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TVR 2016 Nr. 23

Einwendungsverfahren bei Verkehrsanordnungen


§ 1 a RRV SVG, Art. 3 Abs. 4 SVG


1. § 1a RRV SVG war in übergangsrechtlicher Hinsicht bereits per 1. Januar 2015 umgehend anwendbar, nachdem mit der Einführung des Einwendungsverfahrens keine grundlegend neue Verfahrensordnung geschaffen wurde (E. 3.4).

2. Die Durchführung eines baurechtlichen Bewilligungsverfahrens ersetzt das strassenverkehrsrechtliche Einwendungsverfahren nicht (E. 3.5).

3. Beim Erlass einer Verkehrsanordnung ist die Durchführung eines Einwendungsverfahrens grundsätzlich zwingend. Der Sinn und Zweck dieses Einwendungsverfahrens besteht namentlich darin, dass sich die von einer Verkehrsanordnung Betroffenen - im Sinne der Gewährung des rechtlichen Gehörs - bereits auf Stufe des Verwaltungsverfahrens äussern und ihren Standpunkt gegenüber der Behörde offen legen können. Dabei empfiehlt sich gegebenenfalls die Durchführung einer gemeinsamen Besprechung vor Ort bzw. eines Augenscheins. Auf ein Einwendungsverfahren kann nur ausnahmsweise verzichtet werden. Die Voraussetzungen für einen ausnahmsweisen Verzicht sind im vorliegenden Fall nicht gegeben (E. 4).


Die Politische Gemeinde G beabsichtigt die Einführung von Verkehrsregelungen auf der S-Strasse. Im Auftrag der Gemeinde reichte das Planungsbüro X am 9. Dezember 2014 beim DBU ein entsprechendes Projekt zur Prüfung ein. Dieses sah - nebst Verkehrsinseln, die teilweise mit einem Baum bestückt sein sollen - ein beidseitiges Parkverbot sowie drei zeitlich beschränkte und zwei zeitlich unbeschränkte Parkplätze vor. In der Folge stellte das DBU bzw. das kantonale Tiefbauamt (TBA) der Politischen Gemeinde G den Entwurf der Verkehrsanordnung zu mit dem Hinweis, dass innert 20 Tagen beim DBU schriftlich Einwendungen eingereicht werden könnten. Die Gemeinde wurde angewiesen, den Entwurf in ortsüblicher Form zu publizieren. Am 23. Januar 2015 ging beim TBA die Rückmeldung der Gemeinde ein, wonach vom 12. Dezember 2014 bis 12. Januar 2015 bereits eine Publikation mit öffentlicher Auflage erfolgt sei. Auf telefonische Anfrage hin soll der Gemeindepräsident der Politischen Gemeinde G ausgeführt haben, dass die Signalisation bereits „mit dem Projekt“ aufgelegen habe. Mit Entscheid vom 4. Februar 2015 genehmigte das DBU die beantragten Signale/Verkehrsanordnungen. Der Situationsplan könne bei der Gemeinde eingesehen werden und der Entscheid sei durch die Gemeinde in ortsüblicher Form zu veröffentlichen. Als Rechtsmittelbelehrung wurde die Beschwerde an das Verwaltungsgericht mit einer 20-tägigen Rechtsmittelfrist angegeben. Die in diesem Entscheid vom 4. Februar 2015 angeordnete Publikation der Verkehrsanordnung erfolgte durch die Politische Gemeinde G allerdings erst am 31. März 2016 mit öffentlicher Auflage vom 1. bis 20. April 2016.
Dagegen erhoben A und 19 andere Anwohner der S-Strasse beim Verwaltungsgericht Beschwerde. Das Verwaltungsgericht heisst die Beschwerde gut, hebt den angefochtenen Entscheid auf und weist die Sache zur Durchführung eines Einwendungsverfahrens an das DBU zurück.

Aus den Erwägungen:

3.
3.1 Strittig ist vorliegend, ob die von der Vorinstanz erlassene Verkehrsanordnung vom 4. Februar 2015 recht- und verhältnismässig ist. Zu prüfen gilt es allerdings vorweg, ob das Verfahren, welches zum Erlass des angefochtenen Entscheids führte, korrekt durchgeführt wurde.

3.2 Auf das am 9. Dezember 2014 eingereichte Gesuch der verfahrensbeteiligten Gemeinde stellte ihr die Vorinstanz den „Entwurf Verkehrsanordnung (Einwendungsverfahren)“ zu, der von der verfahrensbeteiligten Gemeinde am 23. Januar 2015 mit dem Hinweis retourniert wurde, die öffentliche Auflage habe bereits vom 12. Dezember 2014 bis 12. Januar 2015 stattgefunden. Gemäss einer handschriftlichen Notiz des zuständigen Sachbearbeiters des TBA soll der Gemeindepräsident der verfahrensbeteiligten Gemeinde bestätigt haben, dass die Signalisation „mit dem Projekt bereits aufgelegen“ habe, weshalb das Projekt „nach altem Verfahren noch laufen“ zu lassen sei.

3.3 Per 1. Januar 2015 trat der neu eingeführte § 1a RRV SVG in Kraft. Gemäss Abs. 1 dieser Bestimmung führt das für den Erlass, die Änderung oder Aufhebung von dauernden Verkehrsanordnungen auf den Staats-, Gemeinde- und Flurstrassen sowie öffentlichen Verkehrsflächen zuständige DBU vor dem Erlass von Verkehrsanordnungen gemäss § 1 Abs. 2 RRV SVG in der Regel ein Einwendungsverfahren durch. Zu diesem Zweck werden die Entwürfe der vorgesehenen Verkehrsanordnungen mit dem Hinweis publiziert, dass dazu innert 20 Tagen ab Publikation beim DBU schriftliche Einwendungen eingereicht werden können (§ 1a Abs. 2 RRV SVG). Für die Publikation von Verkehrsanordnungen auf Gemeindestrassen hat die Veröffentlichung durch die Gemeindebehörde in ortsüblicher Form zu erfolgen (§ 1a Abs. 3 i.V. mit § 2 Abs. 1 Ziff. 2 RRV SVG).
In der Vernehmlassung vom 20. Mai 2016 führte die Vorinstanz aus, dass der Gemeindepräsident der verfahrensbeteiligten Gemeinde auf telefonische Rückfrage vom 3. Februar 2015 hin erklärt habe, kein Einwendungsverfahren mehr durchführen zu wollen, weil mit der erfolgten Auflage und Publikation bereits ausreichend informiert worden sei und Interessierte hätten mitwirken können. In Anbetracht dessen sowie aufgrund des Umstandes, dass das Einwendungsverfahren im Februar 2015 „erst seit ganz kurzer Zeit“ existiert habe und gemäss § 1 Abs. 1 RRV SVG nur „in der Regel“ durchzuführen sei, habe man dem Wunsch der verfahrensbeteiligten Gemeinde, auf das Einwendungsverfahren zu verzichten, stattgegeben und am 4. Februar 2015 den Genehmigungsentscheid erlassen.

3.4 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind neue Verfahrensvorschriften grundsätzlich mit dem Tag des Inkrafttretens sofort und in vollem Umfang anwendbar, es sei denn, das neue Recht kenne anders lautende Übergangsbestimmungen. Dieser Grundsatz gilt für das Gebiet des Verwaltungsprozesses, wenn zwischen dem alten und dem neuen Recht eine Kontinuität des verfahrensrechtlichen Systems besteht und die Gesetzesrevision prozessual nur punktuelle Änderungen bringt. Der Grundsatz kann dagegen nicht zum Zuge kommen, wo eine Kontinuität des verfahrensrechtlichen Systems fehlt und eine grundlegend neue rechtliche Verfahrensordnung geschaffen wird (BGE 112 V 356 mit Verweis auf BGE 111 V 46 sowie Urteil des Bundesgerichts 2A.312/2004 vom 22. April 2005 E. 2.3).
Die RRV SVG enthält keine übergangsrechtliche Bestimmung. Mit der Einführung des dem Erlass von Verkehrsanordnungen und dem darauf folgenden Rechtsmittel- bzw. Beschwerdeverfahren vorgelagerten Einwendungsverfahren gemäss § 1a RRV SVG wurde keine grundlegend neue rechtliche Verfahrensordnung geschaffen. Vielmehr wurde ein Verfahrensschritt - im Sinne einer nur punktuellen prozessualen Änderung - eingeführt, um neu bereits auf Verwaltungsebene Raum für Gespräche und Lösungsfindungen im Einzelfall, unter Miteinbezug der Betroffenen sowie der zuständigen Behörden/Fachstellen, zu schaffen. § 1a RRV SVG war somit auch im vorliegenden Fall per 1. Januar 2015 umgehend anwendbar, und zwar ungeachtet dessen, dass das Genehmigungsgesuch der verfahrensbeteiligten Gemeinde bereits zuvor am 9. Dezember 2014 bei der Vorinstanz gestellt worden war.

3.5 Nicht ausschlaggebend ist dabei die Auffassung bzw. der Wunsch des Gemeindepräsidenten der verfahrensbeteiligten Gemeinde, auf die Durchführung eines Einwendungsverfahrens zu verzichten, mit dem Hinweis, dass eine Auflage der Signalisation mit dem Projekt bereits vom 12. Dezember 2014 bis 12. Januar 2015 stattgefunden habe. Um was für eine Auflage es sich dabei gehandelt hat, ist aus den Akten nicht ersichtlich. Aufgrund der Formulierung des Vermerks auf dem Formular für die Veröffentlichung und des Genehmigungsstempels der verfahrensbeteiligten Gemeinde auf dem Projektplan liegt die Vermutung nahe, dass lediglich eine baurechtliche Publikation im Sinne von § 102 ff. PBG durchgeführt worden war. Bei einem baurechtlichen Bewilligungsverfahren ist die verfahrensbeteiligte Gemeinde bzw. die kommunale Baubehörde zur Behandlung allfälliger Einsprachen zuständig und nicht die Vorinstanz, welcher die Durchführung des Einwendungsverfahrens nach § 1a RRV SVG obliegt. (…) Fest steht, dass vor Erlass des Genehmigungsentscheids durch die Vorinstanz vom 4. Februar 2015 zu Unrecht kein Einwendungsverfahren im Sinne von § 1a RRV SVG durchgeführt wurde, obwohl diese Bestimmung in jenem Zeitpunkt bereits anwendbar war.

4.
4.1 Gemäss § 1a Abs. 1 RRV SVG ist ein Einwendungsverfahren „in der Regel“ durchzuführen. Entsprechende Einwendungsverfahren, mitunter auch als Einspracheverfahren ohne Rechtsmittelfunktion bezeichnet, sind spezialgesetzlich für Fälle vorgesehen, in denen von einer Verfügung wahrscheinlich zahlreiche Personen berührt sind oder die Parteien sich nicht ohne unverhältnismässigen Aufwand vollzählig bestimmen lassen. Die Behörde macht das Gesuch um Erlass einer Verfügung oder die beabsichtigte Verfügung amtlich bekannt, legt die Akten zur Einsicht auf und gibt den Parteien Gelegenheit, sich innert bestimmter Frist zur Sache zu äussern. Einspracheverfahren ohne Rechtsmittelfunktion dienen der formalisierten Gewährleistung des rechtlichen Gehörs im Vorgang zur Verfügung (vgl. Tschannen/ Zimmerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl., Bern 2014, S. 292 N. 47).

4.2 Mit dem Einwendungsverfahren gemäss § 1a RRV SVG sollen sich die von einer Verkehrsanordnung Betroffenen bereits auf Stufe des Verwaltungsverfahrens äussern und ihren Standpunkt gegenüber der Behörde offenlegen können. Dieses Verfahren soll aber - im Sinne eines gegenseitigen Austausches - auch der Behörde dazu dienen, Gespräche mit den Betroffenen zu führen, um möglichst allfällige Missverständnisse auszuräumen und einvernehmliche Lösungen zu finden, was im Rahmen eines (formalisierten) gerichtlichen Beschwerdeverfahrens nur noch erschwert und mit erhöhtem Aufwand möglich ist. Dabei empfiehlt sich gegebenenfalls die Durchführung einer gemeinsamen Besprechung vor Ort bzw. eines Augenscheins. Ein wesentliches Ziel des korrekt und ernsthaft durchgeführten Einwendungsverfahrens soll auch sein, gegenseitiges Verständnis für die vorgesehene Verkehrsanordnung einerseits und die insbesondere privaten Anliegen der direkt Betroffenen andererseits zu wecken. Dies führt tendenziell zu einer höheren Akzeptanz der geplanten Verkehrsregelung, was wiederum deren Durchsetzung erleichtert. Das Finden einvernehmlicher Lösungen auf Stufe Verwaltung - in einem noch nicht allzu formalisierten Verfahren - entlastet gleichzeitig die Rechtsmittelinstanzen.

4.3 Der dargestellte Sinn und Zweck des Einwendungsverfahrens gebietet es jedoch, nur ausnahmsweise von der Durchführung desselben abzusehen. Entsprechend ist die Formulierung „in der Regel“ in § 1a Abs. 1 RRV SVG streng zu handhaben. Diese Bestimmung wurde denn auch nicht als „Kann-Vorschrift“ formuliert. Ein Verzicht auf die Durchführung des Einwendungsverfahrens liesse sich allenfalls in Fällen rechtfertigen, in denen es lediglich um kleinere, unbedeutende Anordnungen geht, bei denen von vornherein ohne Weiteres ersichtlich ist, dass keine Dritten (insbesondere Anwohner) betroffen sind.
Um eine derartige Anordnung handelt es sich im vorliegenden Falle jedoch klarerweise nicht, wie sich namentlich der Beschwerdeeingabe vom 18. April 2016 entnehmen lässt. Ein Verzicht auf das Einwendungsverfahren mit der Begründung, dass dieses lediglich „in der Regel“ durchzuführen sei, war somit ebenfalls nicht statthaft.

4.4 Dies führt zum Ergebnis, dass die Vorinstanz zu Unrecht kein Einwendungsverfahren im Sinne von § 1a RRV SVG durchgeführt hat. Die Sache ist daher an diese zur Durchführung eines entsprechenden Verfahrens zurückzuweisen. Dabei dürfte sich aus den dargestellten Gründen auch die Durchführung eines Augenscheins vor Ort unter Anwesenheit der Beteiligten empfehlen. In diesem Sinne ist die Beschwerde - ohne dass die gegen die Verkehrsanordnung gerichteten materiell-rechtlichen Einwände zu prüfen wären - gutzuheissen, der angefochtene Entscheid vom 4. Februar 2015 aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zur Durchführung eines Einwendungsverfahrens nach § 1a RRV SVG zurückzuweisen.

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2016.63/E vom 24. August 2016

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