TVR 2015 Nr. 31
Anspruch einer Witwe auf Akteneinsicht in die IV-Akten ihres verstorbenen Ehemannes
Art. 50 a Abs. 4 AHVG, Art. 33 ATSG, Art. 47 ATSG, Art. 8 DSG, Art. 1 Abs. 7 VDSG
1. Sofern vorab Ansprüche der Witwe selber gegen den Unfallversicherer und allenfalls gegen die behandelnden und begutachtenden Ärzte im Zusammenhang mit dem Tod des Ehemannes zur Diskussion stehen, fehlt es an Rechtspositionen, welche vom verstorbenen Ehemann auf die Witwe übergegangen sein könnten. Sofern Ansprüche gegen den Unfallversicherer geltend gemacht werden, kann die Witwe auf das kostenlose Verfahren gegen den Unfallversicherer verwiesen werden, in dessen Rahmen ein Beizug der IV-Akten angeordnet werden kann (E. 2.3).
2. Einem Akteneinsichtsrecht aufgrund von Art. 8 DSG i.V. mit Art. 1 Abs. 7 VDSG steht entgegen, dass der datenschutzrechtliche Auskunftsanspruch nicht auf die Erben übergeht. Die Zielsetzung stimmt vorliegend zudem nicht mit den entsprechenden Bestimmungen des DSG und der VDSG überein (E. 2.4).
3. Art. 50a Abs. 4 lit. b AHVG kommt nicht zur Anwendung, wenn die versicherte Person bereits verstorben ist. Es kann auch nicht gesagt werden, dass der Beizug von Personendaten noch im Interesse der versicherten Person liegt, wenn diese bereits verstorben ist (E. 2.5).
F ist am 26. November 2014 verstorben. Am 10. März 2015 liess seine Witwe C ein Gesuch um Akteneinsicht in die IV-Akten ihres Mannes stellen. Dabei führte sie aus, dass der zuständige UVG-Versicherer die Leistungspflicht verneint habe. Es werde in diesem Zusammenhang zu beurteilen sein, ob F zum Zeitpunkt des Ereignisses gänzlich unfähig gewesen sei, vernunftgemäss zu handeln. Dazu benötige sie die gesamten medizinischen Akten und insbesondere das im IV-Verfahren erstellte medizinische Gutachten. Aufgrund der zeitlichen Latenz zum Suizid von F dränge sich die Frage nach der Kausalität auf. Mit Verfügung vom 27. April 2015 verneinte die IV-Stelle einen Anspruch auf Akteneinsicht. Die hiergegen erhobene Beschwerde weist das Verwaltungsgericht ab.
Aus den Erwägungen:
2.2 Personen, die an der Durchführung sowie der Kontrolle oder der Beaufsichtigung der Durchführung der Sozialversicherungsgesetze beteiligt sind, haben gegenüber Dritten Verschwiegenheit zu bewahren. Dabei haben alle Personen oder Stellen ausserhalb des Versicherungsträgers des betreffenden Sozialversicherungszweiges als Dritte zu gelten (Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2009, Art. 33 N. 10).
2.3 Die Akteneinsicht bedeutet eine Ausnahme von der in Art. 33 ATSG geordneten grundsätzlichen Schweigepflicht. Unter welchen Voraussetzungen sie zu gewähren ist, ergibt sich aus Art. 47 ATSG. Dieses Akteneinsichtsrecht gestützt auf Art. 47 Abs. 1 lit. a ATSG ist Teil des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Es handelt sich um einen verfahrensrechtlich begründeten Anspruch und steht der versicherten Person zu für die sie betreffenden Daten und bezieht sich grundsätzlich auf alle verfahrensbezogenen Akten. Das Recht auf Akteneinsicht ist als solches nicht vererblich, sondern steht den Erben akzessorisch zu den auf sie übergegangenen Rechtspositionen zu (BGE 140 V 464 E. 4.1). Im vorliegenden Fall stehen vorab Ansprüche der Witwe selber und der Kinder gegen den Unfallversicherer und allenfalls gegen die behandelnden und begutachtenden Ärzte im Zusammenhang mit dem Tod des Ehemannes und Vaters - wohl in Form von Schadenersatzansprüchen - zur Diskussion. Diesbezüglich fehlt es jedoch an Rechtspositionen, welche vom verstorbenen Ehemann auf die Beschwerdeführerin übergegangen sein könnten. Daneben bringt die Beschwerdeführerin jedoch vor, dass auch erhebliche Heilungskosten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt des Verstorbenen auf der Intensivpflegestation entstanden seien und deren Übernahme durch die Unfallversicherung zu prüfen sei. In diesem Zusammenhang kann die Beschwerdeführerin jedoch auf das kostenlose Verfahren gegen den Unfallversicherer verwiesen werden, in dessen Rahmen ein Beizug der IV-Akten - sowohl durch den Unfallversicherer selber wie allenfalls auch durch das urteilende Gericht gestützt auf Art. 47 Abs. 1 lit. b und c ATSG - angeordnet werden kann. Die Beschwerdeführerin ist hierzu nicht auf eine vorgängige Akteneinsicht in die IV-Akten angewiesen. Nachdem somit für die Hauptanliegen der Beschwerdeführerin gestützt auf Art. 47 Abs. 1 lit. a ATSG keine Akteneinsicht zu gewähren ist, verbietet es eine Interessenabwägung (vgl. Kieser, a.a.O., Art. 33 N. 17), eine solche aufgrund der daneben zur Diskussion stehenden Kostenübernahme für die Intensivpflegestation durch den Unfallversicherer zu begründen, nachdem die relevanten medizinischen Akten im kostenlosen UV-rechtlichen Einspracheverfahren beigezogen werden können.
2.4 Im Weiteren macht die Beschwerdeführerin geltend, ihr stehe das Akteneinsichtsrecht aufgrund von Art. 8 DSG i.V. mit Art. 1 Abs. 7 VDSG zu. Dem steht jedoch entgegen, dass der datenschutzrechtliche Auskunftsanspruch nicht auf die Erben übergeht. Wie das Bundesgericht in BGE 140 V 464 E. 4.2 zudem explizit ausgeführt hat, ist das Auskunftsrecht gemäss Art. 8 DSG dazu bestimmt, den Betroffenen in die Lage zu versetzen, seine übrigen Datenschutzrechte wahrzunehmen. Dies habe auch für Art. 1 VDSG zu gelten, welcher die Modalitäten des Auskunftsrechts regle. Auch die Zielsetzung im vorliegenden Verfahren stimmt somit nicht mit den entsprechenden Bestimmungen des DSG und der VDSG überein, weshalb die Beschwerdeführerin aus dem datenschutzrechtlichen Auskunftsrecht nichts zu ihren Gunsten abzuleiten vermag.
2.5 Ebenfalls beruft sich die Beschwerdeführerin auf Art. 50a Abs. 4 lit. b AHVG. Die entsprechende Bestimmung des AHVG ist aufgrund des Verweises in Art. 66 IVG für das Bearbeiten von Personendaten in der Invalidenversicherung sinngemäss anwendbar. Gemäss Art. 50a Abs. 4 lit. b AHVG dürfen Personendaten in Abweichung von Art. 33 ATSG an Dritte bekannt gegeben werden, sofern die betroffene Person im Einzelfall schriftlich eingewilligt hat oder, wenn das Einholen der Einwilligung nicht möglich ist, diese nach den Umständen als im Interesse des Versicherten vorausgesetzt werden darf. In BGE 140 V 464 (E. 4.3) erachtete das Bundesgericht es als fraglich, ob diese Bestimmung zur Anwendung gelangen kann, wenn der Versicherte bereits verstorben ist. Der Wortlaut der Bestimmung und die Materialien, wonach namentlich der Fall geregelt werden soll, in welchem die betroffene Person entscheidunfähig geworden sei, würden eher dagegen sprechen. Auch die Tatsache, dass der erbrechtliche Streitfall und damit die Datenbekanntgabe nach dem Tod des Versicherten bereits in Art. 50a Abs. 1 lit. e Ziff. 2 AHVG geregelt würden, scheine eher dagegen zu sprechen. Diese Argumentation vermag zu überzeugen. Im Übrigen kann auch nicht gesagt werden, dass der Beizug von Personendaten noch im Interesse des Versicherten liege, wenn dieser bereits verstorben ist. Nach dessen Tod können im Rahmen von sozialversicherungsrechtlichen Verfahren somit immer nur Interessen der Erben selber vorliegen. Ansprüche der Beschwerdeführerin gegenüber der Invalidenversicherung, die ihr aufgrund der erbrechtlichen Universalsukzession oder aus eigenem Recht aufgrund des Todes ihres Ehemannes zustehen würden, sind aber gar nicht strittig und werden von der Beschwerdeführerin auch nicht behauptet. Im vorliegenden Fall kann sich die Beschwerdeführerin somit nicht auf Art. 50a Abs. 4 lit. b AHVG berufen. Insofern besteht jedoch - unter der entsprechenden Interessenabwägung - keine genügende Rechtsgrundlage für eine Herausgabe der IV-Akten an die Beschwerdeführerin.
Entscheid des Versicherungsgerichts VV.2015.142/E vom 1. Juli 2015