TVR 2019 Nr. 19
Berechnung der Bewährungsfrist
Art. 16 c Abs. 2 lit. c SVG, Art. 16 c Abs. 2 lit. d SVG
Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung handelt es sich bei den unter anderem in Art. 16c Abs. 2 SVG festgelegten Rückfallfristen um Bewährungsfristen, die mit dem Ablauf des massgeblichen Ausweisentzugs zu laufen beginnen. Das Ende dieser Fristen und das Vorliegen eines massnahmeverschärfenden Rückfalls bestimmen sich ausgehend von diesem Zeitpunkt. Eine "Rückrechnung" der Fristen findet nicht statt, weder ab dem Datum der neuerlichen Widerhandlung noch ab dem Zeitpunkt der deshalb erfolgten Abgabe des Führerausweises.
Mit Verfügung vom 12. Juli 2017 entzog das Strassenverkehrsamt A aufgrund einer schweren Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften im Sinne von Art. 16c Abs. 1 und Abs. 2 lit. d SVG den Führerausweis aller Kategorien, Unterkategorien und Spezialkategorien auf unbestimmte Zeit. Der Ausweis sei bis spätestens 12. Oktober 2017 abzugeben. Die Sperrfrist betrage 24 Monate. Voraussetzung für die Aufhebung des Entzuges sei das Vorliegen eines positiven verkehrspsychologischen Gutachtens. A habe am 31. Oktober 2015 den Personenwagen Porsche Cayenne TG XX auf der Autobahn A1 auf dem Gemeindegebiet G in Richtung Zürich gelenkt. Dabei habe er ein auf dem linken Fahrstreifen fahrendes Fahrzeug rechts überholt und anschliessend wieder auf den linken Fahrstreifen gewechselt. Gemäss rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichts H vom 28. November 2016 handle es sich dabei um eine schwere Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften. Im Massnahmeregister sei A fünf Mal verzeichnet, wobei er in den Jahren 2007 und 2013 schwere Widerhandlungen und in den Jahren 2007, 2009 und 2010 leichte Widerhandlungen gegen die Strassenverkehrsvorschriften begangen habe. Es müsse somit zwingend ein Entzug auf unbestimmte Zeit, mindestens aber für zwei Jahre, angeordnet werden. Bei der Anwendung des massgebenden Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG sei nicht das Verfügungsdatum, sondern das Datum der Widerhandlung massgebend.
Den gegen diese Verfügung erhobenen Rekurs wies die Rekurskommission für Strassenverkehrssachen des Kantons Thurgau ab. A erhob dagegen Beschwerde, welche vom Verwaltungsgericht ebenfalls abgewiesen wird.
Aus den Erwägungen:
2. Vorliegend ist einzig strittig, ab welchem Zeitpunkt sich die Rückfall- bzw. Bewährungsfrist nach Art. 16c Abs. 2 lit. c und d SVG rückwirkend berechnet. Der Beschwerdeführer macht geltend, massgebend sei der Beginn des neuen Führerausweisentzuges per 12. Oktober 2017. Die Vorinstanzen stellten demgegenüber bei der Rückrechnung auf das Datum der neuen Verkehrsregelverletzung am 31. Oktober 2015 ab. Unbestritten ist, dass der erste Ausweisentzug per 6. August 2007 geendet hat und dieses Datum massgeblich ist. Einigkeit herrscht zudem darüber, dass es sich beim Vorfall vom 31. Oktober 2015 um eine schwere Widerhandlung nach Art. 16c Abs. 1 SVG gehandelt hat und bereits die Ausweisentzüge vom 25. Januar 2007 und vom 20.?März 2013 aufgrund von schweren Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz erfolgt sind.
3.
3.1 Gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG wird der Führerausweis nach einer schweren Widerhandlung für unbestimmte Zeit, mindestens aber für zwei Jahre entzogen, wenn in den vorangegangenen zehn Jahren der Ausweis zweimal wegen schweren Widerhandlungen oder dreimal wegen mindestens mittelschweren Widerhandlungen entzogen war; auf diese Massnahme wird verzichtet, wenn die betroffene Person während mindestens fünf Jahren nach Ablauf eines Ausweisentzuges keine Widerhandlung, für die eine Administrativmassnahme ausgesprochen wurde, begangen hat.
3.2 Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung beginnen die Bewährungsfristen nach Art. 16c Abs. 2 lit. b bis e SVG mit dem Ablauf des früheren Entzuges wegen einer Verkehrsregelverletzung zu laufen. In den entsprechenden Urteilen (vgl. z.B. Urteile des Bundesgerichts 1C_180/2010 vom 22.?September 2010 E. 2.3 und 2.4, 1C_520/2013 vom 17. September 2013 E. 3.1 ff. und 1C_520/2016 vom 16. Februar 2017 E. 4.3) musste das Bundesgericht aber nicht darüber befinden, ob die für die Frage der Rückfälligkeit massgebenden Bewährungsfristen ab dem Zeitpunkt der neusten Verkehrsregelverletzung oder ab dem Datum des neuesten Führerausweisentzuges zu berechnen sind. Würde vom Datum des neuesten Führerausweisentzuges per 12. Oktober 2017 ausgegangen, würde vorliegend zwischen diesem und dem Ablauf des ersten Führerausweisentzuges wegen einer schweren Widerhandlung gegen das SVG per 6. August 2007 mehr als zehn Jahre liegen und es käme lit. c von Art. 16c Abs. 2 SVG zur Anwendung, wonach die Mindestentzugsdauer 12 und nicht 24 Monate beträgt. Stellt man dagegen bei der Rückrechnung auf das Datum der neusten Verkehrsregelverletzung am 31. Oktober 2015 ab, sind seit Ablauf des ersten Ausweisentzuges wegen einer schweren Widerhandlung per 6. August 2007 noch nicht zehn Jahre vergangen und es gilt eine Mindestentzugsdauer von 24 Monaten gemäss lit.?d von Art. 16c Abs. 2 SVG. Nicht berufen kann sich der Beschwerdeführer auf Art. 16c Abs. 2 lit. d, 2. Halbsatz, da die fünfjährige Bewährungsfrist für einen Verzicht in jedem Fall nicht erfüllt ist (was auch der Beschwerdeführer nicht geltend macht), nachdem ihm der Führerausweis mit Verfügung vom 20. März 2013 wegen einer schweren Widerhandlung bis 29. Dezember 2013 entzogen worden war.
3.3 Nach einer schweren Widerhandlung wird der Lernfahr- oder Führerausweis entzogen (Art. 16c Abs. 2 SVG). Geht man vom Gesetzeswortlaut aus, sind die für die Frage der Rückfälligkeit massgebenden Bewährungsfristen ab dem Datum der neusten Verkehrsregelverletzung zu berechnen. Dafür spricht auch der Ingress zu Art. 16c Abs. 1 SVG „Führerausweisentzug nach einer schweren Widerhandlung". Auslöser dafür, welche gesetzliche Mindestentzugsdauer gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. b bis e SVG zur Anwendung kommt, ist die Tat selber, das heisst die neuste Verkehrsregelverletzung. Dass in diesem Zusammenhang der Beginn des neusten Führerausweisentzuges auch nur irgendeine Bedeutung haben sollte, lässt sich dem Gesetzeswortlaut nicht entnehmen. Es würde denn auch der (gesetzgeberischen) Logik widersprechen, dass die Länge des neu anzuordnenden Ausweisentzuges vom Beginn dieses Ausweisentzuges selber abhängend sein sollte.
3.4 Zu beachten ist zudem die gesetzgeberische Konzeption des mit der letzten SVG-Totalrevision per 1. Januar 2005 eingeführten Kaskadensystems. Mit dem Ziel der Erhöhung der Verkehrssicherheit auf Schweizer Strassen wurden die Administrativmassnahmen, insbesondere die Ahndung von wiederholten Widerhandlungen, verschärft (vgl. dazu Botschaft vom 31. März 1999 zur Änderung des SVG [BBl 1999 IV 4462 ff.] und Urteil des Bundesgerichts 1C_180/2010 vom 22. September 2010 E. 2.3). Bei den Ausweisentzügen gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. c und d SVG handelt es sich um gesetzliche Sicherungsentzüge (BGE 141 II 220 e. 3.2). Ein Sicherungsentzug erfüllt die Aufgabe, ungeeignete Fahrzeuglenker vom motorisierten Verkehr fernzuhalten, bis deren Fahreignung wiederhergestellt ist. Dies ist in der Regel (wie auch vorliegend) mit Vorlage eines positiven verkehrspsychologischen Gutachtens durch den betroffenen Fahrzeuglenker nachzuweisen. Mit Blick auf die Frage, ob ein bereits mehrmals sanktionierter Fahrzeuglenker durch eine erneute Anlasstat die gesetzliche Vermutung ausgelöst hat, er sei im Sinne des Gesetzes zur Teilnahme am motorisierten Strassenverkehr ungeeignet, muss somit konsequenterweise an das Datum der neusten schweren Verkehrsregelverletzung angeknüpft werden. Mit der Wiederholungstat selber (und nicht erst mit Antritt eines dafür ausgesprochenen Ausweisentzuges) hat der Lenker die gesetzliche Vermutung, er sei als Automobilist ungeeignet, ausgelöst. Die Mindestentzugsdauer eines gesetzlichen Sicherungsentzuges muss sich somit folgerichtig auch nach der Zeitdauer zwischen dem Ablauf des ersten Ausweisentzuges wegen einer schweren Widerhandlung und der neusten Anlasstat richten.
3.5 Die Rückrechnung ab Datum der neusten Anlasstat entspricht zudem nicht nur dem Sicherungsgedanken der gesetzlichen Mindestentzugsdauern gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. c und d SVG, sondern knüpft auch an einen unzweideutig bestimmbaren, nicht von Zufälligkeiten abhängigen Zeitpunkt an. Mit der Frage nach dem Datum, an welchem ein bereits mehrfach sanktionierter Lenker (willentlich und wissentlich) eine neue schwere Wiederholungstat begangen hat, lässt sich bezüglich der Ungeeignetheit bzw. Unbelehrbarkeit des Betroffenen weit mehr aussagen als mit dem (zufälligen) Beginn des neusten Ausweisentzuges.
3.6 Gemäss Art. 46 Abs. 1 StGB wird eine bedingte Strafe widerrufen, wenn der Verurteilte während der Probezeit eine weitere Straftat begeht. Auch wenn es vorliegend um eine Administrativmassnahme des SVG in Form eines Sicherungszentzuges geht, statuiert Art. 16c Abs. 2 SVG jedoch faktisch eine ähnliche Probezeit wie das StGB, weshalb sich ein gewisser Analogieschluss aufdrängt. Die vom Beschwerdeführer angeführte Möglichkeit eines vorsorglichen Sicherungsentzuges kann (muss aber nicht) eine Option der Administrativbehörde darstellen. Ein überzeugender Grund dafür, dass die Rückfallfrist ab dem Beginn des neusten (definitiven) Sicherungsentzugs zurückgerechnet werden müsste, kann darin aber nicht erblickt werden. Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass zwischen dem 6. August 2007 und dem 31. Oktober 2015 die zehnjährige Frist von Art. 16 Abs. 2 lit. d SVG noch nicht verstrichen ist.
3.7 Nichts zu seinen Gunsten abzuleiten vermag der Beschwerdeführer zudem aus der älteren bundesgerichtlichen Rechtsprechung gemäss BGE 127 II 297, wonach die gesetzliche Mindestentzugsdauer unterschritten werden durfte, nachdem das Verfahren mehr als vier Jahre gedauert, der Lenker dies nicht verschuldet und sich während dieser Zeit wohlverhalten hatte. Diese Rechtsprechung aus dem Jahr 2001 bezieht sich nicht auf die aktuelle Gesetzgebung nach der letzten Totalrevision des SVG. Zudem ist vorliegend auch nicht von einer entsprechend langen Verfahrensdauer auszugehen, nachdem die schwere Verkehrsregelverletzung am 31. August 2015 stattgefunden hat und der Entzug des Führerausweises am 12. Juli 2017 - also knapp zwei Jahre nach der Anlasstat - verfügt worden ist. Die Vorinstanzen haben darum zu Recht eine gesetzliche Mindestentzugsdauer bzw. eine Sperrfrist von 24 Monaten nach Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG angeordnet und die Beschwerde ist folglich abzuweisen.
Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2017.186/E vom 11. Juli 2018
Das Bundesgericht hat eine dagegen erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit Urteil 1C_446/2018 vom 5. Februar 2019 abgewiesen.
Aus den Erwägungen des Bundesgerichts:
3.4. Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung handelt es sich bei den unter anderem in Art. 16c Abs. 2 SVG festgelegten Rückfallfristen um Bewährungsfristen, die mit dem Ablauf des massgeblichen Ausweisentzugs zu laufen beginnen. Das Ende dieser Fristen und das Vorliegen eines massnahmeverschärfenden Rückfalls bestimmen sich ausgehend von diesem Zeitpunkt. Eine "Rückrechnung" der Fristen findet nicht statt, weder ab dem Datum der neuerlichen Widerhandlung noch ab dem Zeitpunkt der deshalb erfolgten Abgabe des Führerausweises (vgl. Urteile 1C_180/2010 vom 22. September 2010 E. 2; 1C_731/2013 vom 10. Dezember 2013 E. 3.4 f.; 1C_520/2016 vom 16. Februar 2017 E. 4.3). Überzeugende Gründe, wieso von dieser Rechtsprechung abzuweichen und eine "Rückrechnung" vorzunehmen wäre, bringt der Beschwerdeführer nicht vor. Das Datum der Abgabe des Führerausweises als Ausgangspunkt für eine "Rückrechnung" wäre im Weiteren weder mit dem Wortlaut von Art. 16 Abs. 2 SVG (und jenem der gleich gelagerten Bestimmungen in Art. 16a und b SVG) noch mit dem sogenannten "Kaskadensystem" vereinbar, das mit der Teilrevision des SVG vom 14. Dezember 2001 (AS 2002 2767) eingeführt und namentlich in Art. 16c Abs. 2 SVG verankert wurde. Dieses System bezweckt, Rückfällige härter anzupacken, und knüpft für die Verschärfung der Massnahme an eine erneute Widerhandlung während der Bewährungsfrist an. Der Zeitpunkt der Abgabe des Führerausweises wegen der neuerlichen Widerhandlung ist hingegen nicht massgeblich (vgl. BGE 141 II 220 E. 3.3.3 S. 225 f.; Botschaft vom 31. März 1999 zur Änderung des Strassenverkehrsgesetzes, BBl 1999 4464 und 4474). Das vom Beschwerdeführer befürwortete Vorgehen kommt daher auch aus diesem Grund nicht in Frage.
3.5. Die vorliegend strittige Frage, ob lit. c oder lit. d von Art. 16c Abs. 2 SVG zur Anwendung kommt, ist demnach gestützt auf die dargelegte Rechtsprechung zu beurteilen. Danach begann die Zehnjahresfrist von Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG mit dem Ablauf des Führerausweisentzugs für die im Jahr 2006 begangene schwere Widerhandlung zu laufen, das heisst am 6. August 2007. Für die Jahre 2007, 2009 und 2010 sind Administrativmassnahmen für leichte Widerhandlungen verzeichnet. Wegen einer im Jahr 2012 begangenen schweren Widerhandlung war dem Beschwerdeführer der Ausweis bis zum 29. Dezember 2013 entzogen. Am 31. Oktober 2015 und damit noch während der laufenden Zehnjahresfrist beging er mit dem erwähnten Überholmanöver eine weitere schwere Widerhandlung. Damit sind die Voraussetzungen für den (Sicherungs-)Entzug des Führerausweises für unbestimmte Zeit, mindestens aber für zwei Jahre gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. d SVG erfüllt (vgl. Urteile 1C_520/2016 vom 16. Februar 2017 E. 4.3; 1C_341/2017 vom 2. Oktober 2017 E. 3; zur Qualifikation als Sicherungsentzug vgl. BGE 141 II 220 E. 3.2 S. 224 f.; 139 II 95 E.?3.4.2 S. 103 f. mit Hinweisen). Der Entscheid der Vorinstanz, das Strassenverkehrsamt habe dem Beschwerdeführer gestützt auf diese Bestimmung den Führerausweis für unbestimmte Zeit und unter Ansetzung einer Sperrfrist von 24 Monaten entziehen dürfen, verstösst daher nicht gegen Bundesrecht.