TVR 2017 Nr. 6
Egoistische Verbandsbeschwerde, Rechtsmittellegitimation eines Vereins zur Anfechtung einer Verkehrsanordnung
Die Legitimationsvoraussetzungen zur Erhebung einer egoistischen Verbandsbeschwerde gegen eine Verkehrsanordnung (i.c. Geschwindigkeitsbegrenzung auf dem Teilstück einer Nebenstrasse) sind seitens des beschwerdeführenden Vereins (VCS Sektion Thurgau) im vorliegenden Fall nicht gegeben, da nicht ein Grossteil bzw. eine Vielzahl der Verbandsmitglieder den betreffenden Strassenabschnitt mehr als nur gelegentlich benützen.
Gegen eine vom kantonalen Tiefbauamt beim DBU beantragte Verkehrsanordnung auf einem Teilstück der X-Strasse in der Politischen Gemeinde G (Festsetzung der Höchstgeschwindigkeit in den Ausserortsabschnitten auf 60 km/h) erhob im Rahmen des Einwendungsverfahrens unter anderem die Sektion Thurgau des Verkehrs-Clubs der Schweiz (VCS) Einwendungen. Mit Entscheid vom 20. Februar 2017 genehmigte das DBU den vom kantonalen Tiefbauamt leicht modifizierten Antrag. Während der öffentlichen Auflage der Verkehrsanordnung erhob unter anderem die Sektion Thurgau des VCS dagegen Beschwerde. Das Verwaltungsgericht tritt nicht auf diese ein.
Aus den Erwägungen:
2.
2.1 Näher zu prüfen ist die Legitimation der Beschwerdeführerin. Bei dieser, das heisst bei der Sektion Thurgau des VCS, handelt es sich gemäss Art. 1 ihrer Statuten um einen Verein im Sinne von Art. 60 ff. ZGB mit eigener Rechtspersönlichkeit.
2.2 Bei der Rechtsmittelberechtigung von Verbänden bzw. Vereinen ist zu unterscheiden zwischen einem (spezialgesetzlichen) „ideellen Verbandsbeschwerderecht“ einerseits und der Legitimation zur Erhebung einer „egoistischen Verbandsbeschwerde“ andererseits. Ein ideelles Verbandsbeschwerderecht (im Sinne etwa von Art. 12 NHG bzw. von § 44 Ziff. 2 VRG oder Art. 89 Abs. 2 lit. d BGG) ist im Strassenverkehrsrecht bzw. im Bereich der Verkehrsanordnungen gesetzlich nicht vorgesehen (vgl. BGE 136 II 539 E. 1.1 sowie Rohner, Erlass und Anfechtung von lokalen Verkehrsanordnungen, Diss. Zürich/St. Gallen 2012, S. 229). Für die als Verein konstituierte Beschwerdeführerin kommt somit einzig die sogenannte „egoistische Verbandsbeschwerde“ in Frage. Gemäss dieser kann laut Rechtsprechung des Bundesgerichts ein Verband insbesondere zur Wahrung der eigenen Interessen Beschwerde führen. Er kann aber auch die Interessen seiner Mitglieder geltend machen, wenn es sich um solche handelt, die er nach seinen Statuten zu wahren hat, die der Mehrheit oder doch einer Grosszahl seiner Mitglieder gemeinsam sind und zu deren Geltendmachung durch Beschwerde jedes dieser Mitglieder befugt wäre. Diese Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein; sie sollen die Popularbeschwerde ausschliessen. Wer keine eigenen, sondern nur allgemeine oder öffentliche Interessen geltend machen kann, ist nicht befugt, Beschwerde zu führen. Das Beschwerderecht steht daher auch nicht jedem Verein zu, der sich in allgemeiner Weise mit dem fraglichen Sachgebiet befasst. Vielmehr muss ein enger, unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem statutarischen Vereinszweck und dem Gebiet bestehen, in welchem die fragliche Verfügung erlassen worden ist (BGE 136 II 539 E. 1.1 mit weiteren Hinweisen, namentlich auf BGE 131 I 198 E. 2.1, BGE 130 II 514 E. 2.3.3; vgl. auch Fedi/Meyer/Müller, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Thurgau, Basel 2014, § 44 N. 11).
2.3 Der Vereinszweck der Beschwerdeführerin besteht nach Art. 2 ihrer Statuten unter anderem in der Förderung einer minimalen Umweltbelastung, in der Vermeidung von unnötigem Verkehrsaufkommen, in der Förderung optimaler Sicherheit und Gesundheit für alle Verkehrsteilnehmer, namentlich für Kinder, ältere Leute und Behinderte, und in der Begünstigung von Verkehrsmitteln mit optimalem Wirkungsgrad (Velo, öffentlicher Verkehr, Fussgänger etc.). Der Zweck soll gemäss Art. 3 der Vereinsstatuten namentlich durch wirksame rechtliche Aktionen gefördert werden, um die Entwicklung des Verkehrs entsprechend den Zielen des VCS zu beeinflussen. Ein Zusammenhang zwischen der angefochtenen Verkehrsanordnung und dem statutarischen Vereinszweck ist damit gegeben.
2.4 Zu prüfen ist - als kumulative Voraussetzung für die Berechtigung zur Erhebung einer „egoistischen Verbandsbeschwerde“ - weiter, ob auch die Beschwerdebefugnis der Mehrheit oder doch einer Grosszahl der Mitglieder der Beschwerdeführerin gegeben ist.
2.4.1 Eine entsprechende Beschwerdebefugnis steht grundsätzlich allen Verkehrsteilnehmern zu, welche die mit einer Beschränkung belegte Strasse mehr oder weniger regelmässig benützen, wie dies bei Anwohnern oder Pendlern der Fall ist, während bloss gelegentliches Befahren der Strasse nicht genügt (BGE 136 II 539 E. 1.1 mit Verweis auf das Urteil des Bundesgerichts 1A.73/2004 vom 6. Juli 2004 E. 2.2, in: Pra 2004 Nr. 157 S. 894). Die Gerichtspraxis zu dieser Frage ist nicht einheitlich; tendenziell wurde sie im Verlaufe der Zeit eher grosszügiger. So wurde die Beschwerdebefugnis des Automobilclubs der Schweiz (ACS), Sektion Luzern, Ob- und Nidwalden, gegen eine Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit auf einem Abschnitt der Autobahn A2 auf dem Gemeindegebiet von Emmen mit der Begründung bejaht, „dass ein überwiegender Anteil der Mitglieder eines Automobilclubs in einem regional beschränkten Sektionsgebiet die Autobahn regelmässig“ benutze, welche dieses Gebiet durchquere. Die Mehrheit der Mitglieder sei damit von einer diese Autobahn betreffenden Verkehrseinschränkung berührt (Entscheid des Bundesrates vom 23. Mai 2001, E. 5c in: VPB 65/2001 Nr. 114). Sodann erachtete das Bundesgericht den Touring Club Schweiz (TCS), Sektion Bern, Landesteil Bern-Mittelland, bei der Anfechtung einer auf einer Durchgangsstrasse in Münsingen zu errichtenden Tempo-30-Zone als beschwerdelegitimiert, weil es das Argument als plausibel erachtete, Münsingen mit 11‘000 Einwohnern und 7‘000 Zu- und Wegpendlern weise eine grosse Zahl von Automobilisten auf, die Mitglieder des Vereins seien; hinzu kämen Tausende von Automobilisten aus Nachbargemeinden und aus der Region, die täglich durch Münsingen führen (BGE 136 II 539 E. 1.1). In einem Entscheid des Bundesrates vom 29. Juni 1988 (E. 6 in: VPB 53/1989 Nr. 26) wurde demgegenüber die Sektion Nidwalden des TCS als nicht beschwerdebefugt zur Anfechtung einer Verkehrsanordnung auf der Kantonsstrasse zwischen Stans und Engelberg bezeichnet, weil offensichtlich nur eine kleine Minderheit der Mitglieder den fraglichen Strassenabschnitt mehr oder weniger regelmässig befahren habe (vgl. hierzu Rohner, a.a.O., S. 228 f., mit einer Kurzübersicht über die Gerichtspraxis). Im Urteil 1C_121/2017 vom 18. Juli 2017 (vgl. dort E. 1.1.2) bejahte das Bundesgericht die Beschwerdelegitimation der Sektion Solothurn des TCS, als es um die Anordnung einer Tempo-30-Zone in der Stadt Solothurn ging.
2.4.2 Die vorliegend strittige Verkehrsanordnung ist für einen Bereich der X-Strasse zwischen dem Dorfteil C (der zur Politischen Gemeinde F gehört) und der Ortschaft G vorgesehen. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass einzelne der Anwohner der angrenzenden Ortschaften H und G, welche die X-Strasse regelmässig benutzen, Mitglieder der Beschwerdeführerin sind. Ebenso dürften einzelne Mitglieder der Beschwerdeführerin, welche nicht in den Ortschaften H und G wohnen, die X-Strasse gelegentlich oder regelmässig benutzen. Bei dieser Strasse handelt es sich jedoch lediglich um eine Nebenstrasse und nicht um eine Hauptverkehrsachse, wie dies etwa bei stark befahrenen Hauptstrassen, Autobahnen oder zentralen Stadtgebieten der Fall wäre. Der X-Strasse kommt für den Durchgangsverkehr somit insgesamt nur eine eingeschränkte, lokale Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass die Mehrheit oder zumindest eine Grosszahl der Mitglieder der Beschwerdeführerin, die sich aus dem gesamten Kantonsgebiet „rekrutieren“, die X-Strasse mehr oder weniger regelmässig benützen bzw. mehr als nur gelegentlich befahren. Etwas Gegenteiliges wird auch von der Beschwerdeführerin, welcher mit Schreiben vom 15. März 2017 ausdrücklich Gelegenheit eingeräumt wurde, ihre Beschwerdelegitimation zu begründen, nicht geltend gemacht.
2.4.3 (…)
2.4.4 (…) Unmassgeblich ist sodann auch, ob die betreffende Strecke Teil einer in einer Velokarte verzeichneten Veloroute ist oder ob es sich um einen Pilgerweg handelt, zumal sich daraus in keiner Weise ableiten lässt, ob die betreffende Teilstrecke auch tatsächlich durch einen Grossteil der Mitglieder der Beschwerdeführerin mehr oder weniger regelmässig benützt wird. Letztlich begründet auch der von RA Dr. C geltend gemachte Umstand, dass der Verkehr auf der betreffenden Strecke Schadstoffimmissionen verursacht, die zu gesundheitlichen Störungen Dritter in anderen Gegenden des Kantonsgebiet führen können, keine spezifische Betroffenheit eines Grossteils der Mitglieder der Beschwerdeführerin; andernfalls wäre der unzulässigen Popularbeschwerde Tür und Tor geöffnet.
2.5 Der vorliegende Fall, in dem es um eine Verkehrsanordnung auf einer Nebenstrasse zwischen den Ortschaften H und G geht, ist nicht vergleichbar mit den oben in E. 2.4.1 angeführten Verfahren, in denen die Legitimation der beschwerdeerhebenden Verbände bejaht wurde. Jene Fälle betrafen durchwegs Hauptverkehrsachsen oder zentrale Stadtteile, woraus auch geschlossen werden konnte, dass diese Strassenbereiche durch einen Grossteil der Mitglieder der jeweiligen (zum Teil nur teilkantonalen) Verbände regelmässig befahren würden. (…) Es ist nicht ersichtlich und wird auch von der Beschwerdeführerin nicht dargetan, dass der von der strittigen Verkehrsanordnung betroffene Abschnitt der X-Strasse durch die Mehrheit oder zumindest eine Grosszahl ihrer Mitglieder mehr oder weniger regelmässig benützt bzw. mehr als nur gelegentlich befahren wird. Vielmehr ist davon auszugehen, dass nur eine kleine Minderheit der Mitglieder der Beschwerdeführerin den fraglichen Strassenabschnitt der X-Strasse mehr oder weniger regelmässig befährt. Damit fehlt es der Beschwerdeführerin aber an der Legitimation, eine „egoistische Verbandsbeschwerde“ gegen die strittige Verkehrsanordnung zu erheben. Auf die vorliegende Beschwerde ist demnach nicht einzutreten.
Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2017.38/E vom 25. Oktober 2017