TVR 2017 Nr. 24
Berechtigte Zweifel an der Fahreignung aufgrund regelmässigen Cannabiskonsums, Abklärungsbedarf; vorsorglicher Entzug während eines Sicherungsentzugsverfahrens als Regel, Abweichung davon nur bei Vorliegen besonderer Umstände
Art. 14 SVG, Art. 15 d SVG, Art. 16 SVG, Art. 16 d SVG, Art. 28 a Abs. 1 VZV, Art. 30 VZV
1. Bei Verdacht auf regelmässigen Cannabiskonsum ist eine verkehrsmedizinische Abklärung angezeigt, sofern konkrete Anhaltspunkte bestehen, die ernsthafte Zweifel an der Fahreignung des Betroffenen wecken (E. 2).
2. Bereits Anhaltspunkte, die den Lenker als besonderes Risiko für die anderen Verkehrsteilnehmer erscheinen lassen und ernsthafte Zweifel an seiner Fahreignung erwecken, rechtfertigen den vorsorglichen Ausweisentzug. Der strikte Beweis für die Fahreignung ausschliessende Umstände ist nicht erforderlich; wäre dieser erbracht, müsste unmittelbar der Sicherungsentzug selbst verfügt werden. Der vorsorgliche Entzug während eines Sicherungsentzugsverfahrens bildet daher die Regel, von der nur bei Vorliegen besonderer Umstände abgewichen werden darf (E. 3).
Mit Verfügung vom 26. Januar 2017 entzog das Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau S, geboren 1989, in Anwendung von Art. 30 VZV vorsorglich den Führerausweis aller Kategorien, Unterkategorien und Spezialkategorien auf unbestimmte Zeit. Zur Begründung wurde ausgeführt, es bestünden ernsthafte Zweifel an der Fahreignung von S, nachdem er im Juni 2016 trotz vorgängigem Betäubungsmittelkonsum einen Personenwagen in Deutschland gelenkt habe. Der Führerausweis müsse bis zum Vorliegen eines positiven verkehrsmedizinischen Gutachtens entzogen werden. Den gegen diese Verfügung von A erhobenen Rekurs wies die Rekurskommission für Strassenverkehrssachen mit Entscheid vom 24. Mai 2017 ab. Die dagegen erhobene Beschwerde weist das Verwaltungsgericht ebenfalls ab.
Aus den Erwägungen:
2.
2.1 Motorfahrzeugführer müssen über Fahreignung und Fahrkompetenz verfügen (Art. 14 Abs. 1 SVG). Gemäss Art. 16 Abs. 1 SVG sind Ausweise und Bewilligungen zu entziehen, wenn festgestellt wird, dass die gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung nicht oder nicht mehr bestehen. Wegen fehlender Fahreignung wird einer Person der Führerausweis auf unbestimmte Zeit entzogen, wenn ihre körperliche und geistige Leistungsfähigkeit nicht oder nicht mehr ausreicht, ein Motorfahrzeug sicher zu führen, oder sie an einer Sucht leidet, welche die Fahreignung ausschliesst oder sie auf Grund ihres bisherigen Verhaltens nicht Gewähr bietet, dass sie künftig beim Führen eines Motorfahrzeuges die Vorschriften beachtet und auf die Menschen Rücksicht nehmen wird (Art. 16d Abs. 1 lit. a, b und c SVG). Mit dem Begriff der Fahreignung umschreiben alle betroffenen wissenschaftlichen Disziplinen die körperlichen und geistigen Voraussetzungen des Individuums, ein Fahrzeug im Strassenverkehr sicher lenken zu können. Die Fahreignung muss grundsätzlich dauernd vorliegen (vgl. BGE 133 II 384 E. 3.1). Drogensucht wird nach der Rechtsprechung bejaht, wenn die Abhängigkeit von der Droge derart ist, dass der Betroffene mehr als jede andere Person der Gefahr ausgesetzt ist, sich ans Steuer eines Fahrzeugs in einem - dauernden oder zeitweiligen - Zustand zu setzen, der das sichere Führen nicht mehr gewährleistet. Im Interesse der Verkehrssicherheit setzt die Rechtsprechung den regelmässigen Konsum von Drogen der Drogenabhängigkeit gleich, sofern dieser seiner Häufigkeit und Menge nach geeignet ist, die Fahreignung zu beeinträchtigen. Auf fehlende Fahreignung darf geschlossen werden, wenn der Betroffene nicht mehr in der Lage ist, Haschischkonsum und Strassenverkehr ausreichend zu trennen, oder wenn die nahe liegende Gefahr besteht, dass er im akuten Rauschzustand am motorisierten Strassenverkehr teilnimmt (BGE 127 II 122 E. 3.c). Wenn die Fahreignung nicht mehr gegeben ist, muss in jedem Fall zwingend ein Sicherungsentzug angeordnet werden (BGE 133 II 384 E. 3.1).
2.2 Bei Verdacht auf eine Alkohol- oder Betäubungsmittelabhängigkeit ist eine verkehrsmedizinische Abklärung angezeigt, sofern konkrete Anhaltspunkte bestehen, die ernsthafte Zweifel an der Fahreignung des Betroffenen wecken (Urteil des Bundesgerichts 1C_256/2011 vom 22. September 2011 E. 2.2). Hingegen setzt die Anordnung einer verkehrsmedizinischen Untersuchung nicht zwingend voraus, dass die betroffene Person unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln oder Alkohol gefahren ist (Urteil des Bundesgerichts 1C_446/2012 vom 26. April 2013 E. 3.2). Daran ist nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung auch unter Geltung des neu eingefügten Art. 15d Abs. 1 SVG festzuhalten, zumal es sich bei der Aufzählung von Art. 15d Abs. 1 lit. a bis e SVG nach dem klaren Gesetzeswortlaut um eine nicht abschliessende Aufzählung handelt (Urteil des Bundesgerichts 1C_328/2013 vom 18. September 2013 E. 3.2).
3. (…) Angesichts des grossen Gefährdungspotentials, welches dem Führen eines Motorfahrzeuges eigen ist, rechtfertigen schon Anhaltspunkte, die den Lenker als besonderes Risiko für die anderen Verkehrsteilnehmer erscheinen lassen und ernsthafte Zweifel an seiner Fahreignung erwecken, den vorsorglichen Ausweisentzug. Der strikte Beweis für die Fahreignung ausschliessende Umstände ist nicht erforderlich; wäre dieser erbracht, müsste unmittelbar der Sicherungsentzug selbst verfügt werden. Können die notwendigen Abklärungen nicht rasch und abschliessend getroffen werden, soll der Ausweis schon vor dem Sachentscheid provisorisch entzogen werden können und braucht eine umfassende Auseinandersetzung mit sämtlichen Gesichtspunkten, die für oder gegen einen Sicherungsentzug sprechen, erst im anschliessenden Hauptverfahren zu erfolgen (Entscheid des Bundesgerichts 1C_423/2010 vom 14. Februar 2011 E. 3 mit Hinweisen). Der vorsorgliche Entzug während eines Sicherungsentzugsverfahrens bildet daher die Regel (BGE 127 II 122 E. 3; 125 II 396 E. 3), von der nur bei Vorliegen besonderer Umstände abgewichen werden darf (Entscheid des Bundesgerichts 6A.106/2001 vom 26. November 2001 E. 3c/dd).
4.
4.1 Es ist erwiesen, dass der Beschwerdeführer am 20. Juni 2016 trotz vorgängigen Betäubungsmittelkonsums in Deutschland einen Personenwagen lenkte. Die Blutprobe ergab eine THC-Konzentration von 2,2 ng/ml und eine THC-Carbonsäurekonzentration von 39,9 ng/ml. Dafür wurde er mit Bussgeld-Verfügung vom 12. September 2016 rechtskräftig verurteilt bzw. bestraft. Der Beschwerdeführer hat damit erwiesenermassen unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln - unabhängig davon, wann er das Betäubungsmittel tatsächlich konsumiert hat - ein Motorfahrzeug gelenkt. Dabei wurde auch der von der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtsmedizin (SGRM) in den Richtlinien 2014 als Indikation zur verkehrsmedizinischen Abklärung gemäss Art. 15d Abs. 1 lit. b SVG genannte Wert von THC von >1,5 µg/l bzw. ng/ml im Blut deutlich überschritten bzw. auch der - unter Berücksichtigung des analytischen Vertrauensbereiches (Messunsicherheit) - festgelegte Wert von ≥ 2,2 µg/l erreicht. Darüber hinaus kann auch der THC-COOH-Wert von 39,9 µg/l als Indiz für einen mehr als gelegentlichen respektive häufigen Cannabiskonsum nicht einfach deshalb unberücksichtigt bleiben, weil damit die von der SGRM als Richtwert genannte Konzentration ≥ 40 µg/l knapp nicht erreicht ist. Schliesslich ist auch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer noch Haschisch und Marihuana-Blütenreste für einen weiteren Konsum auf sich trug, auch wenn diese Menge gemäss den Angaben des Beschwerdeführers offenbar nur für einen weiteren Joint gereicht hätte. Immerhin hat die deutsche Polizei deswegen auch ein Ermittlungsverfahren wegen eines allgemeinen Verstosses bzw. eines Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz eröffnet und der Beschwerdeführer musste eine Sicherheitsleistung von 650.-- Euro leisten. In der Strafanzeige ist denn auch die Rede von illegaler Einfuhr und illegalem Besitz von Betäubungsmitteln. Diese Umstände deuten zumindest im Rahmen einer Gesamtwürdigung auf mehr als gelegentlichen bzw. mässigen Cannabiskonsum hin, wobei es sich erübrigt, auf die diesbezüglich vom Beschwerdeführer thematisierten wissenschaftlichen Kontroversen einzugehen. Zwar lässt nicht jeder Cannabiskonsum den Schluss auf eine fehlende Fahreignung zu. Regelmässiger Haschischkonsum kann aber berechtigte Zweifel an der Fahreignung erwecken, die weiterer Abklärungen bezüglich der Konsumgewohnheiten sowie der Persönlichkeit des Betroffenen bedürfen (Entscheid des Bundegerichts 1C_513/2015 vom 18. Februar 2016 E. 3.2). Das gilt vor allem dann, wenn zusätzliche Anzeichen dafür bestehen, dass der Betroffene nicht zuverlässig zwischen Drogenkonsum und Strassenverkehr trennen kann. Aufgrund des THC-Carbonsäurewertes von 39,9 µg/l und vor allem der Tatsache, dass der Beschwerdeführer nach dem Konsum von Cannabis ein Fahrzeug gelenkt hat, bestehen vorliegend ernsthafte Zweifel an der Fahreignung des Beschwerdeführers und seiner Fähigkeit, zwischen Cannabiskonsum und dem Führen von Fahrzeugen zu trennen. Diese Frage muss daher im Rahmen einer Fahreignungsabklärung weiter untersucht werden. Die Anordnung einer verkehrsmedizinischen Untersuchung durch einen Arzt und/oder eine psychologische Abklärung durch einen Verkehrspsychologen ist somit gestützt auf Art. 15d Abs. 1 SVG und Art. 28a Abs. 1 VZV angezeigt. Im Rahmen dieser Untersuchung wird sich dann herausstellen, ob eine Sucht oder Suchtgefährdung besteht, welche Einfluss auf die Fahrfähigkeit des Beschwerdeführers hat.
4.2 Im Weiteren gilt es zu berücksichtigen, dass der vorsorgliche Führerausweisentzug während des Sicherungsentzugsverfahrens gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung der Regelfall ist. Vorliegend bestehen sodann keine Gründe, welche ein Abweichen von dieser Regel erlauben oder gebieten würden. Dem Führen eines Motorfahrzeuges wohnt erfahrungsgemäss ein grosses Gefährdungspotential inne. Es genügen deshalb schon Anhaltspunkte, die einen Lenker als besonderes Risiko für andere Verkehrsteilnehmer erscheinen lassen und ersthafte Zweifel an seiner Fahreignung wecken, um den Führerausweis vorsorglich zu entziehen und eine Fahreignungsabklärung anzuordnen. Würde dem Beschwerdeführer der Führerausweis bis zum Vorliegen der Fahreignungsabklärung wieder erteilt, würde der Zweck dieser Sicherungsmassnahme vereitelt. Daran ändert zudem auch nichts, dass der vorsorgliche Führerausweisentzug vom verfahrensbeteiligten Amt erst am 26. Januar 2017 verfügt wurde. Auch im Rahmen einer Interessenabwägung gilt es festzuhalten, dass die öffentlichen Interessen an der Verkehrssicherheit stärker zu gewichten sind als die durchaus bestehenden und nachvollziehbaren persönlichen Interessen des Beschwerdeführers an der Benützung eines Motorfahrzeuges zur Berufsausübung. Dem Beschwerdeführer hätte zudem bereits im Zeitpunkt, als er Cannabis konsumiert und sich anschliessend ans Steuer eines Fahrzeuges gesetzt hat, bewusst sein müssen, dass er beruflich auf sein Auto angewiesen ist. Da der Ausgang der Fahreignungsabklärung nicht absehbar ist, ist eine Wiederzulassung des Beschwerdeführers zum motorisierten Verkehr bis zum Vorliegen der entsprechenden Abklärung nicht verantwortbar. Die nachweislich bestehenden Zweifel an der Fahreignung sind zuerst durch entsprechende Abklärungen auszuräumen. Daran ändert auch nichts, dass unter Umständen im Rahmen dieser Abklärung tatsächlich festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer keinen Cannabis mehr konsumiert und/oder zwischen dem Führen eines Motorfahrzeuges und dem Genuss von Betäubungsmitteln unterscheiden kann. Die Klärung dieser Fragen ist aber gerade Gegenstand der entsprechenden Abklärungen. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass dem Beschwerdeführer der Führerausweis vom verfahrensbeteiligten Amt auf unbestimmte Zeit, das heisst bis zum Vorliegen eines positiven verkehrsmedizinischen Gutachtens entzogen worden ist.
Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2017.91/E vom 27. September 2017