TVR 2020 Nr. 29
Zuständigkeit für die Übernahme von Fremdplatzierungskosten; Frage der Dauerhaftigkeit der Massnahme als Kriterium
Auch bei einem nur superprovisorischen Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts über das minderjährige Kind kann bereits eine dauerhafte Fremdplatzierung im Sinne von Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG vorliegen. Eine definitive Anordnung der KESB ist dafür nicht zwingend. Entscheidend ist einzig, ob bei Beginn der Fremdplatzierung von Dauerhaftigkeit auszugehen oder nur eine vorübergehende Lösung beabsichtigt war. Sowohl eine freiwillige und faktische Fremdplatzierung als auch eine behördlich und vorsorglich angeordnete Fremdplatzierung können den Anwendungsfall von Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG begründen.
J wurde am 23. Februar 2018 geboren. Bereits vor seiner Geburt wurde für ihn und seine Mutter (nachfolgend Kindsmutter) ab dem 10. Februar 2018 in O (Kanton Thurgau) eine betreute Wohnmöglichkeit organisiert. Die Kindsmutter meldete sich am 3. Mai 2018 polizeilich in der Politischen Gemeinde W (Kanton St. Gallen) ab und am 4. Mai 2018 in der Politischen Gemeinde K (Kanton Thurgau) an. Die KESB entzog ihr mit superprovisorischer Verfügung vom 17. April 2018 das Aufenthaltsbestimmungsrecht über J und verfügte dessen vorsorgliche Platzierung bei der Pflegefamilie in O. Mit Beschluss vom 10. Juli 2018 bestätigte die KESB diesen Entscheid. Die Politische Gemeinde K wies das Gesuch der Beiständin von J um Übernahme der Platzierungskosten mangels Zuständigkeit ab. Den dagegen erhobenen Rekurs wies das DFS ab. Das Verwaltungsgericht weist die Beschwerde von J ab.
Aus den Erwägungen:
2.3 Strittig ist, ob sich der Unterstützungswohnsitz des Beschwerdeführers nach Art. 7 Abs. 2 ZUG oder Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG bestimmt und ob dieser in der Politischen Gemeinde K liegt. Nachfolgend zunächst zu prüfen ist, ob von einer dauerhaften Fremdplatzierung des Beschwerdeführers in der Pflegefamilie in O auszugehen ist.
3.
3.1 Von Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG werden freiwillige oder behördliche Fremdplatzierungen von minderjährigen, unter elterlicher Sorge stehenden und wirtschaftlich unselbständigen Kindern ohne Entzug der elterlichen Sorge erfasst (Urteil des Bundesgerichtes 2A.134/2006 vom 29. Juni 2006 E. 4.3.1 mit Hinweis auf Thomet, Kommentar zum Bundesgesetz über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger [ZUG], 2. Aufl., Zürich 1994, Rz. 125). Als eigener Unterstützungswohnsitz des minderjährigen Kindes gemäss Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG gilt der Ort, an dem es unmittelbar vor der Fremdplatzierung gemeinsam mit den Eltern oder einem Elternteil gelebt bzw. Wohnsitz gehabt hat. Der derart definierte Unterstützungswohnsitz bleibt künftig für die gesamte Dauer der Fremdplatzierung der gleiche, auch wenn die Eltern oder der sorgeberechtigte Elternteil den Wohnsitz wechseln. Ziel dieser Regelung ist es, jeder minderjährigen Person rasch und eindeutig einen Unterstützungswohnsitz zuweisen zu können, der bei dauernd Fremdplatzierten im Interesse der Standortgemeinden von Heimen und anderen sozial-pädagogischen Einrichtungen möglichst nicht am Aufenthaltsort sein sollte. Ein eigener Unterstützungswohnsitz am Aufenthaltsort (Art. 7 Abs. 3 lit. d ZUG) soll nur bestehen, wenn kein "letzter gemeinsamer Wohnsitz" mit den Eltern oder einem Elternteil vorhanden ist (BGE 143 V 451 E. 8.4.2 mit Hinweisen).
3.2 Als lediglich vorübergehend - und damit keinen eigenen Unterstützungswohnsitz des minderjährigen Kindes nach Art. 7 Abs. 3 lit. c i. V. mit Abs. 1 und 2 ZUG begründend - gelten Fremdaufenthalte in auswärtigen Institutionen, die entweder nur von kurzer Dauer sind oder bei denen ein enger Kontakt zwischen Kindern und Eltern aufrechterhalten wird und die Absicht besteht, dass die Kinder nach einer bestimmten Zeit wieder zu den Eltern ziehen. Kümmern sich die Eltern hingegen nicht ernstlich um ihre Kinder bzw. nehmen sie ihre elterliche Sorge nicht wahr und erfolgt die Fremdplatzierung auf unbestimmte Zeit oder für mehr als sechs Monate, spricht dies in der Regel für die Dauerhaftigkeit des Fremdaufenthaltes. Ob dabei die elterliche Sorge entzogen wird oder entsprechende Bestrebungen bestehen, ist nicht massgeblich. Genauso wenig kommt es auf die tatsächliche Dauer des Fremdaufenthaltes an. Entscheidend ist einzig, ob bei Beginn der Fremdplatzierung von Dauerhaftigkeit auszugehen oder nur eine vorübergehende Lösung beabsichtigt war. Andernfalls könnte immer erst nach einer bestimmten Dauer des Fremdaufenthalts darüber entschieden werden, wo sich der Unterstützungswohnsitz befindet, was nicht dem Sinn des Gesetzes entsprechen kann, will dieses doch gerade für klare Verhältnisse bei der interkantonalen Zuständigkeitsausscheidung sorgen. Vorübergehend nicht bei den Eltern lebt ein Kind beispielsweise im Rahmen von Ferien, Spital- oder Kuraufenthalten, Abklärungen der Invalidenversicherung, für die Dauer der Unpässlichkeit eines Elternteils oder bei auswärtiger Schul- oder Berufsausbildung. Anders verhält es sich, wenn die Eltern oder ein Elternteil sich nicht ernstlich um das fremdplatzierte Kind kümmern bzw. die elterliche Sorge faktisch nicht wahrnehmen. In diesem Fall sind in der Regel auch die Voraussetzungen zur Entziehung der elterlichen Sorge nach Art. 311 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB gegeben. Dass die elterliche Sorge tatsächlich entzogen wurde, ist indessen für die Begründung des eigenen Unterstützungswohnsitzes nach Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG nicht erforderlich. Erfolgt eine Fremdplatzierung demgegenüber auf unbestimmte Zeit oder für mehr als sechs Monate, so kann grundsätzlich von ihrer Dauerhaftigkeit ausgegangen werden. Zudem ist der Zweck des Aufenthaltes massgebend: Therapeutische und der Abklärung dienende Massnahmen sprechen gegen und Kindesschutzmassnahmen tendenziell für eine dauernde Fremdplatzierung (BGE 143 V 451 E. 8.4.3 mit Hinweisen).
3.3
3.3.1 Der Beschwerdeführer wurde bereits unmittelbar nach seiner Geburt in der Pflegefamilie in O untergebracht. Die Unterbringung erfolgte zwar zunächst zusammen mit seiner Mutter und war offenbar als betreute Wohnmöglichkeit für Mutter und Kind gedacht. Wie sich allerdings schon zeitnah zeigte, konnte die Mutter des Beschwerdeführers elementarste elterliche Pflichten aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigungen nicht ausreichend wahrnehmen, stand sie doch in der Nacht jeweils nicht selber auf, um die Bedürfnisse des Beschwerdeführers zu befriedigen, sondern musste durch die Pflegefamilie geweckt werden. Bereits am 5. März 2018 machte ihr eigener Beistand bei der KESB eine schriftliche Gefährdungsmeldung. Am 16. April 2018 trat die Kindsmutter freiwillig in die Psychiatrische Klinik in T SG ein, verliess diese jedoch auf eigenen Wunsch bereits am gleichen Abend in Begleitung ihrer Mutter wieder, obwohl sie nach Angaben der zuständigen Ärztin eine medikamentöse Behandlung benötigt hätte und erfahrungsgemäss sodann auch schnell wieder zugänglich und kooperativ wäre. Am 17. April 2018 machte der Beistand der Kindsmutter erneut eine telefonische Gefährdungsmeldung und orientierte die KESB dahingehend, dass sich die Kindsmutter in einem psychischen Ausnahmezustand befinde und sehr schnell äusserst aggressiv reagiere, weil sie ihre dringend benötigten Medikamente zurzeit nicht nehme und daher zum Beschwerdeführer nicht kindgerecht schauen könne und damit von ihr für den Beschwerdeführer eine Gefahr ausgehe. Diese Meldung führte schliesslich gleichentags zum superprovisorischen Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts und der vorsorglichen Platzierung des Beschwerdeführers in der Pflegefamilie. Zwischen dieser und der Kindsmutter war es unterdessen zu Konflikten gekommen, weshalb letztere die Unterkunft in O vorerst zeitweilig und ab Anfang Mai 2018 dauerhaft verlassen hatte, wobei sie ihren Sohn in der Obhut der Pflegefamilie liess. Faktisch war der Beschwerdeführer somit bereits ab dem Zeitpunkt seiner Geburt freiwillig fremdplatziert.
3.3.2 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung genügt für die Annahme der Dauerhaftigkeit der Fremdplatzierung, wenn diese auf unbestimmte Zeit erfolgt (vgl. BGE 143 V 451 E. 8.4.3). Die Platzierung des Beschwerdeführers in der Pflegefamilie in O wurde nicht befristet, auch nicht mit der superprovisorischen Verfügung vom 17. April 2018. Mit diesem Entscheid wurde keine bestimmte (Maximal)Dauer festgelegt. Weder aus den Umständen noch den Akten ergibt sich, dass im Zeitpunkt der Fremdplatzierung von Seiten der KESB die Absicht bestanden hätte, den Beschwerdeführer rasch bzw. nach einer bestimmten Zeit wieder der Mutter zuzuführen. Sein Aufenthalt bei der Pflegefamilie in O erfolgte nicht zu Abklärungszwecken und ist aufgrund der erheblichen Probleme der Kindsmutter zu jenem Zeitpunkt auch nicht auf eine vorübergehende, blosse Unpässlichkeit der Kindsmutter zurückzuführen. Die Fremdplatzierung erfolgte nicht für eine kurze Dauer, sondern auf unbestimmte Zeit. Es war nicht absehbar, dass der Beschwerdeführer über ein Jahr später, nämlich Anfang August 2019, wieder bei seiner Mutter leben würde, weshalb bei Beginn der Unterbringung von der Dauerhaftigkeit der Fremdplatzierung auszugehen war.
3.4 Der Beschwerdeführer macht unter Hinweis auf das Urteil des Bundesgerichts 8C_701/2013 vom 14. März 2014 geltend, bei einer nur vorsorglichen Anordnung könne nicht auf die Dauerhaftigkeit der Fremdplatzierung geschlossen werden.
3.4.1 Im Urteil 8C_701/2013 vom 14. März 2014 ging das Bundesgericht im Zusammenhang mit einem vorläufigen Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts (Obhut) und einer vorsorglichen ausserfamiliären Platzierung eines zweijährigen Mädchens davon aus, dass erst mit dem definitivem Obhutsentzug von einer dauerhaften Fremdplatzierung im Sinne des Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG ausgegangen werden könne. Es hielt fest, dass zu Beginn der Fremdplatzierung eine dauerhafte Lösung noch gar nicht habe beabsichtigt sein können, habe es dafür doch klarerweise am vertieften Wissen um die Sachumstände, insbesondere die Prognose hinsichtlich der Entwicklung der innerfamiliären Verhältnisse gefehlt. Gemäss dem diesem Urteil zugrundeliegenden Sachverhalt folgte im Anschluss an die vorsorgliche Massnahme eine kinderpsychologische Begutachtung durch Experten. Das Bundesgericht erwog, erst die betreffenden Fachpersonen seien nach eingehenden Untersuchungen zur Auskunft befähigt gewesen, auf Grund der instabilen Wohn-, Arbeits- und Milieuverhältnisse sei ein Leben des Kindes bei seinen Eltern und seinem Bruder aktuell nicht denkbar. Bei der Fremdplatzierung handle es sich um einen erheblichen Eingriff in die Rechtsstellung der Direktbetroffenen, weshalb diese erst nach gründlichen Abklärungen zur dauerhaften Massnahme erklärt werden könne. Die Vormundschaftsbehörde (heute KESB) habe sich erst nach erfolgter Begutachtung in die Lage versetzt gesehen, die anfänglich provisorischen Charakter aufweisende Betreuungssituation in einen dauerhaften Fremdplatzierungsstatus zu überführen (E. 4.2.2).
3.4.2 Der Sachverhalt des bundesgerichtlichen Urteils 8C_701/2013 vom 14. März 2014 ist mit den vorliegenden Umständen nicht vergleichbar. Vorliegend kann den Akten nicht entnommen werden, dass im Nachgang zur superprovisorischen Verfügung vom 17. April 2018 langwierige und umfassende Abklärungen, insbesondere die Einholung eines Gutachtens notwendig waren. Die kritische Situation, in der sich die Kindsmutter befand, war offensichtlich. Bereits vor Geburt des Beschwerdeführers war erkennbar, dass die Kindsmutter sich in absehbarer Zeit nicht um ihren Sohn würde kümmern können. Mit Ausnahme der zwingenden Anhörung der Kindsmutter wurden offenbar auch keine weiteren Abklärungen getätigt.
3.4.3 Soweit der Beschwerdeführer davon ausgeht, aus dem vorgenannten Bundesgerichtsurteil sei zu schliessen, dass im Zeitpunkt eines superprovisorischen Entzugs des Aufenthaltsbestimmungsrechts und der Unterbringung des minderjährigen Kindes noch keine dauerhafte Fremdplatzierung im Sinne von Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG vorliegen könne, sondern erst mit der definitiven Anordnung und damit mit dem Behördenentscheid der KESB, ist ihm nicht zu folgen. Entscheidend ist einzig, ob bei Beginn der Fremdplatzierung von Dauerhaftigkeit auszugehen oder nur eine vorübergehende Lösung beabsichtigt war (BGE 143 V 451 E. 8.4.3 und Urteil des Bundesgerichts 8C_701/2013 vom 14. März 2014 E. 3.2.2.2). Es kommt demnach auf die Umstände des Einzelfalls an. Sowohl eine freiwillige und faktische Fremdplatzierung als auch eine behördlich und vorsorglich angeordnete Fremdplatzierung können den Anwendungsfall von Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG begründen. Unabhängig des Beschlusses der KESB betreffend Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts und Platzierung vom 10. Juli 2018 war die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Pflegefamilie von Anfang an nicht als bloss vorübergehende, sondern als "dauernde" Lösung im Sinne von Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG beabsichtigt. Mit Beschluss vom 10. Juli 2018 wurde die bisherige Unterbringung des Beschwerdeführers in der Pflegefamilie in O. dann auch weitergeführt.
3.5 Damit ist unter Würdigung aller Umstände davon auszugehen, dass die Fremdplatzierung des Beschwerdeführers von Beginn an auf Dauer bzw. zumindest auf unbestimmte Zeit bzw. auf mindestens sechs Monate angelegt war. Sein Unterstützungswohnsitz bestimmt sich somit nach Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG und befindet sich am letzten gemeinsamen Wohnsitz mit der Kindsmutter.
3.6 Im Zeitpunkt der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Pflegefamilie in O hatte seine Mutter unbestrittenermassen ihren Unterstützungswohnsitz nicht in der Politischen Gemeinde K. Nachdem die Kindsmutter zum massgebenden Zeitpunkt noch in der Politischen Gemeinde W polizeilich gemeldet war, ist vielmehr davon auszugehen, dass sich ihr Unterstützungswohnsitz dort befand (vgl. Art. 4 Abs. 2 ZUG). Daraus folgt, dass die sozialhilferechtliche Unterstützungszuständigkeit für den Beschwerdeführer während seiner dauerhaften Fremdplatzierung nicht bei der Politischen Gemeinde K liegen konnte (Art. 7 Abs. 3 lit. c i. V. mit Abs. 2 ZUG). Die Vorinstanz hat demnach deren sozialhilferechtliche Zuständigkeit zu Recht verneint. Die Beschwerde erweist sich somit als unbegründet und ist abzuweisen.
Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2019.85/E vom 25. September 2019
Das Bundesgericht hat eine dagegen erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit Urteil 8C_833/2019 vom 18. Juni 2020 abgewiesen.