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TVR 2019 Nr. 27

Wiedererwägung als substituierte Begründung; fehlende Adäquanzprüfung bei der ursprünglichen Verfügung im Verfahren der obligatorischen Unfallversicherung


Art. 53 Abs. 2 ATSG


Gleich wie bei der Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes oder der Ausserachtlassung der bei unklaren Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage massgeblichen spezifischen Rechtsprechung von BGE 130 V 352 (nunmehr: BGE 141 V 281) stellt eine Rentenzusprechung im Verfahren der obligatorischen Unfallversicherung ohne explizite oder wenigstens implizite Prüfung der Adäquanz eine Leistungszusprechung auf Grund falscher Rechtsanwendung und damit eine zweifellos rechtsfehlerhafte Verfügung dar, so dass der Unfallversicherer berechtigt ist, darauf zurückzukommen. Gestützt auf diese zweifellose Unrichtigkeit kann eine Überprüfung erfolgen, ohne dass gefragt werden muss, ob die ursprüngliche Verfügung auch im Ergebnis, das heisst im Dispositiv, zweifellos unrichtig ist. Dadurch soll mit Wirkung ex nunc et pro futuro ein rechtskonformer Zustand hergestellt werden. Wie bei einer materiellen Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG ist der Invaliditätsgrad auf der Grundlage eines richtig und vollständig festgestellten Sachverhalts im Zeitpunkt der Verfügung über die Herabsetzung oder Aufhebung der Rente zu ermitteln.


A arbeitete beim Kantonsspital St. Gallen und war bei der Versicherungsgesellschaft V unfallversichert. Am 28. März 1994 erlitt sie bei einem Verkehrsunfall ein HWS-Distorsionstrauma. Die V übernahm die Kosten der Heilbehandlung und richtete ein Taggeld aus. Gestützt auf ein Gutachten des Zentrums für Medizinische Begutachtung (ZMB) vom 12. Dezember 2000 wurde A von der V mit Verfügung vom 18. April 2001 eine ganze UVG-Rente bei einem versicherten Verdienst von Fr. 83‘464.90 und eine Integritätsentschädigung von 60% zugesprochen.
Mit Verfügung vom 13. August 2012 hob die Versicherungsgesellschaft P (welche aus der Fusion der V, der W und der P1 hervorgegangen war) die Verfügung vom 18. April 2001 wiedererwägungsweise auf und legte den versicherten Verdienst auf Fr. 65‘027.-- fest.
Vom 16. bis 19. November 2015 wurde A im Auftrag der P am ZMB erneut begutachtet (Gutachten vom 17. Dezember 2015). Nach Gewährung des rechtlichen Gehörs stellte die P die Invalidenrente mit Verfügung vom 22.?Dezember 2016 per 31. Januar 2017 ein. Dagegen erhob A am 31. Januar 2017 Einsprache, die mit Entscheid vom 19.?Februar 2015 abgewiesen wurde. Dabei ging die P von einer rechtserheblichen Veränderung des Gesundheitszustandes aus und prüfte in der Folge den Rentenanspruch umfassend und ohne Bindung an frühere Beurteilungen. Dagegen liess A Beschwerde erheben, welche das Verwaltungsgericht als Versicherungsgericht abweist.

Aus den Erwägungen:

3.
3.1 Voraussetzung für eine Rentenrevision ist die Änderung des Grades der Invalidität eines Rentenbezügers in einer für den Anspruch erheblichen Weise (Art. 17 Abs. 1 ATSG i.V. mit Art. 1 Abs. 1 UVG).

3.2 Im vorliegenden Fall ist umstritten, ob sich der Grad der Invalidität der Beschwerdeführerin tatsächlich dadurch geändert hat, dass nunmehr keine Instabilität der HWS der oberen Bewegungssegmente mehr festgestellt werden konnte. Im Ergebnis kann diese Frage aber offen gelassen werden, da die Rentenaufhebung per 31. Januar 2017 im Rahmen der substituierten Begründung einer Wiedererwägung ausgewiesen ist, wie sich im Folgenden zeigen wird.

4.
4.1 Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG kann der Versicherungsträger auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Die erstgenannte Voraussetzung meint, dass kein vernünftiger Zweifel an der (von Beginn weg bestehenden) Unrichtigkeit der Verfügung möglich, also einzig dieser Schluss denkbar ist. Das Erfordernis der zweifellosen Unrichtigkeit ist in der Regel erfüllt, wenn eine Leistungszusprechung aufgrund falsch oder unzutreffend verstandener Rechtsregeln erfolgt war oder wenn massgebliche Bestimmungen nicht oder unrichtig angewandt wurden (BGE 140 V 77 E. 3.1). Anders verhält es sich, wenn der Wiedererwägungsgrund im Bereich materieller Anspruchsvoraussetzungen liegt, deren Beurteilung notwendigerweise Ermessenszüge aufweist. Erscheint die Beurteilung einzelner Schritte bei der Feststellung solcher Anspruchsvoraussetzungen (Invaliditätsbemessung, Arbeitsunfähigkeitsschätzung, Beweiswürdigung, Zumutbarkeitsfragen) vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage, wie sie sich im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung darbot, als vertretbar, scheidet die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus. Zweifellos ist die Unrichtigkeit, wenn kein vernünftiger Zweifel daran möglich ist, dass die Verfügung unrichtig war. Es ist nur ein einziger Schluss - derjenige auf die Unrichtigkeit der Verfügung - denkbar (BGE 138 V 324 E. 3.3; Entscheid des Bundesgerichts 8C_525/2017 vom 30. August 2018 E. 7.1).

4.2 Nach der Rechtsprechung ist das Erfordernis der zweifellosen Unrichtigkeit etwa bei Vorliegen einer Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes nach Art. 43 Abs. 1 ATSG erfüllt (vgl. etwa Urteile des Bundesgerichts 8C_638/2017 vom 25. Januar 2018 E. 2.2, 8C_746/2017 vom 22. Dezember 2017 E. 2.2, 9C_362/2017 vom 8. August 2017 E. 2.1, 8C_861/2015 vom 30. Juni 2016 E. 3.2.5, 9C_633/2015 vom 3. November 2015 E. 2.1 und 8C_347/2015 vom 20. August 2015 E. 2.1). Ebenso wird bei Ausserachtlassung der im Zeitpunkt der Gewährung der Rente geltenden Rechtsprechung zu den unklaren Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage nach BGE 130 V 352 (nunmehr: BGE 141 V 281) die zweifellose Unrichtigkeit bejaht (Urteile des Bundesgerichts 9C_727/2016 vom 10. März 2017 E.?3.4 und 8C_68/2013 vom 14. Mai 2013 E. 3.4). Gleich wie bei der Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes oder der Ausserachtlassung der bei unklaren Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage massgeblichen spezifischen Rechtsprechung von BGE 130 V 352 (nunmehr: BGE 141 V 281) stellt eine Rentenzusprechung ohne explizite oder wenigstens implizite Prüfung der Adäquanz eine Leistungszusprechung aufgrund falscher Rechtsanwendung und damit eine zweifellos rechtsfehlerhafte Verfügung dar, so dass der Unfallversicherer berechtigt ist, darauf zurückzukommen. Gestützt auf diese zweifellose Unrichtigkeit kann eine Überprüfung erfolgen, ohne dass gefragt werden muss, ob die ursprüngliche Verfügung auch im Ergebnis, das heisst im Dispositiv, zweifellos unrichtig ist. Dadurch soll mit Wirkung ex nunc et pro futuro ein rechtskonformer Zustand hergestellt werden. Dabei ist wie bei einer materiellen Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG auf der Grundlage eines richtig und vollständig festgestellten Sachverhalts der Invaliditätsgrad im Zeitpunkt der Verfügung über die Herabsetzung oder Aufhebung einer Rente zu ermitteln (vgl. Urteil des Bundesgerichts 8C_861/2015 vom 30. Juni 2016 E. 3.3; vgl. auch BGE 141 V 9 E. 2.3 sowie die Urteile 8C_638/2017 vom 25. Januar 2018 E. 4.1, 9C_362/2017 vom 8. August 2017 E. 2.2, 8C_347/2015 vom 20. August 2015 E. 4.2 und 8C_525/2017 vom 30. August 2018 E. 7.3).

5. Im vorliegenden Fall erlitt die Beschwerdeführerin am 28. März 1994 in Stuttgart einen Auffahrunfall mit einem Schleudertrauma der HWS. (…) In der Folge zeigte sich ein guter Heilungsverlauf, wobei die Beschwerdeführerin über wechselhafte Kopfschmerzen klagte. Es kam zudem zu erheblichen psychischen Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen und einer depressiven Verstimmung reaktiv auf das Schleudertrauma. Somit ist als primäre Unfallfolge klar von einem HWS-Schleudertrauma auszugehen. (…) Im Rahmen eines Schleudertraumas wird (…) nicht zwischen psychischen und physischen Beschwerden unterschieden, sondern eine Gesamtbeurteilung vorgenommen (Entscheid des Bundesgerichts 8C_525/2017 vom 30. August 2018 E. 7.5 mit Verweis auf BGE 134 V 109 E. 2.1). (…) In der Folge hätte die V vor der Leistungszusprache die Adäquanz entweder nach dem damals massgebenden BGE 117 V 359 (Schleudertraumapraxis) oder nach der sogenannten „Psycho-Praxis" nach BGE 115 V 133 prüfen müssen, nachdem die somatischen Unfallfolgen sehr schnell in den Hintergrund getreten waren und durch die psychische Problematik überlagert wurden. Eine solche Adäquanzprüfung ergibt sich aber weder aus der Verfügung vom 18. April 2001, noch aus den übrigen Akten. Es ist vorliegend auch nicht von einer konkludenten Adäquanzprüfung auszugehen. Ebenso wenig hat die V ausgeführt, weshalb sie ausnahmsweise auf eine Adäquanzprüfung hätte verzichten können, sondern hat sich überhaupt nicht mit dieser Problematik auseinandergesetzt. Dies obwohl bereits die Gutachter des ZMB am 12. Dezember 2000 ausgeführt haben, dass sich die Frage der Adäquanz stelle, was jedoch die Verwaltung und die Rechtsprechung zu beantworten habe. Demnach liegt infolge unterlassener Adäquanzprüfung eine zweifellos rechtsfehlerhaft zustandegekommene Verfügung vor (Entscheid des Bundesgerichts 8C_525/2017 vom 30. August 2018 E. 7.4). Eine Prüfung der Adäquanz wurde im Übrigen auch nicht vorgenommen, als die P am 13. August 2012 die Verfügung vom 18. April 2001 wiedererwägungsweise aufhob und den versicherten Verdienst neu auf Fr. 65‘027.-- festlegte. Auch in diesem Zusammenhang wurde wiederum gar nicht auf die Frage der Adäquanz eingegangen. Da zudem auch das Erfordernis der erheblichen Bedeutung erfüllt ist (BGE 140 V 85 E. 4.4), sind die Voraussetzungen für eine Prüfung ex nunc et pro futuro im Rahmen einer Wiedererwägung gegeben. Daran vermag nichts zu ändern, dass die Beschwerdeführerin seit vielen Jahren eine Rente bezieht, was auch die Beschwerdeführerin unter Bezugnahme auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung so anerkennt. Zwar mag es zutreffen, dass eine versicherte Person, welche über viele Jahre ungerechtfertigt eine Invalidenrente bezogen hat, rein faktisch auf Schwierigkeiten stossen wird, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Auf ähnliche Schwierigkeiten wird aber auch eine versicherte Person stossen, deren Gesundheitszustand sich nach vielen Jahren verbessert hat und deren Rente im Revisionsverfahren nach Art. 17 Abs. 1 ATSG aufgehoben wird (BGE 140 V 514 E. 3.5). Ebenfalls ist nicht wesentlich, dass sich die Beschwerdegegnerin im Jahr 2012 eingehender mit dem Fall befasst hat. Das Recht auf Vornahme einer Wiedererwägung ist dadurch weder verwirkt, noch wurde ein Vertrauenstatbestand geschaffen, der eine Wiedererwägung grundsätzlich ausschliessen würde. Der erst 50-jährigen Beschwerdeführerin ist es denn auch einzig aus psychischen Gründen nicht möglich, nach Einstellung der UVG-Rentenzahlungen eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Wenn eine Adäquanzprüfung somit ergibt, dass diese psychischen Beschwerden nicht auf den Unfall vom 28. März 1994 zurückzuführen sind, steht aus rein unfallversicherungsrechtlicher Sicht der Wiederaufnahme einer Tätigkeit nichts im Wege. Im Folgenden ist somit nachträglich eine Adäquanzprüfung vorzunehmen.

6.
6.1 Die Adäquanzprüfung ist unter dem Gesichtspunkt einer psychischen Fehlentwicklung nach Unfall vorzunehmen, wenn die zum typischen Beschwerdebild eines Schleudertraumas der HWS gehörenden Beeinträchtigungen zwar teilweise gegeben sind, im Vergleich zur ausgeprägten psychischen Problematik aber ganz in den Hintergrund treten (BGE 123 V 98 E. 2a). Vorliegend hat das nach dem Unfall durch die Schleuderverletzung geprägte Beschwerdebild bereits in den ersten Monaten nach dem Unfall in eine psychische Überlagerung umgeschlagen, welche schliesslich eindeutige Dominanz aufwies (vgl. dazu BGE 123 V 98 E. 2b). So führten die Gutachter des ZMB im Gutachten vom 17. Dezember 2015 explizit aus, die psychische Fehlverarbeitung des Unfalls habe sich bereits nach den ersten zwei Wochen nach dem Unfallereignis gezeigt. Das psychische Beschwerdebild dominiere die anderen Beschwerden. (…) Die Anwendung der „Psycho-Praxis" durch die Beschwerdegegnerin bestreitet zudem auch die Beschwerdeführerin im Grundsatz nicht.

6.2 bis 6.4 (Wiedergabe der Rechtsprechung zur „Psycho-Praxis" unter Verweis namentlich auf BGE 115 V 133 und BGE 134 V 109 sowie Beurteilung der einzelnen Adäquanzkriterien und Feststellung, dass diese Kriterien - auch bei Anwendung der "Schleudertrauma-Praxis" - im vorliegenden Fall insgesamt nicht erfüllt sind)

6.5 Angesichts der fehlenden Leistungsvoraussetzung der Adäquanz besteht somit kein Leistungsanspruch der Beschwerdeführerin gegenüber der Beschwerdegegnerin aufgrund des Auffahrunfalles vom 28. März 1994. Folglich ist die Rentenaufhebung ex nunc et pro futuro durch die Beschwerdegegnerin per 31. Januar 2017 im Ergebnis zu Recht erfolgt und nicht zu beanstanden. Die Beschwerde ist folglich abzuweisen.

Entscheid des Verwaltungsgerichts als Versicherungsgericht VV.2018.61/E vom 5. Dezember 2018

Das Bundesgericht hat eine dagegen erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit Urteil 8C_117/2019 vom 21. Mai 2019 abgewiesen.

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