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TVR 2015 Nr. 7

Erfüllung des Opferbegriffs als Leistungsvoraussetzung, Notsituation


Art. 1 OHG, Art. 14 Abs. 1 OHG


1. Voraussetzung für Leistungen nach OHG ist, dass der Opferbegriff erfüllt ist. Dies hängt im Wesentlichen von der Wirkung der Straftat auf das Opfer und dessen durch das Gesetz geschützte Integrität ab (E. 2.3 - 2.5).

2. Ob Anspruch auf eine Notunterkunft besteht, hängt davon ab, ob eine Notsituation gegeben ist (E. 2.6).


A und B sind miteinander verheiratet. Der aus einer früheren Beziehung von B stammende Sohn R hält sich unter der Woche in der Schulstiftung L auf. In der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 2014 kam es zwischen A und B zu tätlichen Auseinandersetzungen, in deren Folge A am Morgen des 20. Februar 2014 auf dem Posten der Kantonspolizei in N Strafanzeige gegen seine Ehefrau wegen Tätlichkeiten erhob. Er gab an, seine Frau habe sich bei einem Gespräch mit ihm immer mehr in Wut geredet und in der Folge begonnen, ihn zu schlagen und zu treten. Er habe versucht, seine Ehefrau während des Streits von sich fernzuhalten, indem er sie an den Armen gefasst und von sich weggestossen habe. Bereits am 10. Februar 2014 hatte sich A nach einem derartigen Vorfall an die Fachstelle für häusliche Gewalt gewandt.
B ihrerseits meldete sich am 20. Februar 2014 bei der K-Stiftung, Fachstelle für Opferhilfe. Sie gab an, nach immer wieder vorgekommenen verbalen Auseinandersetzungen in der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 2014 erstmals Opfer von Tätlichkeiten ihres ziemlich betrunkenen Ehemannes geworden zu sein. Es sei zu einem Kampf zwischen dem Paar gekommen, dessen Ablauf sie nicht mehr rekonstruieren könne. Sie habe sich gewehrt und könne sich nur noch daran erinnern, dass ihr Ehemann sie mit den Füssen zweimal in einen Wandspiegel gestossen habe, so dass sie niedergegangen sei. In der Folge verwies die Fachstelle Opferhilfe Thurgau sie an das Frauenhaus T. Das Frauenhaus stellte fest, dass B Verletzungen aufwies, so dass sie sich aufgrund der Schmerzen nur mit Beschwerden habe bewegen können. Am 25. Februar 2014 ging bei der Fachstelle Opferhilfe das Gesuch des Frauenhauses T um längerfristige Hilfe ein. Nachdem das DJS bei der Staatsanwaltschaft Bischofszell die Strafuntersuchungsakten eingeholt hatte, teilte es dem Frauenhaus T mit, das Gesuch um Kostengutsprache werde abgewiesen. B könne nicht als Opfer im Sinne des OHG qualifiziert werden. Das DJS verfügte in der Folge entsprechend. Eine dagegen erhobene Beschwerde weist das Verwaltungsgericht ab.

Aus den Erwägungen:

2.
2.1 Laut Art. 1 Abs. 1 OHG ist Opfer im Sinne des OHG jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist. Gemäss Art. 13 Abs. 1 OHG leisten die Beratungsstellen dem Opfer und dessen Angehörigen Soforthilfe für die dringendsten Bedürfnisse, die infolge der Straftat entstehen. Sie leisten gemäss Art. 13 Abs. 2 OHG dem Opfer und dessen Angehörigen soweit nötig zusätzliche Hilfe, bis sich der gesundheitliche Zustand der betroffenen Person stabilisiert hat und bis die übrigen Folgen der Straftat möglichst beseitigt oder ausgeglichen sind. Die Beratungsstellen können die sofortige Hilfe und die längerfristige Hilfe durch Dritte erbringen lassen (Art. 13 Abs. 3 OHG). Zum Umfang der Leistung bestimmt Art. 14 Abs. 1 Satz 1 OHG, dass diese die angemessene medizinische, psychologische, materielle und juristische Hilfe in der Schweiz, die als Folge der Straftat notwendig geworden ist, umfassen. Laut Satz 2 dieser Bestimmung besorgen die Beratungsstellen dem Opfer oder seinen Angehörigen bei Bedarf eine Notunterkunft.

2.2 Leistungen der Opferhilfe werden laut Art. 4 Abs. 1 OHG nur endgültig gewährt, wenn der Täter oder die Täterin oder eine andere verpflichtete Person oder Institution keine oder keine genügende Leistung erbringt. Wer Kostenbeiträge für die langfristige Hilfe Dritter, eine Entschädigung oder eine Genugtuung beansprucht, muss glaubhaft machen, dass die Voraussetzungen nach Abs. 1 erfüllt sind, es sei denn, es sei ihm oder ihr angesichts der besonderen Umstände nicht zumutbar, sich um Leistungen Dritter zu bemühen (Art. 4 Abs. 2 OHG).

2.3 Das Vorliegen einer Straftat ist unabdingbare Voraussetzung für die Anerkennung der Opferqualität einer durch ein Ereignis geschädigten Person. Der strafrechtlichen Qualifikation der Tat, welche beim Opfer eine Beeinträchtigung der körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität bewirkt, kommt keine entscheidende Bedeutung zu. Viel wesentlicher ist die Wirkung der Straftat auf das Opfer und dessen durch das Gesetz geschützte Integrität. Eine Tätlichkeit kann eine Opferstellung begründen, wenn sie zu einer nicht unerheblichen psychischen Beeinträchtigung führt. Jedoch besteht auch die Möglichkeit, dass eine aus strafrechtlicher Sicht als einfache Körperverletzung zu qualifizierende Tat nicht dazu führen muss, die geschädigte Person Opfer im Sinne des Gesetzes werden zu lassen, wenn deren Beeinträchtigung als unerheblich anzusehen ist (Zehntner in: Gomm/Zehntner [Hrsg.], Opferhilfegesetz, 3. Aufl., Bern 2009, Art. 1 N. 6). Der Eingriff muss daher eine gewisse Schwere aufweisen, weshalb Tätlichkeiten in aller Regel ausgeschlossen sind (Wyssmann/Rutschi, Recht der Sozialen Sicherheit, Basel 2014, S. 1389, Rz. 38.25). Selbst wenn aber das Verhalten eines vermeintlichen Täters einen Straftatbestand erfüllt, liegt keine OHG-Straftat vor, wenn er sich auf einen Rechtfertigungsgrund (z. B. Notwehr) berufen kann (Wyssmann/Rutschi, a.a.O., S. 1387, Rz. 38.11).

2.4 Gemäss dem Bericht der Kantonspolizei Thurgau vom 20. Februar 2014 begann die Beschwerdeführerin am 19. Februar 2014 ein Gespräch mit ihrem Ehemann, in dessen Verlauf sie sich immer mehr in Wut geredet hatte und später ihren Mann tätlich angriff und begann, ihn zu schlagen und zu treten. Dabei wehrte er sich, indem er sich an ihr festhielt und sie an den Armen fasste und sie von sich wegstiess. Sie sei aber dadurch nur noch wütender geworden. Die von Dr. med. C festgehaltenen Verletzungen (oberflächliche Wunden, kleine Hämatome) lassen nicht darauf schliessen, dass der Ehemann gegenüber der Beschwerdeführerin massiv gewalttätig wurde. Vielmehr wird im Bericht von Dr. C festgehalten, die Beschwerdeführerin habe gesagt, es sei plötzlich zu Handgreiflichkeiten gekommen und sie wisse nicht, wer angefangen habe. Die Schnittwunden an den Händen habe sie sich durch Scherben des Spiegels zugezogen. Der Ehemann der Beschwerdeführerin hatte sich zudem bereits früher wegen der Gewalt, die seine Frau gegen ihn ausgeübt hatte, bei der Beratungsstelle für häusliche Gewalt gemeldet. Schliesslich ist auf den Bericht des Frauenhauses Winterthur vom 11. März 2014 zu verweisen, gemäss welchem die Beschwerdeführerin im Frauenhaus gegenüber Mitarbeiterinnen vorwurfsvoll, beleidigend und aggressiv aufgetreten sei. Das Aggressionspotenzial der Beschwerdeführerin gegenüber anderen Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen habe zur Sorge Anlass gegeben. Am Samstag, 1. März 2014, sei es in einem Einkaufszentrum zu einem tätlichen Angriff der Beschwerdeführerin gegen ein fremdes Kind gekommen. Ein Mitarbeiter der Securitas habe eingreifen müssen. Die Beschwerdeführerin sei zurechtgewiesen worden, habe jedoch auch am Montag, 3. März 2014, bei einem Gespräch im Frauenhaus keine Einsicht bezüglich ihres aggressiven Verhaltens entwickelt. Unter diesen Umständen erscheint denn auch die Schilderung des Ehemannes der Beschwerdeführerin im Polizeirapport vom 20. Februar 2014 und in der gleichentags durchgeführten polizeilichen Einvernahme, wonach die Aggressionen und Tätlichkeiten im Wesentlichen von seiner Frau ausgegangen seien und er sich hauptsächlich gegen ihre Angriffe gewehrt habe, durchaus glaubwürdig.

2.5 Gestützt auf all diese Indizien ist davon auszugehen, dass bei der Auseinandersetzung vom 19./20. Februar 2014 - in Übereinstimmung mit der Auffassung der verfahrensbeteiligten Gemeinde - hier eher der Ehemann der Beschwerdeführerin denn sie selbst als Opfer im Sinne des OHG zu sehen ist. Ganz sicher ist es nicht zu einer erheblichen Beeinträchtigung der körperlichen Integrität der Beschwerdeführerin gekommen. Vielmehr ging es um einen ehelichen Streit, der zwar bis zu einem gewissen Grad handgreiflich geworden ist, bei dem jedoch keine der beiden Parteien erhebliche Verletzungen davon getragen hat und an dem die Beschwerdeführerin mindestens soviel Schuld hatte wie ihr Ehemann, der eher in Notwehr handelte. Dies beweist auch die Tatsache, dass sich die Beschwerdeführerin nach dem Streit in ihr Bett legte und erst am nächsten Morgen von der Arbeitsstelle aus die Fachstelle für Opferhilfe aufsuchte. Damit fehlt es aber an der Opfereigenschaft der Beschwerdeführerin, weshalb ihr auch keine Leistungen nach dem Opferhilfegesetz ausgerichtet werden können. Die Beschwerde ist schon aus diesem Grunde abzuweisen.

2.6
2.6.1 Laut Art. 14 Abs. 1 OHG besorgen die Beratungsstellen dem Opfer oder seinen Angehörigen bei Bedarf eine Notunterkunft.

2.6.2 Offensichtlich ist, dass der Sohn der Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der angeblichen Notsituation (Donnerstag, 20. Februar 2014) im Schulheim L untergebracht war, weshalb er mit Sicherheit keiner Notunterkunft bedurfte. Es ist zudem nicht belegt, dass sich die Beschwerdeführerin oder die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses darum bemüht hätten, dass der Sohn auch die Wochenenden im Schulheim verbringen kann.
Die Beschwerdeführerin selbst sagte am 24. Februar 2014 auf dem Kantonspolizeiposten in N aus, sie habe sich - obwohl der Streit mit Tätlichkeiten bis 4 Uhr morgens angedauert hatte - bereits um 6.30 Uhr wecken lassen, da sie zur Arbeit musste. Dort fuhr sie dann zunächst auch hin und erst dort meldete sie sich schliesslich telefonisch bei der Fachstelle für Opferhilfe und dann beim Frauenhaus. Dieses Vorgehen spricht weder für eine Notsituation noch für eine durch die erlittene Verletzung eingetretene Arbeitsunfähigkeit. Da die Beschwerdeführerin ihrem Ehemann in der Nacht zuvor ohnehin die beabsichtigte Trennung eröffnet hatte, erfolgte die Platzierung zudem nicht aus einer Notsituation heraus. Deshalb spricht auch die Tatsache, dass sie beim Verlassen der ehelichen Wohnung einige Sachen mitnahm, nicht für eine Notsituation. Die Beschwerdeführerin ist nicht nach oder wegen Erleiden von häuslicher Gewalt aus der Wohnung geflüchtet, sondern legte sich zunächst nach den angeblichen Tätlichkeiten schlafen. Die vom Frauenhaus definierten Zielsetzungen, nämlich Abklärung des Kindeswohls, Klärung der Trennungssituation und getrennte Wohnmöglichkeiten sind als soziale Probleme zu qualifizieren, die durch das Auflösen der ehelichen Gemeinschaft, nicht aber durch die Folgen einer Straftat verursacht worden sind. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Beschwerdeführerin nicht in einem Hotel oder allenfalls bei Bekannten eine provisorische Unterkunft gesucht und von dort ihre weitere Wohnsituation geplant hatte. Die Betreuung durch ein Frauenhaus bzw. die Unterbringung in einem geschützten Rahmen war nicht notwendig. Ein Bedarf im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 OHG war nicht gegeben. Auch aus diesem Grund, nämlich wegen des mangelnden Bedarfs an einer Notunterkunft, ist die Beschwerde abzuweisen.

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2014.139/E vom 25. Februar 2015

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