TVR 2016 Nr. 27
Anzeigepflichtverletzung und Rücktrittsrecht
Erheblich sind diejenigen Gefahrstatsachen, die geeignet sind, auf den Entschluss des Versicherers, den Vertrag überhaupt oder zu den vereinbarten Bedingungen abzuschliessen, einen Einfluss auszuüben (Art. 4 Abs. 2 VVG). Die Anzeigepflicht des Antragstellers weist indessen keinen umfassenden Charakter auf. Um gültig zu sein, muss eine Rücktrittserklärung ausführlich auf die verschwiegene oder ungenau mitgeteilte Gefahrstatsache hinweisen.
B beantragte am 20. Mai 2010 bei der Lebensversicherungsgesellschaft O den Abschluss eines Versicherungsvertrages im Rahmen der gebundenen Vorsorge (Säule 3a). Versichert wurde das Risiko der Erwerbsunfähigkeit. Als integrierenden Bestandteil des Versicherungsantrages hatte B Fragen zu ihrer Gesundheit zu beantworten. Am 23. September 2012 erlitt B einen Verkehrsunfall. Am 17. November 2014 meldete sie gegenüber der O Leistungen infolge Erwerbsunfähigkeit an. Am 29. Dezember 2014 kündigte O den Versicherungsvertrag wegen Anzeigepflichtverletzung. Sie warf B vor, ihre Angaben zu den bejahten Fragen 1 und 2 seien unvollständig. Nach Kenntnisnahme der einverlangten Arztberichte und nach Eingang der Akten der Unfallversicherung kündigte O den Vertrag mit B am 23. Januar 2015 erneut wegen Anzeigepflichtverletzung. Die Leistungspflicht wurde nunmehr grundsätzlich verneint, weil die nicht angegebenen Leiden im Zusammenhang mit den jetzigen Beschwerden stünden. Das Versicherungsgericht weist die von B erhobene Klage ab.
Aus den Erwägungen:
2.2 Gemäss Art. 4 VVG hat der Antragsteller dem Versicherer anhand eines Fragebogens oder auf sonstiges schriftliches Befragen alle für die Beurteilung der Gefahr erheblichen Tatsachen, soweit und so wie sie ihm beim Vertragsabschluss bekannt sind oder bekannt sein müssen, schriftlich mitzuteilen (Art. 4 Abs. 1 VVG). Erheblich sind diejenigen Gefahrstatsachen, die geeignet sind, auf den Entschluss des Versicherers, den Vertrag überhaupt oder zu den vereinbarten Bedingungen abzuschliessen, einen Einfluss auszuüben (Art. 4 Abs. 2 VVG). Gefahrstatsachen im Sinne des Art. 4 VVG sind alle Tatsachen, die bei der Beurteilung der Gefahr in Betracht fallen und den Versicherer demzufolge über den Umfang der zu deckenden Gefahr aufklären können; dazu sind nicht nur jene Tatsachen zu rechnen, welche die Gefahr verursachen, sondern auch solche, die bloss einen Rückschluss auf das Vorliegen von Gefahrenursachen gestatten. Die Anzeigepflicht des Antragstellers weist indessen keinen umfassenden Charakter auf. Sie beschränkt sich vielmehr auf die Angabe jener Gefahrstatsachen, nach denen der Versicherer ausdrücklich und in unzweideutiger Art gefragt hat; der Antragsteller ist daher ohne entsprechende Fragen nicht verpflichtet, von sich aus über bestehende Gefahren Auskunft zu geben (BGE 134 III 511 E. 3.3.2). Gemäss Art. 4 Abs. 3 VVG gilt eine Vermutung dafür, dass die Gefahrstatsachen, auf welche die schriftlichen Fragen des Versicherers in bestimmter, unzweideutiger Fassung gerichtet sind, erheblich sind. Damit stellt das Gesetz eine widerlegbare Rechtsvermutung für die Erheblichkeit derjenigen Tatsachen auf, über die der Versicherer mit den schriftlichen Fragen Auskunft verlangt (BGE 134 III 511 E. 3.3.4). Gemäss Art. 6 VVG ist der Versicherer nicht an den Vertrag gebunden, wenn der Anzeigepflichtige beim Abschluss der Versicherung eine erhebliche Gefahrstatsache, die er kannte oder hätte kennen müssen, unrichtig mitgeteilt oder verschwiegen hat und der Versicherer binnen vier Wochen nachdem er von der Verletzung der Anzeigepflicht Kenntnis erhalten hat, vom Vertrage zurücktritt. Die vierwöchige Frist beginnt ab dem Zeitpunkt zu laufen, ab welchem der Versicherer vollständig über die Anzeigepflichtverletzung orientiert ist, das heisst, darüber sichere, zweifelsfreie Kenntnis erhalten hat (BGE 119 V 283 E. 5). Im Unterschied zum vertraglich vereinbarten Rechtsnachteil bei der Verletzung einer Obliegenheit gemäss Art. 45 Abs. 1 VVG fällt die Frage nach dem Verschulden im Bereich des Art. 6 VVG ausser Betracht. Wann die Anzeigepflicht verletzt ist, beurteilt sich verschuldensunabhängig nach subjektiven wie auch nach objektiven Kriterien. Nach dem Wortlaut von Art. 4 und 6 VVG hat der Antragsteller dem Versicherer in Beantwortung entsprechender Fragen nicht nur die ihm tatsächlich bekannten erheblichen Gefahrstatsachen mitzuteilen, sondern auch diejenigen, die ihm bekannt sein müssen. Damit stellt das Gesetz ein objektives Kriterium auf, bei dessen Anwendung jedoch die Umstände des einzelnen Falles insbesondere die persönlichen Eigenschaften wie Intelligenz, Bildungsgrad und Erfahrung und die persönlichen Verhältnisse des Antragstellers zu berücksichtigen sind. Der Antragsteller genügt seiner Leistungspflicht nur, wenn er ausser den ihm ohne Weiteres bekannten Tatsachen auch diejenigen angibt, deren Vorhandensein ihm nicht entgehen kann, wenn er über die Fragen des Versicherers ernsthaft nachdenkt (BGE 134 III 511 E. 3.3.3). Nach dem seit Januar 2006 in Kraft stehenden Art. 6 Abs. 3 Satz 1 VVG erlischt die Leistungspflicht des Versicherers für bereits eingetretene Schäden infolge einer Anzeigepflichtverletzung nur dann, wenn deren Eintritt oder Umfang durch die nicht oder unrichtig angezeigte erhebliche Gefahrstatsache beeinflusst worden ist. Von Gesetzes wegen ist somit eine Leistungsverweigerung nur noch bei Vorliegen eines Kausalzusammenhanges möglich. Diese Bestimmung ist im Geltungsbereich des VVG teilzwingend, was bedeutet, dass Art. 6 VVG nicht zuungunsten des Versicherten abgeändert werden darf. Das Bundesgericht hat entschieden, dass ein adäquater Kausalzusammenhang zur verschwiegenen bzw. unrichtig angezeigten Gefahrstatsache nur für die Leistungsfreiheit der Vorsorgeeinrichtung nach Art. 6 Abs. 3 VVG, nicht aber auch für die Zulässigkeit der Kündigung des Vorsorgevertrages gemäss Art. 6 Abs. 1 und 2 VVG erforderlich ist (Urteil des Bundesgerichts 9C_680/2011 vom 11. Mai 2012). Eine Kausalität im Sinne von Art. 6 Abs. 3 VVG wird immer dann bejaht, wenn der Eintritt oder Umfang des Schadens nicht völlig unabhängig von der verschwiegenen erheblichen Gefahrstatsache ist. Es reicht folglich aus, dass die nicht oder nicht richtig angezeigte erhebliche Gefahrstatsache lediglich eine von mehreren conditiones sine quibus non bzw. nur mitursächlich ist (Nef/Zedtwitz, in: Honsell/Vogt/Schnyder/Grolimund [Hrsg.], Basler Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, Nachführungsband, Basel 2012, Allgemeine Bestimmungen, ad Rz. 5 zu Art. 6 mit weiteren Hinweisen). (…)
2.3 Um gültig zu sein, muss eine Rücktrittserklärung ausführlich auf die verschwiegene oder ungenau mitgeteilte Gefahrstatsache hinweisen. Die nicht oder nicht vollständig beantworteten Fragen sind zu benennen und es ist nachvollziehbar zu begründen, worin die nicht oder nicht vollständig deklarierte Tatsache bestanden hat (Urteil des Bundesgerichts 4A_376/2014 vom 27. April 2015 E. 2.3.1, BGE 129 III 713 E. 2).
3. (…)
4.
4.1 Auf Anfrage der Beklagten gab die Krankenkasse am 17. Dezember 2014 einen Überblick über die der Klägerin gewährten Leistungen bekannt. (…)
4.2 Die angeführten diversen ärztlichen Untersuchungen und Behandlungen fanden innerhalb der 5-Jahres-Periode, welche im Antragsformular der Beklagten abgefragt worden war, statt. Sie wurden von der Klägerin nicht angegeben. Das Verschweigen der nicht ausgeheilten Beschwerden ergibt sich insbesondere aus der Ergänzung zur Frage 2 der Beklagten. (…) Wie die Beklagte zu Recht vorbringt, waren diese Gefahrstatsachen nicht nur mit Blick auf den Entscheid, ob überhaupt ein Vertragsabschluss vorgenommen wird, erheblich, sondern auch im Hinblick auf einen eventuellen Vertragsabschluss mit allfälligen gewissen Risikoausschlüssen. Das Vorbringen der Klägerin, angesichts der von ihr angegebenen Behandlungen sei nicht zu erwarten gewesen, dass der Vertragsabschluss bei Bekanntgabe der verschwiegenen Beschwerden beeinflusst worden wäre, überzeugt nicht.
4.3 Dass diese Behandlungen der Klägerin bekannt gewesen waren oder zumindest hätten bekannt sein müssen, wird nicht bestritten. Auffällig ist zudem, dass die Klägerin weiter zurückliegende Behandlungen durchaus aufgeführt hat, indessen nicht die Wirbelsäulenbeschwerden und Kopfschmerzen. (…) Für sie als ausgebildete Veterinärin war erkennbar, dass solche Beschwerden, welche immer wieder auftraten und nicht ausgeheilt waren, für die Beklagte im Hinblick auf den Entscheid, ob (und zu welchen Konditionen) eine Rentenversicherung abgeschlossen wird oder nicht, durchaus von Relevanz gewesen wären (vgl. BGE 134 II 511 E. 3.3.3). Trotzdem nannte die Klägerin gerade diese Tatsachen nicht. Ihre Argumentation, für diese Angaben habe auf dem Antragsformular nicht ausreichend Platz bestanden, verfängt nicht. (…) Die Beklagte ging daher zu Recht von einer der Klägerin vorwerfbaren Anzeigepflichtverletzung aus.
5. (….) Die Klägerin bestreitet einen Zusammenhang bzw. Einfluss ihrer Anzeigepflichtverletzung, weil Leistungen zufolge Arbeitsunfähigkeit seit August 2014 wegen psychischer Dekompensation im August 2014 geschuldet seien und diesbezüglich die HWS-Beschwerden nicht kausal seien. Auch dieser Einwand verfängt jedoch nicht. (…)
5.2 Zumindest der Umfang der gesundheitlichen Einschränkungen, die den geltend gemachten Ansprüchen zugrunde liegen, wurde durch die gesundheitlichen Probleme, welche von der Klägerin nicht deklariert wurden, beeinflusst. Dementsprechend durfte die Beklagte gestützt auf Art. 6 Abs. 3 VVG und Ziff. 7.4 der allgemeinen Versicherungsbedingungen ex tunc vom Vertrag zurücktreten.
6. (…)
7. Die Klägerin bestreitet zudem die hinreichende Substantiierung und Begründung des Vertragsrücktritts vom 29. Dezember 2014 bzw. der zweiten Kündigung der Beklagten vom 23. Januar 2015.
7.1 (…) Die Beklagte berief sich im Schreiben vom 29. Dezember 2014 auf die Leistungsauszüge der Krankenkasse der Klägerin. Aus diesen gehen Behandlungen zwischen dem 30. Juli 2005 und 27. Juni 2008 hervor. Die Behandlungen dauerten gemäss dieser Zusammenstellung zum Teil nur wenige Tage, erstreckten sich indessen teilweise auf einen oder mehrere Monate. Der konkrete Gegenstand der Behandlungen war aus der Zusammenstellung nicht ersichtlich und der Beklagten nicht bekannt. Sie war deshalb im Zeitpunkt ihres ersten Kündigungsschreibens vom 29. Dezember 2014 nicht in der Lage, anzugeben, welche Behandlungen die Klägerin hätte anzeigen müssen. Ihre Mitteilung war hinreichend begründet.
7.2 Nach Vorliegen der einverlangten Arztberichte und nach Eingang der Akten der Unfallversicherung teilte die Beklagte am 23. Januar 2015 im Zusammenhang mit der erneuten Kündigung des Versicherungsvertrages mit, Ziffern 1 und 2 der Antragsfragen seien zu Unrecht unvollständig beantwortet worden. (…) Die gesundheitlichen Einschränkungen, welche die Klägerin nicht deklariert hatte, führte die Beklagte konkret an. Weiter wurde der Klägerin das Versäumnis mitgeteilt, bei der Antragsdeklaration die „oben erwähnten Beschwerden“ anzugeben. Auch diese Begründung ist hinreichend konkret und nachvollziehbar. Inwieweit dieses Kündigungsschreiben nicht umfassend und substantiiert genug gewesen sein soll, ist entsprechend nicht ersichtlich.
8. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass eine der Klägerin vorwerfbare Anzeigepflichtverletzung vorliegt, welche die Beklagte zum Vertragsrücktritt ex tunc ermächtigte. Der Rücktritt erfolgte form- und fristgerecht. Die Beklagte hat ihre Leistungspflicht daher zu Recht verneint. (…)
Entscheid des Versicherungsgerichts VV.2015.242/E vom 6. Juli 2016