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TVR 2014 Nr. 35

Örtliche Zuständigkeit bei Klagen aus Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung bei internationalem Sachverhalt


Art. 12 Abs. 3 KVG, Art. 8 LugÜ, Art. 9 LugÜ, Art. 13 LugÜ, Art. 14 LugÜ, § 69 Abs. 1 Ziff. 3 VRG


1. Die Frage, ob der Kläger in Deutschland oder in der Schweiz Wohnsitz hat, beurteilt sich aufgrund des LugÜ (E. 2.2).

2. Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung werden durch das VVG erfasst und sind entsprechend ebenfalls im Rahmen des LugÜ als Versicherungssache zu qualifizieren (E. 3.1).

3. Die dem Versicherungsnehmer durch Art. 9 LugÜ gewährten Wahlrechte können ihm nicht durch eine Vereinbarung der ausschliesslichen Zuständigkeit am Sitz eines Versicherungsunternehmens vorenthalten werden (E. 3.3).


F ist bei der V AG krankentaggeldversichert. Aufgrund einer Krankmeldung der damaligen Arbeitgeberin wurden ihm Taggelder ausgerichtet. Ab dem 1. Mai 2013 leistete die V AG nur noch Taggelder im Umfang von 50%. Auf eine dagegen erhobene Klage tritt das Versicherungsgericht mangels örtlicher Zuständigkeit nicht ein.

Aus den Erwägungen:

1.1 Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung nach dem KVG unterstehen nach Art. 12 Abs. 3 KVG dem VVG. Das Bundesgericht subsumiert kollektive Krankentaggeldversicherungen wie alle weiteren Taggeldversicherungen unter den Begriff der Zusatzversicherung zur sozialen Krankenversicherung (Urteil des Bundesgerichts 4A_47/2012 vom 12. März 2012 E. 2). Die Kantone können gestützt auf Art. 7 ZPO ein Gericht bezeichnen, welches als einzige kantonale Instanz für Streitigkeiten in diesem Gebiet sachlich zuständig ist. Im Kanton Thurgau liegt die Zuständigkeit beim Verwaltungsgericht als Versicherungsgericht (§ 69a Abs. 1 Ziff. 3 VRG). Nachdem das Bundesgericht Streitigkeiten aus Versicherungsverträgen regelmässig als Streitigkeiten aus Konsumentenverträgen bezeichnet (Entscheid 4A_695/2011 vom 18. Januar 2012 E. 3.1), ergibt sich die örtliche Zuständigkeit aus Art. 32 Abs. 1 lit. a ZPO. (…)

2.
2.1 (…)

2.2 In Zivil- und Handelssachen mit einem Auslandsbezug ist das LugÜ anwendbar, wenn der Beklagte in einem gebundenen Staat wohnt (Art. 2 Abs. 1 LugÜ). Am 1. Januar 2011 ist das revidierte LugÜ in Kraft getreten. Vorliegend ist als Vorfrage zu beantworten, ob der Kläger in S (Deutschland) oder in Weinfelden (Schweiz) seinen Wohnsitz hat. Insofern liegt ein internationaler Sachverhalt vor. Da sowohl Deutschland wie auch die Schweiz Vertragsstaaten des Lugano-Übereinkommens sind, ist für die Beurteilung des Wohnsitzes das LugÜ anwendbar. Sofern ein Wohnsitz in der Schweiz bejaht werden sollte, würde sich auch die Zuständigkeit innerhalb der Schweiz nach schweizerischem Recht richten. Bei einem Wohnsitz in Deutschland wäre die örtliche Zuständigkeit ebenfalls nach dem LugÜ (allenfalls in Verbindung mit dem IPRG) zu bestimmen.

2.3 Art. 59 Abs. 1 LugÜ statuiert, dass für die Bestimmung des Wohnsitzes die jeweilige lex fori massgebend ist. Dabei ist die internationale und nicht die dem internen Privatrecht bekannte Wohnsitzdefinition heranzuziehen. Gemäss Art. 20 Abs. 1 lit. a IPRG hat eine natürliche Person ihren Wohnsitz in dem Staat, in dem sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Zudem hält Abs. 2 fest, dass niemand an mehreren Orten zugleich Wohnsitz haben kann. Einen sogenannten „Wochenaufenthaltswohnsitz“ gibt es nicht. Der Wortlaut von Art. 20 Abs. 1 lit. a lehnt sich an denjenigen von Art. 23 Abs. 1 ZGB an. Bei der Auslegung kann daher grundsätzlich auf die Rechtsprechung zu Art. 23 ZGB zurückgegriffen werden (Westenberg, in: Honsell/Vogt et al. [Hrsg.], Basler Kommentar zum Internationalen Privatrecht, 3. Aufl., Basel 2013, Art. 20 N. 8 ff.).

2.4 Art. 23 Abs. 1 ZGB stellt zwei Kriterien auf, welche kumulativ erfüllt sein müssen; der objektive physische Aufenthalt und die subjektive Absicht dauernden Verbleibens. Massgebend ist dabei der Ort, wo sich der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen befindet (Staehelin, in: Honsell/Vogt et al. [Hrsg.], Basler Kommentar zum Zivilgesetzbuch, Band I, 4. Aufl., Basel 2010, Art. 23 N. 5 ff.). Gemäss den Angaben der Gemeinde S (Deutschland) vom 6. Juni 2013 ist der Kläger dort gemeldet. Offenbar besitzt er dort auch ein Haus, währenddem er in Weinfelden in einer kleinen Dachwohnung lebt. Gemäss der Wohnsitzbescheinigung der Gemeinde Weinfelden vom 20. Februar 2014 besteht seit dem 1. März 2012 zudem ein „Wohnsitz“ in Weinfelden, wobei sich der Kläger selber als „Wochenaufenthalter“ bezeichnet. Beim Wohnsitz nach Art. 23 ZGB und Art. 20 IPRG gilt jedoch eine Ausschliesslichkeit des Wohnsitzes, was bedeutet, dass eine Person nur einen Wohnsitz haben kann. Die Familie des Klägers (seine Ehefrau und die drei Kinder) lebt unbestrittenermassen in S. Anlässlich seiner Anmeldung zur Früherfassung bei der Invalidenversicherung gab der Kläger (neben seinen Handy-Nummern) lediglich eine deutsche Festnetznummer an. Der Kläger ist zudem in der Periode 2012 bis 2014 Elternbeirat am Gymnasium in G (Deutschland) und er lässt sich in Deutschland medizinisch behandeln. Weshalb diese Behandlung in Deutschland und nicht in der Schweiz erfolgt, ist dabei nicht von Bedeutung. Es zeigt aber, dass sich der Kläger offenbar häufiger in Deutschland aufhält und die diversen Krankmeldungen wurden denn auch von Dr. med. F, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, in M (Deutschland) verfasst. Ebenso ist der Kläger in Deutschland obligatorisch krankenversichert und er hat mit seiner Wohnadresse in Deutschland am 28. September 2012 eine Gewerbe-Abmeldung eingereicht. Üblicherweise befindet sich der Lebensmittelpunkt einer verheirateten Person denn auch am gemeinsamen Wohnort des Ehepartners und der Kinder. Dies umso mehr, wenn den Eltern noch eine Betreuungs- und Erziehungsfunktion über ihre Kinder zukommt. Gegenüber dem psychiatrischen Gutachter Dr. med. K, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, führte der Kläger im Mai 2013 denn auch aus, dass er seit seinem Klinikaustritt mehrheitlich in Deutschland gewesen, nachdem er vorher wegen Konflikten mit den Kindern und der Ehefrau jeweils wieder in seine Wohnung nach Weinfelden geflüchtet sei. Er bezeichnete sich gegenüber dem psychiatrischen Gutachter denn auch als „Alemanne“ und gab an, dass er die Zeit meistens mit seiner Familie verbringe und im Garten arbeite. Gegenüber dem Arzt des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) führte er zudem aus, dass er in wöchentlichen Abständen hin und her pendle. Auch der geschilderte Tagesablauf bezieht sich denn auf sein Familienleben in S. Ausser zu seiner Familie habe er alle Kontakte abgebrochen. Auch ergibt sich aufgrund der Akten nicht, dass der Kläger seine Erwerbstätigkeit in der Schweiz wieder aufgenommen hätte, nachdem er in seiner Klageschrift vom 14. März 2014 ausführt, dass bis zum 6. November 2013 durchgehend eine volle Arbeitsunfähigkeit vorgelegen habe und eine allfällige Arbeitsfähigkeit in einer adaptierten Tätigkeit erst nach einem begleitenden Wiedereingliederungsversuch im geschützten Rahmen überhaupt in Betracht zu ziehen sei. Entgegen den Ausführungen des Klägers ist daher unter Würdigung der Akten zum Zeitpunkt der Klageeinreichung von einem effektiven Wohnsitz in S, Deutschland, auszugehen (vgl. dazu auch Art. 8 ZGB), was einen gleichzeitigen Wohnsitz in Weinfelden ausschliesst. Für die Frage der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau für die vorliegende Klage ist daher ebenfalls auf das LugÜ abzustellen.

3.
3.1 Für Klagen in Versicherungssachen bestimmt sich die Zuständigkeit nach den Art. 9 ff. LugÜ (Art. 8 LugÜ). Der Begriff der Versicherungssache ist vertragsautonom auszulegen und beinhaltet ausschliesslich privatrechtliche Versicherungsverhältnisse. Ausschlaggebendes Kriterium ist damit, ob „die Leistungsabwicklung auf der Grundlage eines Gleichordnungsverhältnisses“ erfolgt. Nicht als Versicherungssachen im Sinne des LugÜ gelten öffentlich-rechtliche Versicherungsverhältnisse. Das trifft ausdrücklich zu für den gesamten Bereich der Sozialversicherung. Allerdings unterstehen Art. 8 ff. LugÜ wiederum Versicherungssachen, die zwar eine soziale Komponente aufzuweisen vermögen, die aber vom Privatrecht beherrscht sind. In der Schweiz ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Krankenversicherung zu erwähnen. Während die Grundversicherung eine Sozialversicherung darstellt und daher nicht dem LugÜ untersteht, sind „Versicherungssachen“ privatrechtliche Zusatzverträge zu der Grunddeckung, wie sie seit der Revision des Krankenversicherungsrechts bekannt sind. Die Zusatzverträge werden durch das VVG erfasst und sind entsprechend ebenfalls im Rahmen des LugÜ als Versicherungssache zu qualifizieren (Dasser/Oberhammer, Kommentar zum Lugano Übereinkommen, Bern 2011, Art. 7 [Art. 8 revLugÜ] Rz. 2 ff.). Verfahrensgegner von Versicherungsunternehmen können grundsätzlich alle Personen sein, die aus einem Versicherungsvertrag Rechte ableiten oder für welche Pflichten begründet werden (Dasser/Oberhammer, a.a.O., Art. 7 [Art. 8 revLugÜ] Rz. 9).

3.2 In Ziff. 23 der Allgemeinen Bedingungen der Beklagten wird Folgendes festgehalten: „Für Streitigkeiten aus diesem Vertrag anerkennt die V den Gerichtsstand des schweizerischen Wohnsitzes des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Anspruchsberechtigten“. Nach ständiger Rechtsprechung hat die Auslegung der Allgemeinen Versicherungsbedingungen nach dem Vertrauensprinzip zu erfolgen. Es ist darauf abzustellen, wie die zur Streitigkeit Anlass gebende Willenserklärung vom Empfänger in guten Treuen verstanden werden durfte und musste. Dabei ist nicht auf den inneren Willen des Erklärenden abzustellen, sondern auf den objektiven Sinn seines Erklärungsverhaltens. Der Erklärende hat gegen sich gelten zu lassen, was ein vernünftiger und korrekter Mensch unter der Erklärung verstehen durfte. Weiter sind die besonderen Auslegungsregeln bei Allgemeinen Geschäfts- oder Versicherungsbedingungen zu beachten, insbesondere die Unklarheits- und die Ungewöhnlichkeitsregel (BGE 132 V 149 E. 5). Ob durch die Formulierung der Beklagten (Anerkennung des Gerichtsstands am schweizerischen Wohnsitz) ein anderer Gerichtsstand ausgeschlossen wird, erscheint mehr als fraglich. Insbesondere wird denn auch nirgendwo ausgeführt, dass ein Gerichtsstand am Sitz der Beklagten alternativ nicht mehr möglich sein sollte. Aufgrund der anwendbaren Bestimmungen im LugÜ braucht auf diese Frage aber nicht weiter eingegangen zu werden.

3.3 Art. 9 Abs. 1 LugÜ hält nämlich explizit fest, dass ein Versicherer, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines durch dieses Übereinkommen gebundenen Staates hat, verklagt werden kann: a) vor den Gerichten des Staates, in dem er seinen Wohnsitz hat; b) in einem anderen durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat bei Klagen des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten vor dem Gericht des Ortes, an dem der Kläger seinen Wohnsitz hat. Relevant ist dabei der Wohnsitz im Zeitpunkt der Klageerhebung, nicht zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrages (Oetiker/Jenny, in: Oetiker/Weibel [Hrsg.], Basler Kommentar zum Lugano-Übereinkommen, Basel 2011, Art. 9 N. 12). Das bedeutet jedoch auch, dass sich bei Verlegung des Wohnsitzes durch den Versicherungsnehmer in einen anderen Staat die Wahlmöglichkeit in Bezug auf das klägerische Forum ändert; dies hat sich ein Versicherungsunternehmen gefallen zu lassen (Dasser/Oberhammer, a.a.O., Art. 8 [Art. 9 revLugÜ] Rz. 13). Die dem Kläger durch Art. 9 LugÜ gewährten Wahlrechte können den Versicherungsnehmern nicht etwa durch Vereinbarung der ausschliesslichen Zuständigkeit am Sitz eines Versicherungsunternehmens vorenthalten werden, was auch für den umgekehrten Fall gelten muss. Folgerichtig schränkt nämlich Art. 13 LugÜ in ganz erheblichem Ausmass die Freiheit der Parteien ein, im Vertrag eine Gerichtsstandsvereinbarung zu treffen. Von den Vorschriften von Art. 9 LugÜ kann im Wege der Vereinbarung nur abgewichen werden: 1. wenn die Vereinbarung nach der Entstehung der Streitigkeit getroffen wird; 2. wenn sie dem Versicherungsnehmer, Versicherten oder Begünstigten die Befugnis einräumt, andere als die in diesem Abschnitt angeführten Gerichte anzurufen; 3. wenn sie zwischen einem Versicherungsnehmer und einem Versicherer, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in demselben durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat haben, getroffen ist, um die Zuständigkeit der Gerichte dieses Staates auch für den Fall zu begründen, dass das schädigende Ereignis im Ausland eintritt, es sei denn, dass eine solche Vereinbarung nach dem Recht dieses Staates nicht zulässig ist; 4. wenn sie von einem Versicherungsnehmer geschlossen ist, der seinen Wohnsitz nicht in einem durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat hat, ausgenommen soweit sie eine Versicherung, zu deren Abschluss eine gesetzliche Verpflichtung besteht, oder die Versicherung von unbeweglichen Sachen in einem durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat betrifft, oder 5. wenn sie einen Versicherungsvertrag betrifft, soweit dieser eines oder mehrere der in Art. 14 aufgeführten Risiken deckt (Art. 13 LugÜ). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Insofern hat die Gerichtsstandsvereinbarung in Ziff. 23 der Allgemeinen Bedingungen der Beklagten vor dem LugÜ keinen Bestand. Dies bedeutet im Ergebnis jedoch, dass der gesetzlich festgelegte Wahlgerichtsstand des Klägers nicht ausgeschlossen werden konnte und ihm nach wie vor eine Klagemöglichkeit sowohl an seinem Wohnsitz in Deutschland wie auch am Sitz der Beklagten in Lausanne zusteht. Diesbezüglich wäre im Kanton Waadt seit dem 1. Januar 2011 an den ordentlichen Zivilrichter und nicht an den „Cour des assurances sociales“ in Lausanne zu gelangen. Nicht zuständig für die vorliegende Klage ist jedoch - mangels eines Wohnsitzes im Kanton Thurgau - das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau. Auf die Klage vom 14. März 2014 ist daher nicht einzutreten. Nachdem dem Kläger ein Wahlgerichtsstand zusteht, ist eine Überweisung der Verfahrensakten an das zuständige Gericht jedoch nicht möglich. Eine solche Pflicht ergibt sich denn auch nicht aus der ZPO.

Entscheid des Versicherungsgerichts VV.2014.74/E vom 2. Juli 2014

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