TVR 2015 Nr. 18
Sicherungsentzug, Überprüfung der Fahreignung mittels Fahreignungsuntersuchung und Kontrollfahrt
Art. 15 d Abs. 5 SVG, Art. 16 Abs. 1 SVG, § 10 a VRG, Art. 29 VZV
1. Wird eine Kontrollfahrt zur Überprüfung der Fahreignung angeordnet, kann das Gericht das Ergebnis nur hinsichtlich der Frage überprüfen, ob die für den Entscheid zuständige und fachlich kompetente Behörde alle wesentlichen Gesichtspunkte vollständig und gewissenhaft geprüft hat bzw. ob sich die Bewertung allenfalls als offensichtlich bzw. krass falsch, also willkürlich erweist (E. 2.3).
2. Es kann nicht verlangt werden, dass eine Kontrollfahrt zur Ermittlung der Fahreignung in italienischer Sprache durchgeführt wird (E. 2.4.3).
G, geboren am 3. Juli 1938, verursachte am Sonntag, 1. Dezember 2013, auf der Walchebrücke in Zürich einen Verkehrsunfall. Beim Wechseln der Spur nahm er ungenügend Rücksicht und verursachte eine seitliche Streifkollision. In der Folge beging er „Fahrerflucht“. Am 16. Dezember 2013 fuhr G um 20.45 Uhr von der Rudenzburgkreuzung in Wil pflichtwidrig in eine Einbahnstrasse ein. Aufgrund dieser Sachverhalte sowie der Aussagen anlässlich der anschliessenden polizeilichen Einvernahme bestanden Zweifel an der Fahreignung von G, weshalb das Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau ihm auf unbestimmte Zeit den Führerausweis aller Kategorien, Unterkategorien und Spezialkategorien entzog. Ein definitiver Entscheid könne erst nach Vorliegen eines verkehrsmedizinischen Gutachtens getroffen werden. Im anschliessend eingeholten Gutachten wurde ausgeführt, aus verkehrsmedizinischer Sicht sei die Durchführung einer ärztlich begleiteten Kontrollfahrt zu empfehlen. Diese fand im Beisein eines Prüfungsexperten des Strassenverkehrsamts sowie einer Fachärztin für Rechtsmedizin statt. G bestand die Prüfungsfahrt nicht. Daher verfügte das Strassenverkehrsamt, G werde der Führerausweis aller Kategorien, Unterkategorien sowie Spezialkategorien entzogen. Den dagegen erhobenen Rekurs wies die Rekurskommission für Strassenverkehrssachen ab. Deshalb gelangte G an das Verwaltungsgericht, das die Beschwerde ebenfalls abweist.
Aus den Erwägungen:
2.
2.1 Laut Art. 14 Abs. 1 SVG müssen Motorfahrzeugführer über Fahreignung und Fahrkompetenz verfügen. Über Fahreignung verfügt, wer unter anderem die erforderliche körperliche und psychische Leistungsfähigkeit zum sicheren Führen von Motorfahrzeugen hat (Art. 14 Abs. 2 lit. b SVG). Über Fahrkompetenz verfügt, wer die Verkehrsregeln kennt und die Fahrzeuge der Kategorie, für die der Ausweis gilt, sicher führen kann (Art. 14 Abs. 3 SVG). Ausweis und Bewilligungen sind zu entziehen, wenn festgestellt wird, dass die gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung nicht oder nicht mehr bestehen (Art. 16 Abs. 1 SVG). Bestehen Zweifel an der Fahreignung einer Person, so wird diese einer Fahreignungsuntersuchung unterzogen (Art. 15d Abs. 1 SVG). Bestehen Zweifel an der Fahrkompetenz einer Person, so kann diese einer Kontrollfahrt, einer Theorieprüfung, einer praktischen Führerprüfung oder einer anderen geeigneten Massnahme wie einer Aus- oder Weiterbildung oder einer Nachschulung unterzogen werden (Art. 15d Abs. 5 SVG). Bei ernsthaften Zweifeln an der Fahreignung einer Person kann der Lernfahr- oder Führerausweis laut Art. 30 VZV vorsorglich entzogen werden. Wenn Zweifel an der Fahreignung einer Person im Sinne von Art. 15d Abs. 1 SVG bestehen, so hat die kantonale Behörde eine Fahreignungsuntersuchung anzuordnen (Art. 28a Abs. 1 VZV).
2.2 Das Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau gelangte aufgrund der Vorfälle mit der Streifkollision in Zürich sowie dem Nichtbeachten des Vorschriftsignals „Einfahrt verboten“ in Wil und der anlässlich der Einvernahme vom 16. Dezember 2013 gegebenen Antworten zur Auffassung, der vorsorgliche Entzug des Führerausweises sowie ein verkehrsmedizinisches Gutachten seien angezeigt. Diesen Entscheid hat der Beschwerdeführer nicht angefochten, weshalb er in Rechtskraft erwuchs. In der Folge erstellte Dr. med. P dieses verkehrsmedizinische Gutachten. In diesem Gutachten hielt Dr. P auf Seite 4 fest, was folgt:
„Zusammenfassend ist bei G eine Blutzuckererkrankung bekannt, die medikamentös durch den Hausarzt therapiert wird. Der Fernvisus war mit und ohne Brille für das Lenken eines Motorfahrzeuges der 3. medizinischen Gruppe genügend. Da klinisch keine relevanten Defizite der Hirnleistungen festgestellt werden konnten und wegen tiefer Schulbildung die Kurztests zur Überprüfung der Hirnleistungsfunktionen wenig aussagekräftig sind, ist aus verkehrsmedizinischer Sicht die Durchführung einer ärztlich begleiteten Kontrollfahrt in diesem Moment - und insbesondere vor dem Hintergrund des belasteten automobilistischen Leumundes des Exploranden - sehr zu empfehlen.
Aus verkehrsmedizinischer Sicht kann zur Fahreignung von G zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht Stellung genommen werden.
Für eine definitive Beurteilung sollte G ein provisorischer Lernfahrausweis erteilt werden, womit Fahrten nur mit einem konzessionierten Fahrlehrer stattfinden können. In der Folge sollte dann eine ärztlich begleitete Kontrollfahrt stattfinden.“
2.3 Gestützt auf diese erste verkehrsmedizinische Begutachtung wurde dem Beschwerdeführer der provisorische Lernfahrausweis erteilt. Gleichzeitig bot ihn das Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau zu einer Kontrollfahrt im Sinne von Art. 29 VZV auf. Diese Bestimmung besagt, dass bei Zweifeln an der Fahreignung oder der Fahrkompetenz eines Fahrzeugführers zur Abklärung der notwendigen Massnahme eine Kontrollfahrt angeordnet werden kann (Art. 29 Abs. 1 VZV). Die Kontrollfahrt kann nicht wiederholt werden (Art. 29 Abs. 3 VZV). Was die Überprüfung der Ergebnisse einer solchen Kontrollfahrt durch das Gericht betrifft, hielt das Bundesgericht in BGE 136 II 61 E. 1.1.1 fest, es sei zu berücksichtigen, dass sich bei der Beurteilung von persönlichen - geistigen und körperlichen - Fähigkeiten einer Person letztlich kaum justiziable Fragen stellten. Soweit sich ein Gericht mit solchen auf Fachwissen beruhenden und stark ermessengeprägten Bewertungen zu befassen habe, könne es regelmässig sinnvollerweise nur untersuchen, ob die für den Entscheid zuständigen und fachlich kompetenten Behörden unter Wahrung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Verfahrensgarantien alle wesentlichen Gesichtspunkte vollständig und gewissenhaft geprüft hätten bzw. ob sich die Bewertung allenfalls als offensichtlich bzw. krass falsch, das heisst willkürlich, erweise (BGE 136 II 61 E. 1.1.1 mit Hinweisen).
2.4
2.4.1 Im Prüfungsbericht vom 28. April 2014 bemängelte der Prüfungsexperte bei den Kategorien Verkehrssehen, Verkehrstaktik und Verkehrsvorgänge, bei der Fahrzeugbeherrschung und bei der Fahrzeugbedienung insgesamt elf (Kritik-)Punkte. Insbesondere musste der Experte feststellen, dass der Beschwerdeführer über Sperrflächen gefahren war und Fahrverbote und Gebote missachtet hatte. Der Experte stellte allgemein verlangsamte Abläufe fest. Diese Beobachtung der ganz allgemein verlangsamten Abläufe stimmt auch mit dem überein, was von Dr. P als leicht verlangsamtes kognitives Tempo bezeichnet wurde. Die begleitende Ärztin gab in ihrer verkehrsmedizinischen Begutachtung vom 29. April 2014 an, dass bereits zu Beginn der Fahrt eine sehr vorsichtige und unsichere Fahrweise aufgefallen sei. Dem Beschwerdeführer sei es nicht möglich gewesen, mit dem Tempo mitzuhalten. Innerorts wie ausserorts sei die Tempogestaltung ungenügend gewesen („zum Beispiel in einer 80er-Zone nur 50 km“). Der Explorand sei mehrfach in Verbotsstrassen gefahren, ohne Signalisationen beachtet zu haben. Der Beschwerdeführer habe in vielen komplexen Situationen durchaus überfordert gewirkt. Sowohl Bodenmarkierungen als auch Schildsignalisationen habe er teilweise zu spät oder gar nicht erkannt. Die Beobachtung nach hinten sei teilweise falsch gewesen. Trotz mehrfacher verbaler Ermahnung durch den Experten habe er immer wieder ähnliche Fahrfehler gemacht. Ein Lerneffekt sei nicht zu erkennen gewesen. Auf der Autobahneinfahrt sei die Beobachtung viel zu spät gekommen. In den verkehrsmedizinisch relevanten Aspekten Aufmerksamkeit/Konzentration, Wahrnehmung/Situationserfassung, geteilte Aufmerksamkeit, Reaktion, Belastbarkeit/Leistungsabfall/Leistungsreserve sowie Lerneffekt erfülle der Beschwerdeführer die erforderlichen Anforderungen klar nicht. Aufgrund der kognitiven Einschränkungen und der klar negativen Kontrollfahrt sei die Fahreignung des Beschwerdeführers aus verkehrsmedizinischer Sicht nicht mehr gegeben.
2.4.2 Die Beobachtungen der begleitenden Verkehrsmedizinerin bestätigen die Beanstandungen des Experten. Nur schon aus diesem Grund kann auf eine zusätzliche Stellungnahme des Experten, wie dies vom Beschwerdeführer verlangt wurde, verzichtet werden. Darüber hinaus ist zu bemerken, dass das beobachtete Einfahren in Verbotsstrassen ohne Beachtung der Signalisation z. B. genau dem Fehlverhalten des Beschwerdeführers vom 16. Dezember 2013 entspricht, als er in Wil in eine Einbahnstrasse fuhr (was dann zur Untersuchung der Fahreignung des Beschwerdeführers geführt hat). Dasselbe gilt für die Bemerkung, dass die Beobachtung nach hinten teilweise falsch gewesen sei. Dieses Defizit dürfte wohl die Ursache des Vorfalls in Zürich gewesen sein, wo es bei einem Spurwechsel zu einer Streifkollision kam, weil der Beschwerdeführer das andere Automobil nicht gesehen hatte. Gemäss Bericht der Kantonspolizei Zürich hatte der Beschwerdeführer die Streifkollision nicht einmal bemerkt, obwohl die Unfallbeteiligung des Beschwerdeführers einwandfrei nachgewiesen werden konnte. Insgesamt sind die Beobachtungen der beiden Experten mit den übrigen Akten stimmig.
2.4.3 Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, vermag nicht zu überzeugen. Entgegen seiner Behauptung lässt sich dem Bericht von Dr. P nicht entnehmen, dass eine allfällige Kontrollfahrt in italienischer Sprache stattzufinden hätte. Der Beschwerdeführer konnte auch nicht ernsthaft damit rechnen, dass seine Kontrollfahrt auf Italienisch durchgeführt werde. Die Amtssprache im Kanton Thurgau ist Deutsch (§ 10a VRG). Im Übrigen kann mit der Vorinstanz davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer nach einer Anwesenheit in der Schweiz von 55 Jahren und dem Besitz des Führerausweises des Kantons Thurgau seit 1982 zweifelsfrei über genügend Deutschkenntnisse verfügt, um die Anweisungen des Experten zu verstehen. Zu Recht verweisen die Vorinstanzen darauf, dass auch in anderen Fällen Prüfungen abgenommen werden müssen, obwohl die Probanden kaum Deutsch können (vgl. hierzu Art. 42 Abs. 3bis VZV). Es gehört zu einer normalen Prüfungssituation, dass der Experte Richtungsanweisungen gibt, um zu testen, ob der Proband in der Lage ist, richtig zu reagieren. Der Beschwerdeführer hatte zudem vorher die Möglichkeit, mit einem Fahrlehrer zu üben. Davon hat er auch Gebrauch gemacht. Der Beschwerdeführer musste daher auf eine solche Situation gefasst sein. Wenn er sie dennoch nicht meistern konnte, so zeugt dies nur von der Richtigkeit der festgestellten kognitiven Defizite zur Führung eines Motorfahrzeuges. Unklar ist, welche Art von vertrauensbildenden Massnahmen gegenüber dem Beschwerdeführer hätten getroffen werden sollen. Ausser dass die Kontrollfahrt seiner Meinung nach in Italienischer Sprache hätte durchgeführt werden sollen, nennt er keine weiteren Massnahmen. Dass der Beschwerdeführer Sperrflächen überfahren hat und in Fahrverbote eingefahren ist, bestreitet er nicht. Alles in allem erweisen sich die Gutachten, der Expertenbericht und die übrigen Akten als in sich stimmig und geben aus Sicht des Gerichts ein schlüssiges Bild. Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, vermag nicht zu überzeugen. Die Prüfungssituation war weder unfair noch unverhältnismässig. Der Beschwerdeführer konnte nicht mit einer Prüfung in italienischer Sprache rechnen und es ist auch davon auszugehen, dass er genügend Deutsch sprach, um die Anweisungen des Experten zu verstehen. Die Beschwerde ist daher abzuweisen.
Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2014.194/E vom 6. Mai 2015