 24 Jahre alt und es kann somit in keiner Weise mehr von einer Prügelei unter Jugendlichen gesprochen und davon ausgegangen werden, dass sich dies nicht mehr wiederhole, sobald der Beschwerdeführer aus der Pubertät hinaus ist. Es ist daher anzunehmen, dass P nicht die ganze Tragweite der Vorfälle bekannt war bzw. ist. Diese entsprechen denn auch immer dem gleichen Muster. Eine Verwarnung im Ausländerrecht dient im Übrigen explizit dazu, die betroffene Person darauf aufmerksam zu machen, dass ihre Verhaltensweise nicht länger toleriert wird und bietet die Chance, sich zukünftig klaglos zu verhalten. Der Beschwerdeführer wurde wegen seines langen Aufenthaltes sogar noch ein zweites Mal verwarnt, nachdem er zwischenzeitlich noch formlos ermahnt wurde, ohne dass er sich davon beeindrucken lassen hätte. Vielmehr erfolgte auf die Verwarnung vom 15. Oktober 2009 bereits am 10. Januar 2010 ein weiterer Vorfall in D. Wenn unter diesen Umständen ein Widerruf der Niederlassungsbewilligung sowie die Wegweisung aus der Schweiz nicht möglich sein sollten, würde das Instrument der fremdenpolizeilichen Verwarnung seines Gehalts entleert, was auch aus sozialpräventiven Gesichtspunkten zu vermeiden ist. Insofern darf auch ein relativ strenger Massstab angelegt werden.
5.
5.1 Zu prüfen ist sodann in einem weiteren Schritt, ob eine Interessenabwägung den Widerruf der Niederlassungsbewilligung rechtfertigt, wobei namentlich die Schwere des Verschuldens, die Dauer der Anwesenheit sowie die den Betroffenen und seiner Familie drohenden Nachteile zu berücksichtigen sind (Entscheid des Bundesgerichts 2C_515/2009 vom 27. Januar 2010, E. 2.2). Das öffentliche Interesse muss und darf vorliegend als gross bezeichnet werden. Der Beschwerdeführer ist wiederholt straffällig geworden; sein aggressives und unberechenbares Verhalten hat zu erheblichen Problemen geführt. Auch wenn ihm vom privaten Therapeuten nunmehr eine gute Entwicklung attestiert wird (wobei nicht davon auszugehen ist, dass P die ganze Sachlage wahrheitsgetreu bekannt war), geht vom Beschwerdeführer eine nicht zu unterschätzende potenzielle Gefahr für weitere (auch folgenschwere) Delikte aus, weshalb klar ein Interesse daran besteht, dass er aus der Schweiz ferngehalten wird.
5.2 In Bezug auf das private Interesse an einem Verbleib in der Schweiz muss festgestellt werden, dass dieses sicher subjektiv relativ gross ist. Offenbar lebt der Beschwerdeführer in einer festen Beziehung; er gibt sogar an, verlobt zu sein. Er ist jedoch seiner Muttersprache mächtig (wobei erfahrungsgemäss nicht davon auszugehen ist, dass er diese „mehr schlecht als recht“ spricht) und kann mit der abgeschlossenen Lehre in seinem Heimatland grundsätzlich eine gute Basis auch für ein wirtschaftliches Fortkommen finden. Die Tatsache, dass die Eltern und die Geschwister in der Schweiz leben, führt nicht dazu, dass er nicht alleine nach Mazedonien zurückkehren könnte. Der Beschwerdeführer ist im November 25 Jahre alt geworden und somit ohne weiteres fähig, auf eigenen Füssen zu stehen (vgl. dazu auch Entscheid des Bundesgerichts 2C_113/2011 vom 16. Juni 2011, E. 2.5). Die familiären Kontakte kann er auch vom Heimatland aus pflegen. Einer Wegweisung steht daher auch Art. 8 EMRK nicht entgegen, nachdem dieser Anspruch nicht absolut gilt (Urteil des Bundesgerichts 2C_515/2009 vom 27. Januar 2010, E. 2.2). Der Widerruf der Niederlassungsbewilligung erweist sich daher auch als verhältnismässig.
Entscheid VG.2012.140/E vom 19. Dezember 2012
Das Bundesgericht hat eine gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit Urteil 2C_160/2013 vom 15. November 2013 abgewiesen.