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TVR 2017 Nr. 2

Anspruch auf materielle Prüfung des Gesuchs um eine Aufenthaltsbewilligung im Rahmen des Familiennachzugs nach rechtskräftigem Widerruf der Niederlassungsbewilligung


Art. 42 AuG, Art. 63 AuG, Art. 67 AuG


1. Eine Neubeurteilung der Aufenthaltsbewilligung nach rechtskräftigem Widerruf einer Niederlassungsbewilligung kann angezeigt sein, wenn sich der Betroffene seit der Verurteilung bzw. Strafverbüssung bewährt und er sich über eine angemessene Dauer in seiner Heimat klaglos verhalten hat, so dass eine Integration in die hiesigen Verhältnisse absehbar und eine allfällige Rückfallgefahr vernachlässigbar erscheint.

2. Kein Anspruch auf die erneute Prüfung einer Aufenthaltsbewilligung besteht, wenn der Ausländer zum Zeitpunkt der Gesuchseinreichung die Schweiz noch gar nicht verlassen hat. Er muss sich zuerst während einer gewissen Zeit in seinem Heimatland bewähren, bevor über ein neues aufenthaltsrechtliches Gesuch entschieden werden kann.


A, geboren 1988, ist kosovarischer Staatsangehöriger. Im Jahr 2000 reiste er im Rahmen des Familiennachzuges in die Schweiz ein. Ihm wurde zunächst eine Aufenthaltsbewilligung für den Kanton Thurgau erteilt. Später wurde er in die Niederlassungsbewilligung seines Vaters miteinbezogen.
Seit seiner Einreise in die Schweiz im Jahr 2000 musste A mehrfach strafrechtlich sanktioniert werden. In der Folge widerrief das Migrationsamt des Kantons Thurgau die Niederlassungsbewilligung. Die dagegen ergriffenen Rechtsmittel wurden letztinstanzlich vom Bundesgericht mit Urteil 9C_279/2015 vom 15. Februar 2016 abgewiesen. In der Folge wurde A vom Migrationsamt eine einmonatige Frist zur Ausreise bis 2. April 2016 angesetzt.
Am 18. März 2016 liessen A und B ein Familiennachzugsgesuch stellen bzw. eine Aufenthaltsbewilligung im Rahmen des Familiennachzuges beantragen. Am 5. April 2016 verfügte das SEM gegenüber A ein Einreiseverbot bis 4. April 2017. Am 6. April 2016 teilte das Migrationsamt A mit, dass das Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung während der Dauer des verfügten Einreiseverbotes sistiert werde. Dabei wurde auf die (abgelaufene) Ausreisefrist hingewiesen und der behördliche Vollzug der Wegweisung angedroht.
Mit Entscheid vom 4. Mai 2016 trat das Migrationsamt auf das Gesuch um Familiennachzug bzw. Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung nicht ein, nachdem A um Weiterbehandlung des Gesuchs ersucht hatte. Den dagegen erhobenen Rekurs schrieb das DJS zufolge Gegenstandslosigkeit am Protokoll ab.
Am 13. Juni 2016 wurde A verhaftet und in den Kosovo ausgeschafft.
Gegen den Abschreibungsentscheid des DJS liessen A und B Beschwerde erheben, welche das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau guthiess und die Sache an das DJS zurückwies. Das Migrationsamt sei, so das Verwaltungsgericht, auf das Familiennachzugsgesuch nicht eingetreten. Nachdem der Beschwerdeführer diesen Entscheid bei der Vorinstanz angefochten habe, wäre es deren Aufgabe gewesen, die Rechtmässigkeit dieses Nichteintretensentscheids unter Berücksichtigung der erwähnten bundesgerichtlichen Kriterien zu überprüfen.
In der Folge wies das DJS den Rekurs am 6. Februar 2017 ab. Die dagegen erhobene Beschwerde weist das Verwaltungsgericht ebenfalls ab.

Aus den Erwägungen:

4.
4.1 Der Widerruf einer Niederlassungsbewilligung beendet eine bisher bestehende Aufenthaltsberechtigung. In der Folge kann grundsätzlich jederzeit ein neues Bewilligungsgesuch gestellt werden. Wird dieses bewilligt, so lebt damit nicht die frühere, rechtskräftig aufgehobene Bewilligung wieder auf, sondern es handelt sich um eine neue Bewilligung, die voraussetzt, dass im Zeitpunkt ihrer Erteilung die geltenden Bewilligungsvoraussetzungen erfüllt sind. Das Einreichen eines neuen Gesuches darf jedoch nicht dazu dienen, rechtskräftige Entscheide immer wieder infrage zu stellen (Entscheid des Bundesgerichts 2C_424/2015 vom 1. Dezember 2015 E. 2.2). Eine strafrechtliche Verurteilung verunmöglicht die Erteilung einer (neuen) Aufenthaltsbewilligung nicht zwingend ein für allemal. Soweit der Ausländer, gegen den Entfernungsmassnahmen ergriffen wurden, nach wie vor einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung besitzt und es seinen hier anwesenden nahen Angehörigen nicht zumutbar ist, ihm ins Heimatland zu folgen und dort das Familienleben zu pflegen, kann eine Neubeurteilung angezeigt sein, wenn sich der Betroffene seit der Verurteilung bzw. Strafverbüssung bewährt und er sich über eine angemessene Dauer in seiner Heimat klaglos verhalten hat, so dass eine Integration in die hiesigen Verhältnisse absehbar und eine allfällige Rückfallgefahr vernachlässigbar erscheint. Für die Bemessung dieser ausländerrechtlichen Bewährungsfrist ist mangels einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung praxisgemäss an die Regelhöchstdauer des Einreiseverbots von fünf Jahren (vgl. Art. 67 Abs. 3 AuG) anzuknüpfen (Entscheide des Bundesgerichts 2C_817/2012 vom 19. Februar 2012 E. 3.2.6 und 2C_424/2015 vom 1. Dezember 2015 E. 2.3). Hat sich der Betroffene während fünf Jahren im Ausland bewährt, ist es regelmässig angezeigt, den Anspruch auf Familiennachzug neu zu prüfen. Das schliesst eine frühere Prüfung nicht aus, soweit das Einreiseverbot von Beginn an unter fünf Jahren angesetzt wurde oder eine Änderung der Sachlage eintritt, die derart ins Gewicht fällt, dass ein anderes Ergebnis ernstlich in Betracht fällt (Entscheide des Bundesgerichts 2C_424/2015 vom 1. Dezember 2015 E. 2.3 und 2C_111/2016 vom 17. Februar 2016 E. 2.1). Ein Anspruch auf eine erneute Prüfung besteht allerdings nur, wenn der Betroffene die Schweiz tatsächlich verlassen hat, nachdem der Widerruf seiner Bewilligung oder deren Nichtverlängerung in Rechtskraft erwachsen ist (Entscheid des Bundesgerichts 2C_424/2015 vom 1. Dezember 2015 E. 2.3 mit Verweis auf die Urteile 2C_956/2014 vom 21. August 2015 E. 3.1.2 und 2C_1224/2013 vom 12. Dezember 2014 E. 5.1.2). Soweit eine Neubeurteilung angezeigt ist, sind die Behörden gehalten, auf ein entsprechendes Gesuch einzutreten und dieses materiell zu prüfen (Entscheid des Bundesgerichts 2C_1170/2012 vom 24. Mai 2013 E. 3.4.1). Bei der Beurteilung der Frage, ob das verfahrensbeteiligte Amt zu Recht auf das neue Gesuch um Familiennachzug nicht eingetreten ist, ist auf die Gegebenheiten zum Zeitpunkt der Gesuchseinreichung abzustellen (Entscheide des Bundesgerichts 2C_1224/2013 vom 12. Dezember 2014 E. 5 und 2C_644/2014 vom 9. Februar 2015 E. 1.3).

4.2 Massgeblich ist im vorliegenden Fall vorab der zeitliche Ablauf. Am 15. Februar 2016 wurde vom Bundesgericht der Widerruf der Niederlassungsbewilligung bestätigt. Der Beschwerdeführer hätte somit die Schweiz innerhalb eines Monats verlassen müssen. Bereits am 15. März 2016 - also einen Monat nach dem bundesgerichtlichen Urteil - liessen die Beschwerdeführer eine Aufenthaltsbewilligung im Rahmen des Familiennachzugs beantragen. Am 5. April 2016 verfügte das SEM ein einjähriges Einreiseverbot bis 4. April 2017. Mit Entscheid vom 4. Mai 2016 trat das verfahrensbeteiligte Amt auf das Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung nicht ein. Am 13. Juni 2016 wurde der Beschwerdeführer verhaftet und am 14. Juni 2016 in den Kosovo ausgeschafft, nachdem er die Schweiz nicht freiwillig verlassen hatte. Zum Zeitpunkt der Gesuchseinreichung (wie auch zum Zeitpunkt des Nichteintretensentscheids) hatte der Beschwerdeführer die Schweiz also trotz des rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts vom 16. September 2015 noch gar nicht verlassen, weshalb gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (Entscheid des Bundesgerichts 2C_424/2015 vom 1. Dezember 2015 E. 2.3 mit Verweis auf die Urteile 2C_956/2014 vom 21. August 2015 E. 3.1.2 und 2C_1224/2013 vom 12. Dezember 2014 E. 5.1.2) bereits aus diesem Grund kein Anspruch auf eine erneute Prüfung einer Aufenthaltsbewilligung bestanden hat.

4.3 Im Weiteren geht die bundesgerichtliche Rechtsprechung klar davon aus, dass sich der Ausländer zuerst während einer gewissen Zeit in seinem Heimatland zu bewähren hat, bevor über ein neues aufenthaltsrechtliches Gesuch entschieden werden kann. Praxisgemäss ist dabei grundsätzlich an die Regelhöchstdauer des Einreiseverbots von fünf Jahren anzuknüpfen. Zwar ist eine neue Prüfung vor Ablauf dieser fünf Jahre nicht ausgeschlossen, sofern das Einreiseverbot von Beginn an unter fünf Jahren angesetzt worden ist, was vorliegend der Fall ist. Jedoch ist diesbezüglich auch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer die Schweiz nach Erlass der Einreisesperre nicht freiwillig verlassen hat, sondern ausgeschafft werden musste (Entscheid des Bundesgerichts 2C_1224/2013 vom 12. Dezember 2014 E. 5.1.2 letzter Satz). Aufgrund des Umstandes, dass sich der Ausländer zuerst in seinem Heimatland eine gewisse Zeit lang bewähren muss, würde es der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zudem klar widersprechen, wenn über ein neues aufenthaltsrechtliches Gesuch entschieden werden müsste, obwohl der Gesuchsteller noch nicht einmal in sein Heimatland zurückgekehrt ist und sich dort somit noch gar nicht bewähren konnte. Auch das Bundesgericht hat den Beschwerdeführer im Urteil 2C_979/2016 vom 15. Februar 2016 betreffend Widerruf der Niederlassungsbewilligung darauf hingewiesen, dass (erst) nach einer angemessenen Bewährungsdauer im Ausland eine Neubeurteilung angezeigt sein könne (E. 4.2 des Urteils).

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2017.23/E vom 10. Mai 2017

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