TVR 2020 Nr. 14
Anwendbarkeit eines während des Rechtsmittelverfahrens genehmigten neuen Richtplans; Intertemporalrecht
Wenn es bei der Überprüfung der Rechtmässigkeit eines Sondernutzungsplans (i.c. eines Gestaltungsplans für ein Outlet-Center) um wichtige Anliegen der Raumplanung, so namentlich die hochwertige Siedlungsentwicklung nach innen, geht, so würde es einem gewichtigen öffentlichen Interesse entgegenlaufen, wenn der neue Richtplan nach der - während des laufenden Rechtsmittelverfahrens erfolgten - Genehmigung durch den Bundesrat nicht angewendet und stattdessen zum alten Recht zurückgekehrt würde. Im vorliegenden Fall, in dem es um die Frage der Zulässigkeit der Ansiedlung einer verkehrsintensiven Einrichtung in der in einem zentralen Ort gelegenen Industriezone geht, ist daher - unter analoger Anwendung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur intertemporalen Regelung bei Einzonungen - der erst während des hängigen Rechtsmittelverfahrens genehmigte teilrevidierte kantonale Richtplan 2017 anwendbar.
Die A AG plant die Errichtung eines Outlet-Centers im Gebiet G in der Politischen Gemeinde B, wobei ein Teil des Bauprojekts auf dem Gebiet der benachbarten Politischen Gemeinde C liegt. Hierfür liess die A AG den Gestaltungsplan "P" sowie einen Umweltverträglichkeitsbericht (nachfolgend "UVB") ausarbeiten. Das dem Gestaltungsplan zugrunde liegende Projekt sah die Erstellung von drei separaten Gebäuden mit einer Verkaufsfläche von insgesamt 30'000 m2 und von 930 Parkplätzen vor. Die Baugrundstücke befinden sich in der Industriezone. Das Vorhaben wurde von den zuständigen kantonalen Stellen als umweltverträglich qualifiziert. Am 9. bzw. 16. November 2015 beschlossen die Gemeinderäte der Politischen Gemeinden B und C den Gestaltungsplan "P". Gegen den Gestaltungsplan wurden Rekurse erhoben. Gestützt unter anderem auf ein extern eingeholtes Gutachten zur Frage der Plausibilität der im UVB bzw. in den dazugehörigen Verkehrsgrundlagen prognostizierten Besucher- und Verkehrszahlen verweigerte das DBU mit Entscheid vom 9. April 2019 die Genehmigung des Gestaltungsplans "P". Mit gleichzeitig ergangenem Entscheid hiess das DBU die Rekurse gut und hob die angefochtenen Entscheide der Politischen Gemeinden B und C auf. Gegen die Entscheide des DBU erhoben die Politischen Gemeinden B und C (Beschwerdeführerinnen 1 und 2) sowie die A AG (Beschwerdeführerin 3) Beschwerde. Das Verwaltungsgericht weist die Beschwerden ab.
Aus den Erwägungen:
2.
2.1 Streitgegenstand bildet die Frage, ob die Vorinstanz zu Recht den Gestaltungsplan "P" nicht genehmigt bzw. die dagegen gerichteten Rekurse gutgeheissen hat. In erster Linie wurden die angefochtenen Entscheide von der Vorinstanz damit begründet, dass dem UVB eine nachvollziehbare Ausgangslage für die Abschätzung der projektinduzierten Verkehrserzeugung und der damit verbundenen Umweltauswirkungen fehle. Der UVB sei mangelhaft, soweit er auf einer aus den Besucherzahlen abgeleiteten Verkehrsprognose basiere. Nebst dieser Hauptbegründung der Vorinstanz sowie weiteren, im Rahmen des angefochtenen Rekursentscheids geprüften Punkten stellt sich die Vorinstanz insbesondere auf den Standpunkt, dass für die Beurteilung der Rechtmässigkeit des strittigen Gestaltungsplans auf den kantonalen Richtplan (KRP) 2009 und nicht (…) auf den KRP 2017 abzustellen sei. Angesichts der sich im Zusammenhang mit der Frage der Anwendbarkeit des KRP 2009 oder des KRP 2017 stellenden grundsätzlichen Fragen intertemporalrechtlicher Natur ist nachfolgend als erstes auf diesen Streitpunkt einzugehen.
2.2 Beim Gestaltungsplan "P" handelt es sich um einen Sondernutzungsplan im Sinne der § 23 ff. PBG. Der KRP ist behördenverbindlich (vgl. § 15 PBG). Der Gestaltungsplan "P" wurde von den Gemeinderäten der Beschwerdeführerinnen 1 und 2 am 9. bzw. 16. November 2015 beschlossen und lag vom 27. November 2015 bis 16. Dezember 2015 öffentlich auf. Damals war der KRP 2009 in Kraft. Am 11. Oktober 2016 wurden die gegen den Gestaltungsplan erhobenen Einsprachen durch die Beschwerdeführerinnen 1 und 2 abgewiesen. Mit Eingabe vom 2. November 2016 erhob der Verfahrensbeteiligte dagegen Rekurs. Am 6. Dezember 2017 verabschiedete der Grosse Rat des Kantons Thurgau den teilrevidierten kantonalen Richtplan (KRP 2017). Mit dieser Teilrevision wurden in der Hauptsache das Siedlungsgebiet festgesetzt und die Bereiche Verkehr und Energie überarbeitet. Am 4. Juli 2018 wurde der teilrevidierte KRP durch den Bundesrat genehmigt, wobei gleichzeitig das Einzonungsmoratorium gemäss Art. 38a Abs. 2 RPG aufgehoben wurde (vgl. https://raumentwicklung.tg.ch/themen/kantonaler-richtplan.html/4211). Am 9. April 2019 erliess die Vorinstanz die vorliegend angefochtenen Entscheide (Rekursentscheid und Nichtgenehmigungsentscheid).
2.3 In übergangsrechtlicher Hinsicht bestimmt § 121 Abs. 1 PBG, dass bei Inkrafttreten dieses Gesetzes hängige Baugesuche und Planungen "nach altem Recht" zu beurteilen sind. Die Hängigkeit bestimmt sich bei Baugesuchen nach dem Zeitpunkt der Einreichung, bei Planungen nach dem Zeitpunkt, zu welchem die Gemeindebehörde die Planauflage publiziert (§ 121 Abs. 2 PBG). Ob mit "altem Recht" gemäss § 121 Abs. 1 PBG nebst den Vorschriften dieses Gesetzes auch die richtplanerischen Vorgaben gemeint sind, geht aus dieser Bestimmung nicht hervor. Dies kann jedoch dahingestellt bleiben, da sich - selbst wenn dies der Fall wäre - die Anwendbarkeit des KRP 2017, wie nachfolgend dargestellt, aus übergeordnetem Recht ergibt.
2.4 Als intertemporalrechtlicher Grundsatz ist nach der bundesgerichtlichen Praxis - wenn es an einer ausdrücklichen übergangsrechtlichen Regelung fehlt - regelmässig vom Rechtszustand auszugehen, der im Zeitpunkt einer Bewilligung galt. Eine Ausnahme ist jedoch dann zu machen, wenn zwingende Gründe dafür bestehen, das neue Recht sogleich anzuwenden. Dies trifft vor allem dann zu, wenn Vorschriften um der öffentlichen Ordnung Willen oder zur Durchsetzung erheblicher öffentlicher Interessen erlassen worden sind. Zwingende Gründe für eine sofortige Anwendung des neuen Rechts hat das Bundesgericht im Bereich des Gewässer-, Natur-, Heimat- und Umweltschutzrechts als gegeben erachtet (BGE 139 II 470 E. 4.2 mit weiteren Hinweisen).
2.5 Das Bundesgericht hat sich in neueren Urteilen zu intertemporalrechtlichen Fragen namentlich im Zusammenhang mit Einzonungen bzw. mit Art. 38a RPG geäussert. Zwar geht es im vorliegenden Fall nicht um eine Einzonung (das streitbetroffene Gebiet befindet sich gemäss dem aktuellen Zonenplan bereits in der Industriezone und damit in einer Bauzone). Jedoch erweist es sich als sachgerecht und angezeigt, angesichts der selben, im Vordergrund stehenden raumplanungsrechtlichen Ziele und Grundsätze (insbesondere die hochwertige Siedlungsentwicklung nach innen) für die Beurteilung der Frage nach der intertemporalrechtlichen Anwendbarkeit des KRP 2009 oder des KRP 2017 die diesbezüglichen Bestimmungen und die dazu ergangene bundesgerichtliche Rechtsprechung heranzuziehen.
2.6 Im Zusammenhang mit der Begrenzung der Gesamtfläche des Siedlungsgebietes wurde am 1. April 2017 § 122a PBG in Kraft gesetzt. Gemäss dieser kantonalrechtlichen Übergangsbestimmung darf die im Richtplan festgesetzte Gesamtfläche des Siedlungsgebietes nach der Anpassung des kantonalen Richtplans an Art. 38a Abs. 1 und Art. 8a Abs. 1 RPG bis zum 31. Dezember 2040 nicht vergrössert werden. Das in der Übergangsbestimmung von Art. 38a RPG statuierte Einzonungsmoratorium ist Bestandteil der als Gegenvorschlag zur Landschaftsinitiative vom 14. August 2008 durchgeführten RPG-Revision. Mit dieser Revision wollte der Gesetzgeber die Zersiedelung eindämmen und den Kulturlandverlust stoppen, dies unter anderem durch inhaltliche Anforderungen an die kantonalen Richtpläne im Bereich Siedlung. Nach Art. 38a RPG, worauf § 122a PBG Bezug nimmt, passen die Kantone innert 5 Jahren nach Inkrafttreten der Änderung ihre Richtpläne an die Anforderungen der Art. 8 und Art. 8a Abs. 1 RPG an (Abs. 1). Bis zur Genehmigung dieser Richtplananpassung durch den Bundesrat darf im betreffenden Kanton die Fläche der rechtskräftig ausgeschiedenen Bauzonen insgesamt nicht vergrössert werden (Abs. 2; "Einzonungsmoratorium"). Diese Übergangsregelung wird in Art. 52a RPV präzisiert (vgl. zum Ganzen: Urteil des Bundesgerichts 1C_384/2016 vom 16. Januar 2018 E. 2.3 mit Verweis namentlich auf die Botschaft des Bundesrates zur Teilrevision des Raumplanungsgesetzes vom 20. Januar 2010, BBl 2010 1053 Ziff. 1.1).
2.7 Gemäss Bundesgericht ging der Gesetzgeber davon aus, dass die Bauzonen in zahlreichen Kantonen überdimensioniert seien und das geltende Recht Lücken aufweise; insbesondere fehlten klare Vorgaben zur Entwicklung und Begrenzung des Siedlungsgebiets in den kantonalen Richtplänen. Die Kantone müssten daher ihre Richtpläne anpassen, um insbesondere die Grösse der Siedlungsfläche insgesamt und ihre Verteilung im Kanton zu bestimmen, eine hochwertige Siedlungsentwicklung nach innen zu bewirken und sicherzustellen, dass die Bauzonen den Anforderungen von Art. 15 RPG entsprechen (Art. 8a Abs. 1 RPG). Das Bundesgericht hielt weiter fest, dass ein gewichtiges öffentliches Interesse daran bestehe, dass die - in vielen Gemeinden bereits überdimensionierten - Bauzonen nicht noch vergrössert würden, um die Anpassung der Richtpläne und allenfalls gebotene Rückzonungen nicht negativ zu präjudizieren. Zudem habe seit der Volksabstimmung vom 3. März 2013 mit dem Inkrafttreten des revidierten RPG gerechnet werden müssen (Urteil des Bundesgerichts 1C_384/2016 vom 16. Januar 2018 E. 2.3 mit weiteren Hinweisen). Unbestritten sei, so das Bundesgericht weiter, dass bis zur Genehmigung der betreffenden kantonalen Richtplananpassung die Übergangsbestimmung von Art. 38a Abs. 2 RPG anwendbar gewesen sei. Uneinigkeit bestehe jedoch in Bezug auf die Frage, was ab diesem Zeitpunkt gelten solle (Urteil des Bundesgerichts 1C_384/2016 vom 16. Januar 2018 E. 2.4).
2.8 Das Bundesgericht stellte fest, dass es den erwähnten öffentlichen Interessen diametral entgegenliefe, wenn der neue kantonale Richtplan sowie die revidierte Fassung von Art. 15 RPG nach der Genehmigung des Richtplans durch den Bundesrat nicht angewendet und stattdessen zum alten Recht zurückgekehrt würde. Der Sinn und Zweck der sofortigen Anwendung von Art. 38a RPG liege darin, die Anpassung der Richtpläne und allenfalls gebotene Rückzonungen nicht negativ zu präjudizieren. Gerade dies wäre jedoch die Folge, wenn eine Zonenplanrevision, die diesem Übergangsregime unterliege, nach Genehmigung des Richtplans nicht auf die Vereinbarkeit mit diesem und mit Art. 15 RPG in seiner heutigen Fassung überprüft würde (Urteil des Bundesgerichts 1C_384/2016 vom 16. Januar 2018 E. 2.5; vgl. zur übergangsrechtlichen Anwendbarkeit des Bundesgesetzes über Zweitwohnungen [ZWG, SR 702]: BGE 144 II 326 E. 2, in: Pra 108 [2019] Nr. 14). Aufgrund dieser bundesgerichtlichen Rechtsprechung wäre es mit anderen Worten nicht mehr vertretbar, eine veraltete und nicht mehr bundesrechtskonforme Planung weiterhin anzuwenden, wenn die aktuelle Raumplanung die neuen raumplanungsrechtlichen Prinzipien umsetzt (vgl. Entscheid des Kantonsgerichts Fribourg 602 2019 3 vom 3. September 2019, in: BR 2/2020 S. 81).
2.9 Ein derartiges neues raumplanungsrechtliches Prinzip, welches mit der RPG-Revision durchgesetzt werden soll, stellt - nebst der Vermeidung einer weiteren Vergrösserung von bereits überdimensionierten Bauzonen - insbesondere auch die hochwertige Siedlungsentwicklung nach innen dar (Art. 8a Abs. 1 lit. c RPG, Urteil des Bundesgerichts 1C_384/2016 vom 16. Januar 2018 E. 2.3, und Ziffern 1.3.1 und 2.3.4 der Botschaft zu einer Teilrevision des Raumplanungsgesetzes vom 20. Januar 2010, in: BBl 2010 S. 1056 und S. 1069 f.). Mit der Hochwertigkeit ist nicht etwa ein finanzieller Wert angesprochen, sondern der Aspekt der Siedlungsqualität. Mit «hochwertiger» Siedlungsentwicklung nach innen wird grosses Gewicht auf die qualitativen Aspekte der Siedlungen gelegt, mit denen Mehrwerte geschaffen werden können. Wichtige Qualitätsmerkmale einer solchen Siedlungsentwicklung sind etwa die Nähe zu den Versorgungseinrichtungen und den öffentlichen Dienstleistungen, kurze Distanzen zwischen Wohn-, Arbeits- und Erholungsgebieten sowie den heutigen Wohn- und Arbeitsbedürfnissen angepasste Gebäude (vgl. Ziff. 2.3.4 der Botschaft zu einer Teilrevision des Raumplanungsgesetzes vom 20. Januar 2010, in: BBl 2010 S. 1070). Inhalt des Richtplanes im Bereich Siedlung bildet gemäss Art. 8a Abs. 1 lit. b RPG insbesondere auch die Regelung, wie Siedlungen und Verkehr aufeinander abgestimmt und eine rationelle sowie flächensparende Erschliessung sichergestellt wird.
2.10 Wie bei der Vermeidung unzulässiger Einzonungen würde es vor diesem Hintergrund auch bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer verkehrsintensiven Einrichtung den erwähnten gewichtigen öffentlichen Interessen (hochwertige Siedlungsentwicklung nach innen und Abstimmung von Siedlung und Verkehr bzw. Sicherstellung einer rationellen und flächensparenden Erschliessung) entgegen laufen, wenn der neue kantonale Richtplan (KRP 2017) nach der Genehmigung durch den Bundesrat nicht angewendet und stattdessen zum alten Recht bzw. zum alten Richtplan (KRP 2009) zurückgekehrt würde. Somit sprechen auch vorliegend zwingende Gründe für eine sofortige Anwendung des - erst im Laufe des Rechtsmittelverfahrens genehmigten - KRP 2017. Für die Beurteilung der Rechtmässigkeit, das heisst der RPG- und Richtplankonformität, des Gestaltungsplanes "P" ist folglich auf den KRP 2017 abzustellen.
Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2019.77/VG.2019.81/E vom 3. Juni 2020