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TVR 2016 Nr. 31

Versicherungsmässige Voraussetzungen für Leistungen der Invalidenversicherung bei vorläufig aufgenommenen Personen nach Abweisung des Asylantrages


Art. 1 Abs. 1 FlüB, Art. 2 Abs. 1 FlüB, Art. 6 Abs. 2 IVG, Art. 36 Abs. 1 IVG, Art. 39 Abs. 1 IVG


1. Flüchtlinge mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz haben unter den gleichen Voraussetzungen wie Schweizer Bürger Anspruch auf ordentliche Renten der Invalidenversicherung. Die Mindestbeitragszeit gilt folglich für Flüchtlinge ebenso wie für Schweizer. Erwerbstätige Flüchtlinge mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz haben zudem unter den gleichen Voraussetzungen wie Schweizer Bürger Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung, wenn sie unmittelbar vor dem Eintritt der Invalidität Beiträge an die Invalidenversicherung entrichtet haben. Den Flüchtlingen werden Personen gleichgestellt, die als Flüchtlinge gelten, deren Asylantrag jedoch abgewiesen wurde. Diese Personen werden von der Schweiz vorläufig aufgenommen und weisen den Flüchtlingsstatus auf (E. 5.3).

2. Der Anspruch auf eine ausserordentliche Rente setzt voraus, dass die versicherte Person während der gleichen Zahl von Jahren versichert war, wie ihr Jahrgang. Diese Voraussetzung ist nur zu erfüllen, wenn eine Person von Geburt an invalid ist oder vor dem 1. Dezember des der Vollendung des 22. Altersjahres folgenden Jahres in rentenbegründendem Ausmass invalid geworden ist, aber keinen Anspruch auf eine ordentliche Rente erworben hat (E. 5.4).


D, geboren am 18. Januar 1966 in Moldawien, reiste als Asylbewerber in die Schweiz ein. Obwohl sein Asylgesuch abgewiesen wurde, konnte die Rückweisung von D in sein Heimatland dann offenbar nicht vollzogen werden. Unterdessen besitzt er die Aufenthaltsbewilligung B. Im Februar 2010 meldete sich D bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügungen vom 14. April 2011 verneinte die IV-Stelle des Kantons Thurgau den Anspruch auf eine Invalidenrente und auf eine Umschulung. Dies begründete sie vorab damit, dass die versicherungsmässigen Voraussetzungen nicht gegeben seien und D bereits mit dem Gesundheitsschaden in die Schweiz eingereist sei. Zudem könne die Erwerbsfähigkeit durch berufliche Massnahmen nicht verbessert werden. Am 24. Februar 2016 machte D eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes geltend. Mit Verfügung vom 19. April 2016 trat die IV-Stelle auf das Leistungsbegehren nicht ein. Die dagegen durch D erhobene Beschwerde weist das Versicherungsgericht ab.

Aus den Erwägungen:

5.2 Die Verfügungen vom 14. April 2011 sind unangefochten in Rechtskraft erwachsen. Grundsätzlich ist daher im Rahmen des Neuanmeldeverfahrens nicht von Bedeutung, ob die versicherungsmässigen Voraussetzungen zu Recht oder zu Unrecht verneint wurden, sondern nur zu prüfen, ob sich diesbezüglich eine Veränderung ergeben hat. Eine solche ist jedoch nicht gegeben, sodass die Beschwerdegegnerin zu Recht nicht auf die Neuanmeldung eingetreten ist. Trotzdem soll im Folgenden kurz auf die rechtlichen Grundlagen eingegangen werden.

5.3 Nach Art. 6 Abs. 1 IVG haben schweizerische und ausländische Staatsangehörige sowie Staatenlose Anspruch auf Leistungen gemäss den nachstehenden Bestimmungen. Abs. 2 bezeichnet ausländische Staatsangehörige - vorbehältlich Art. 9 Abs. 3 IVG - jedoch nur als anspruchsberechtigt, solange sie ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz haben und sofern sie bei Eintritt der Invalidität während mindestens eines Jahres Beiträge geleistet oder sich ununterbrochen während zehn Jahren in der Schweiz aufgehalten haben. Betreffend Renten legt Art. 36 Abs. 1 IVG fest, dass der Anspruch auf eine ordentliche Rente besteht, wenn bei Eintritt der Invalidität während mindestens drei Jahren Beiträge geleistet wurden. Flüchtlinge mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz haben gemäss Art. 1 Abs. 1 FlüB unter den gleichen Voraussetzungen wie Schweizer Bürger Anspruch auf ordentliche Renten der Invalidenversicherung. Die Mindestbeitragszeit gilt folglich für Flüchtlinge ebenso wie für Schweizer. Erwerbstätige Flüchtlinge mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz haben zudem unter den gleichen Voraussetzungen wie Schweizer Bürger Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung, wenn sie unmittelbar vor dem Eintritt der Invalidität Beiträge an die Invalidenversicherung entrichtet haben (Art. 2 Abs. 1 FlüB). Den Flüchtlingen werden Personen gleichgestellt, die als Flüchtlinge gelten, deren Asylantrag jedoch abgewiesen wurde. Diese Personen werden von der Schweiz vorläufig aufgenommen und weisen den Flüchtlingsstatus auf (Bewilligung F mit Hinweis „Flüchtling“; vgl. Mitteilungen des BSV an die AHV-Ausgleichskassen und EL-Durchführungsstellen Nr. 327 vom 28. März 2013 mit Verweis auf den Entscheid des Bundesgerichts 9C_963/2011 vom 6. Dezember 2012). Ob sich der Beschwerdeführer ebenfalls auf die grosszügigeren Bestimmungen gemäss dem FlüB berufen kann, nachdem er inzwischen über die Aufenthaltsbewilligung B verfügt (was gemäss Art. 84 Abs. 5 AuG nach einem Aufenthalt von fünf Jahren in der Schweiz möglich ist), kann offen gelassen werden, nachdem auch unter Anwendung des FlüB keine Anspruchsberechtigung gegeben und keine Änderung des diesbezüglich massgeblichen Sachverhalts glaubhaft gemacht worden ist.

5.4 Gemäss den Abklärungen der Beschwerdegegnerin ist der Beschwerdeführer bereits mit dem Gesundheitsschaden in die Schweiz eingereist. Insofern erfüllte er die versicherungsmässigen Voraussetzungen nicht, nachdem die Invalidität nicht in der Schweiz eingetreten ist, und die schweizerische Invalidenversicherung ist somit nicht leistungspflichtig. Dies gilt sowohl für den Anspruch auf eine ordentliche Invalidenrente (Art. 1 Abs. 1 FlüB i.V. mit Art. 36 Abs. 1 IVG) wie auch für denjenigen auf berufliche Massnahmen (Art. 2 Abs. 1 FlüB). Ebenso wenig wäre zudem ein Anspruch gestützt auf Art. 6 Abs. 2 IVG gegeben, falls man den FlüB nicht anwenden würde. Der Anspruch auf eine ausserordentliche Rente nach Art. 39 Abs. 1 IVG (i.V. mit Art. 1 Abs. 2 FlüB) würde zudem voraussetzen, dass der Beschwerdeführer während der gleichen Zahl von Jahren versichert war, wie sein Jahrgang (Art. 42 Abs. 1 AHVG). Diese Voraussetzung ist nur zu erfüllen, wenn eine Person von Geburt an invalid ist oder vor dem 1. Dezember des der Vollendung des 22. Altersjahres folgenden Jahres in rentenbegründendem Ausmass invalid geworden ist, aber keinen Anspruch auf eine ordentliche Rente erworben hat (vgl. dazu Wegleitung über die Renten in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung, Rz. 7006).

5.5 An den versicherungsmässigen Voraussetzungen für eine (ordentliche) Rente und berufliche Massnahmen hat sich zwischenzeitlich beim Beschwerdeführer nichts geändert. Ebenso wenig ist von einer geänderten Rechtslage auszugehen, nachdem die massgeblichen Art. 6 Abs. 1 und Art. 36 Abs. 1 IVG seit 1. Januar 2001 respektive 1. Januar 2008 und Art. 1 und 2 FlüB seit 1. Januar 1997 in Kraft stehen. Der Beschwerdeführer macht zudem auch keinen neuen Gesundheitsschaden geltend. Für die mit Verfügungen vom 14. April 2011 beurteilten psychischen Gesundheitsschäden ist daher - vorab in Bezug auf die primär relevanten versicherungsmässigen Voraussetzungen - kein massgeblicher Revisionstatbestand glaubhaft gemacht worden (vgl. dazu auch das Urteil 8C_646/2015 vom 18. Dezember 2015 E. 4). Die Beschwerdegegnerin ist im Ergebnis somit auf die Neuanmeldung zu Recht nicht eingetreten und die Beschwerde ist folglich vollumfänglich abzuweisen.

Entscheid des Versicherungsgerichts VV.2016.154/E vom 10. August 2016

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