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TVR 2017 Nr. 32

Gesetzmässigkeitsprinzip, Voraussetzungen für die Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes; fehlende gesetzliche Grundlage für das Verfahren der „Unterstützungsanzeige“ im Kanton Thurgau


Art. 5 Abs. 3 BV, § 4 SHG, § 20 SHV, Art. 31 ff. ZUG


1. Nichtigkeit, das heisst absolute Unwirksamkeit einer Verfügung, wird nur angenommen, wenn der ihr anhaftende Mangel besonders schwer wiegt, wenn er offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und wenn zudem die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Die Voraussetzung der offensichtlichen oder leichten Erkennbarkeit des (schwerwiegenden) Mangels in Form des Fehlens einer gesetzlichen Grundlage für ein Verfahren der Unterstützungsanzeige ist vorliegend nicht erfüllt (E. 2.2 und 2.4).

2. Für das innerkantonale Verfahren der Unterstützungsanzeige fehlt es im Kanton Thurgau an einer gesetzlichen Grundlage. Eine Gemeinde ist daher nicht befugt, ein entsprechendes Unterstützungsanzeigeverfahren einzuleiten und einen Einspracheentscheid zu erlassen, mit welchem die Unterstützungszuständigkeit einer anderen Gemeinde für eine bedürftige Person rückwirkend und für die Zukunft geregelt wird (E. 2.3).


A ist die Tochter von B (Vater) und C (Mutter). Am 1. März 2000 zog sie zusammen mit ihren Eltern von D nach E. Im Herbst 2002 trennten sich die Eltern, wobei der Vater aus der gemeinsamen Wohnung in E auszog. Die Mutter C zog am 28. Januar 2003 nach W und der Vater B am 11. Februar 2003 nach D. A hielt sich nach der Trennung der Eltern vorderhand noch bei der Mutter auf, wobei sie während der Erwerbstätigkeit derselben von der Tagesfamilie F in E betreut wurde. Es folgten Platzierungen und Wechsel der Pflegefamilien von A. Mit Urteil vom 4. September 2003 wurde die Ehe von B und C geschieden. A wurde unter die elterliche Sorge des Vaters gestellt. Per 17. Juli 2005 wurde A in der sozialpädagogischen Wohngruppe W in P platziert, wo sie sich bis heute aufhält.
Das Fürsorgeamt der Politischen Gemeinde D übernahm weiterhin die Pflegekosten. Am 29. November 2013 stellte die Fürsorgekommission der Politischen Gemeinde D bei der Politischen Gemeinde E ein Richtigstellungsbegehren, welches abgewiesen wurde. In der Folge liess die Politische Gemeinde D - während eines hängigen Rechtsmittelverfahrens betreffend das Richtigstellungsgesuch - den Sozialdiensten der Politischen Gemeinde E eine „Unterstützungsanzeige“ zukommen. In ihrer Anzeige, welche vorsorglich für den Fall einer Abweisung des Richtigstellungsbegehrens erhoben wurde, machte die Sozialhilfebehörde der Politischen Gemeinde D geltend, dass die Politische Gemeinde E als Unterstützungswohnsitz ab dem 13. Oktober 2013 für die sozialhilferechtliche Unterstützung von A aufzukommen und die Fallführung zu übernehmen habe. Die Fürsorgebehörde der Politischen Gemeinde E erhob gegen die Unterstützungsanzeige am 31. Oktober 2014 Einsprache. Mit Entscheid vom 15. Januar 2015 wies die Fürsorgekommission der Politischen Gemeinde D die Einsprache ab und verpflichtete die Politische Gemeinde E, ab dem 15. Oktober 2013 für die sozialhilferechtliche Unterstützung von A aufzukommen. Zudem seien der Politischen Gemeinde D die bereits irrtümlich und unzuständigerweise erbrachten Unterstützungsleistungen von Fr. 87'184.50 zurückzuerstatten, ab sofort habe die Politische Gemeinde E die sozialhilferechtliche Fallführung für A zu übernehmen und die notwendigen laufenden Unterstützungen von A zu leisten. Einen von der Politischen Gemeinde E am 3. Februar 2015 dagegen erhobenen Rekurs hiess das DFS mit Entscheid vom 10. Mai 2016 gut und stellte fest, dass der angefochtene Einspracheentscheid nichtig sei. Die Politische Gemeinde D erhob ihrerseits Beschwerde. Das Verwaltungsgericht weist diese im Wesentlichen ab, wobei der - vom DFS zu Unrecht als nichtig bezeichnete - Einspracheentscheid der Politischen Gemeinde G vom 15. Januar 2015 aufgehoben wird.

Aus den Erwägungen:

2.
2.1 (…) Streitgegenstand bildet im vorliegenden Beschwerdeverfahren (…) die Frage, ob die Vorinstanz den Einspracheentscheid der verfahrensbeteiligten Gemeinde vom 15. Januar 2015 zu Recht als nichtig erklärt hat.

2.2 Fehlerhafte Verwaltungsakte sind in der Regel nicht nichtig, sondern nur anfechtbar und werden durch Nichtanfechtung rechtsgültig. Nichtigkeit, das heisst absolute Unwirksamkeit einer Verfügung wird nur angenommen, wenn der ihr anhaftende Mangel besonders schwer wiegt, wenn er offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und wenn zudem die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Inhaltliche Mängel haben nur in seltenen Ausnahmefällen die Nichtigkeit einer Verfügung zur Folge. Als Nichtigkeitsgründe fallen hauptsächlich funktionelle und sachliche Unzuständigkeit einer Behörde sowie schwer wiegende Verfahrensfehler in Betracht (BGE 132 II 21 E. 3.1 und 132 II 342 E. 2.1 je mit weiteren Hinweisen; vgl. auch Häfelin/Müller/Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Aufl., Zürich 2016, N. 1084 ff.). Fehlt einer Verfügung jegliche Rechtsverbindlichkeit in diesem Sinne, ist das durch jede Behörde, die mit der Sache befasst ist, jederzeit und von Amtes wegen zu beachten (Urteil des Bundesgerichts 2C_827/2015, 2C_828/2015 vom 3. Juni 2016 E. 3.3).

2.3 Als erstes ist zu prüfen, ob der Einspracheentscheid vom 15. Januar 2015 mit einem besonders schweren Mangel im Sinne der dargestellten Rechtsprechung behaftet ist.

2.3.1 Die Vorinstanz gelangt im angefochtenen Rekursentscheid vom 10. Mai 2016 zum Ergebnis, dass im Kanton Thurgau keine gesetzliche Grundlage für die Durchführung eines Unterstützungsanzeigeverfahrens bestehe. (…)

2.3.2 Der Auffassung der Vorinstanz ist zuzustimmen. Weder Art. 31 ff. ZUG noch § 4 SHG oder § 20 SHV bilden eine gesetzliche Grundlage für das von der Beschwerdeführerin gewählte Verfahren der Unterstützungsanzeige. Art. 31 ff. ZUG gilt nur für das Verhältnis zwischen Kantonen, nicht aber zwischen Gemeinden des Kantons Thurgau. Im Übrigen regeln diese Bestimmungen lediglich das Verfahren bei Kostenansprüchen des Wohnkantons gegenüber dem Heimatkanton einer bedürftigen Person. Im vorliegenden Fall geht es - abgesehen davon, dass es sich um eine innerkantonale Streitigkeit unter Gemeinden und nicht um eine interkantonale Streitigkeit handelt - auch nicht um eine Rückforderung einer Wohngemeinde gegenüber der Heimatgemeinde einer bedürftigen Person (…). § 4 Abs. 2 SHG bestimmt sodann lediglich, dass sich Wohnsitz und Aufenthalt nach den Vorschriften des Bundes über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger, das heisst nach dem ZUG, „bestimmen“. Eine sinngemässe oder analoge Anwendbarkeit der Bestimmungen des ZUG betreffend das Unterstützungsanzeigeverfahren (Art. 31 ff. ZUG) enthält § 4 Abs. 2 ZUG nicht. Gemäss § 20 SHV ist eine Anzeige innert 30 Tagen dem kantonalen Fürsorgeamt einzureichen, wenn eine Rückerstattung „vom Bund, einem anderen Kanton oder Staat“ verlangt wird. Auch diese Bestimmung enthält weder eine gesetzliche Grundlage für die Anwendung des Unterstützungsanzeigeverfahrens für Rückforderungen zwischen Gemeinden des Kantons Thurgau noch einen Verweis auf die entsprechenden Bestimmungen im ZUG.

2.3.3 Die Vorbringen der Beschwerdeführerin sind unbehelflich.

2.3.3.1 Dies betrifft zum einen ihre Ausführungen zum Vorliegen einer Gesetzeslücke unter Hinweis auf den Entscheid VG.2014.174/E vom 25. März 2015. Das Verwaltungsgericht kam in diesem Entscheid zum Ergebnis, dass hinsichtlich des Instituts des Richtigstellungsverfahrens für den Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis 31. Dezember 2013 eine planwidrige Unvollständigkeit bzw. eine Gesetzeslücke bestanden habe, welche durch analoge Anwendung der ab 1. Januar 2014 geltenden Regelung gemäss §§ 25a und 26a SHV gefüllt werden könne. Dies vor dem Hintergrund, dass im Zuge der Aufhebung von § 20 SHG, der die zweijährige Rückerstattungs- bzw. Unterstützungspflicht der Heimatgemeinde bei Wohnsitznahme eines Thurgauer Bürgers regelte, offensichtlich ohne nähere Prüfung sämtliche (ausgenommen § 24a SHV betreffend Lastenausgleich) unter dem entsprechenden Titel in der SHV („Rückerstattung von Gemeinden“) angeführten Verordnungsbestimmungen, das heisst - nebst den §§ 22 bis 24 SHV - insbesondere irrtümlicherweise auch die (damaligen) §§ 25 und 26 SHV betreffend das Richtigstellungsverfahren gestrichen worden waren. Die Aufhebung von § 20 SHG und der §§ 22 bis 24 SHV entsprach aber klar der gesetzgeberischen Absicht, weil die Kostenerstattungspflicht der Heimatgemeinde als nicht mehr zeitgemäss erachtet wurde (vgl. Botschaft des Regierungsrates zum Gesetz betreffend die Änderung des Gesetzes über die öffentliche Sozialhilfe [Sozialhilfegesetz] vom 29. März 1984). Aufgrund dieses bewussten gesetzgeberischen Entscheides kann bezüglich der Aufhebung von § 20 Abs. 2 SHG in Verbindung mit § 22 f. SHV betreffend das Unterstützungsanzeigeverfahren nicht von einer planwidrigen Unvollständigkeit ausgegangen werden. Eine durch eine analoge Anwendung der ZUG-Bestimmungen betreffend das Unterstützungsanzeigeverfahren zu füllende Lücke des SHG/der SHV liegt damit nicht vor.

2.3.3.2 Entgegen der Darstellung der Beschwerdeführerin verweist § 4 Abs. 2 SHG für die Bestimmung des Wohnsitzes und des Aufenthalts nicht in dem Sinne integral auf das ZUG, als darunter auch das Unterstützungsanzeigeverfahren fiele. In TVR 2007 Nr. 37, E. 3a, stellte das Verwaltungsgericht zwar fest, dass das SHG sowohl mit Bezug auf den Wohnsitz als auch die Rückerstattung integral auf die Regelung im ZUG verweise. Hinsichtlich der Unterstützungsanzeige stützte sich das Verwaltungsgericht im erwähnten Entscheid jedoch auf den damals noch bestehenden § 20 SHG betreffend die Rückerstattung von Unterstützungsleistungen der Wohnsitzgemeinde durch die Heimatgemeinde und den damals noch bestehenden § 22 Abs. 1 und 2 SHV, in welchem das Unterstützungsanzeigeverfahren geregelt war. Gerade § 20 SHG und § 22 SHV wurden jedoch per 1. Januar 2012 aufgehoben, ohne dass - wie dargestellt - eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes oder der Verordnung anzunehmen wäre. Die Aufhebung von § 20 SHG und § 22 f. SHV erfolgte vielmehr - im Gegensatz zur Aufhebung der §§ 25 und 26 SHV - eben nicht unbewusst bzw. versehentlich.

2.3.3.3 Unbehelflich sind die Verweise der Beschwerdeführerin auf die gesetzlichen Regelungen in anderen Kantonen, so insbesondere in den Kantonen St. Gallen und Zürich. Wie dargestellt, enthalten weder das SHG noch die SHV für das Unterstützungsanzeigeverfahren eine entsprechende Grundlage.

2.3.3.4 Unbehelflich ist sodann auch der Hinweis auf das Urteil des Bundesgerichts 2A.714/2006 vom 10. Juli 2007, insbesondere E. 3.6. Dort führte das Bundesgericht aus, dass es sich bei einem bestehenden Unterstützungsfall um einen Dauersachverhalt handle, der unter Umständen einer Neuregelung zugänglich sei. Dies treffe vor allem zu, wenn sich die Tat- oder Rechtslage ändere, was zu einer nachträglichen Anpassung führen könne, oder allenfalls eine neue Beweislage eine Wiedererwägung rechtfertige. Darüber sei jedoch nicht in Verfahren um Richtigstellung zu entscheiden, sondern der Kanton Zürich (= Beschwerdeführer im erwähnten Bundesgerichtsentscheid) müsse dafür durch Einreichung einer begründeten Unterstützungsanzeige an den Kanton Aargau (= dortiger Beschwerdegegner) ein entsprechendes ordentliches Verfahren erst noch einleiten. In jenem Fall ging es somit um das Verhältnis zwischen den Kantonen Zürich und Aargau und nicht zwischen zwei Thurgauer Gemeinden.

2.3.4 Mangels gesetzlicher Grundlage für das von der Beschwerdeführerin eingeleitete Unterstützungsanzeigeverfahren war diese somit nicht befugt, den Einspracheentscheid vom 15. Januar 2015 zu erlassen bzw. mit diesem die Unterstützungszuständigkeit der verfahrensbeteiligten Gemeinde (E) für A rückwirkend und für die Zukunft zu regeln und - als Folge davon - eine Rückforderung von Unterstützungsleistungen zu verfügen. Diese sachliche/funktionelle Unzuständigkeit stellt grundsätzlich einen besonders schwerwiegenden Mangel und damit einen Nichtigkeitsgrund im Sinne der zitierten Rechtsprechung dar (vgl. auch Häfelin/Müller/Uhlmann, a.a.O., N. 1105 ff., insbesondere N. 1107, mit weiteren Beispielen).

2.4 Fraglich ist allerdings, ob dieser Mangel auch „offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar“ im Sinne der angeführten Rechtsprechung war (vgl. E. 2.2 vorstehend). Massgebend ist das Erkenntnisvermögen eines Laien (Häfelin/Müller/ Uhlmann, a.a.O., N. 1098). Wie sich aus der Vernehmlassung der verfahrensbeteiligten Gemeinde vom 20. Juni 2016 ergibt, wird offensichtlich auch von anderen Gemeinden aufgrund des Verweises von § 4 Abs. 2 SHG angenommen, dass die Bestimmungen des ZUG zur Unterstützungsanzeige analog innerkantonal auch auf das Verhältnis zwischen Gemeinden angewendet werden können. Zwar ist dies aus den in E. 2.3 vorstehend dargestellten Gründen nicht der Fall. Allerdings dürfte dies für einen Laien, worunter auch juristisch nicht geschulte Mitarbeitende eines Sozialamtes bzw. einer Sozialhilfebehörde zu verstehen sind, kaum „offensichtlich“ bzw. „leicht erkennbar“ sein. Dasselbe gilt für den Umstand, dass § 20 SHG und die §§ 22 ff. SHV per 1. Januar 2012 aufgehoben wurden. Der besonders schwerwiegende Mangel, an welchem der Einspracheentscheid der Beschwerdeführerin vom 15. Januar 2015 leidet, war für einen Laien somit weder offensichtlich noch leicht erkennbar. Diese Voraussetzung für die Annahme der Nichtigkeit des Einspracheentscheids ist dementsprechend, entgegen der Auffassung der Vorinstanz, nicht erfüllt.

2.5 Daraus folgt, dass die Vorinstanz zu Unrecht von der Nichtigkeit des Einspracheentscheids vom 15. Januar 2015 ausgegangen ist. Nicht weiter zu klären ist dabei die Frage, ob - als weitere Voraussetzung der Nichtigkeit - die Annahme derselben keine ernsthafte Gefährdung der Rechtssicherheit darstellen würde. Mangels Nichtigkeit des Einspracheentscheids ist Dispositiv Ziff. 2 des angefochtenen Rekursentscheids, unter teilweiser Gutheissung der Beschwerde, aufzuheben.

2.6 Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Einspracheentscheid vom 15. Januar 2015 anfechtbar war (und angefochten wurde) und an einem besonders schwerwiegenden Mangel leidet. Nachdem für das Unterstützungsanzeigeverfahren keine gesetzliche Grundlage besteht, erging dieser Einspracheentscheid, wie die Vorinstanz zutreffend festgestellt hat, unter Verletzung des Gesetzmässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 3 BV). Dies führt dazu, dass der Einspracheentscheid rechtswidrig ist und daher mit dem vorliegenden Entscheid nachträglich aufgehoben wird.

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2016.78/E vom 4. Januar 2017

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