TVR 2020 Nr. 30
Voraussetzungen für die Rückforderung einer IV-(Kinder)Rente; zeitliche Wirkung einer Rentenänderung; Begriff der Ausbildung ist AHV-analog und nicht IV-spezifisch
Art. 25 Abs. 4 AHVG, Art. 49 Abs. 3 bis AHVV, Art. 25 Abs. 1 ATSG, Art. 25 Abs. 2 ATSG, Art. 31 Abs. 1 ATSG, Art. 53 Abs. 2 ATSG, Art. 77 IVV, Art. 85 Abs. 2 IVV, Art. 88 Abs. 2 lit. b bis IVV
Die wiedererwägungsweise Aufhebung einer Invalidenrente erfolgt grundsätzlich ex nunc et pro futuro. Eine rückwirkende Herabsetzung oder Aufhebung der Rente erfolgt zum einen dann rückwirkend, wenn der Bezüger die Leistung zu Unrecht erwirkt hat und der ihm zumutbaren Meldepflicht nicht nachgekommen ist. Zum anderen ist eine rückwirkende Aufhebung von IV-Renten dann zulässig, wenn der Fehler, der zur Wiedererwägung führt, einen AHV-analogen Sachverhalt betrifft. In casu wurde die Frage, ob das Kind als in Ausbildung stehend im Sinne von Art. 49bis Abs. 3 AHVV zu qualifizieren ist, als AHV-analoger Sachverhalt qualifiziert. Gleichzeitig wurde auch eine Meldepflichtverletzung bejaht.
A bezog eine Kinderrente (zur Invalidenrente ihres Exmanns) für ihre Tochter B, geboren 1992, die sich zum Zeitpunkt ihres 25. Geburtstags noch in Ausbildung befand, wobei sie gleichzeitig einer Teilerwerbstätigkeit nachging. Mit Schreiben vom 7. Juli 2017 kündigte die Ausgleichskasse A an, dass der Anspruch auf Kinderrente mit dem 25. Altersjahr erlösche, weshalb die Kinderrente im September 2017 letztmals ausbezahlt werde. Am 14. August 2017 forderte die Ausgleichskasse A auf, ihr zur abschliessenden Leistungsprüfung den Arbeitsvertrag inkl. Lohnangaben ab 1. September 2014 zuzustellen. Mit Verfügung vom 28. Januar 2020 forderte die Ausgleichskasse die im Zeitraum vom 1. Februar 2015 bis 31. August 2017 ausgerichteten Kinderrenten für B in Höhe von total Fr. 19'933.-- zurück. Das Verwaltungsgericht als Versicherungsgericht weist die hiergegen erhobene Beschwerde ab.
Aus den Erwägungen:
2.
2.1 Laut Art. 25 Abs. 1 ATSG sind unrechtmässig bezogene Leistungen zurückzuerstatten. Zu beachten ist dabei, dass die Rückforderung von zu Unrecht bezogenen Geldleistungen in der Sozialversicherung nur unter den für die Wiedererwägung oder die prozessuale Revision formell rechtskräftiger Verfügungen massgebenden Voraussetzungen zulässig ist (Urteil des Bundesgerichts 9C_293/2018 vom 16. August 2018 E. 5.1 mit Hinweisen). In Wiedererwägung ziehen kann die Verwaltung eine formell rechtskräftige Verfügung, die nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung gebildet hat, sofern diese zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (Art. 53 Abs. 2 ATSG). Sodann ist die Verwaltung verpflichtet, auf eine formell rechtskräftige Verfügung zurückzukommen, wenn neue Tatsachen oder neue Beweismittel entdeckt werden, die geeignet sind, zu einer anderen rechtlichen Beurteilung zu führen (prozessuale Revision, Art. 53 Abs. 1 ATSG).
2.2
2.2.1 In Bezug auf die zeitliche Wirkung einer Rentenänderung wendet das Bundesgericht Art. 85 Abs. 2 und 88bis Abs. 2 IVV in ständiger Rechtsprechung auch auf die Wiedererwägung von Invalidenrenten an, so dass die Aufhebung grundsätzlich ex nunc et pro futuro erfolgt. Liegt ein Rückkommenstitel vor, gilt es für die Zukunft einen rechtskonformen Zustand herzustellen. Die Herabsetzung oder Aufhebung einer Rente erfolgt einzig dann rückwirkend ab Eintritt der für den Anspruch erheblichen Änderung, wenn der Bezüger die Leistung zu Unrecht erwirkt hat oder der ihm nach Art. 77 IVV zumutbaren Meldepflicht nicht nachgekommen ist. Seit der Revision von Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV per 1. Januar 2015 kann bei einer Meldepflichtverletzung oder einer unrechtmässigen Erwirkung der Rente die Leistung rückwirkend auf den Zeitpunkt der erheblichen Änderung angepasst werden, ohne dass die Meldepflichtverletzung (oder die unrechtmässige Erwirkung) kausal für die Weiterausrichtung der Rente gewesen sein muss. Jede wesentliche Änderung in den für eine Leistung massgebenden Verhältnissen ist von den Bezügerinnen und Bezügern, ihren Angehörigen oder Dritten, denen die Leistung zukommt, dem Versicherungsträger oder dem jeweils zuständigen Durchführungsorgan zu melden (Art. 31 Abs. 1 ATSG; Art. 77 IVV). Für den Tatbestand der Meldepflichtverletzung ist ein schuldhaftes Fehlverhalten erforderlich, wobei nach ständiger Rechtsprechung bereits leichte Fahrlässigkeit genügt (Urteil des Bundesgerichts 8C_594/2020 vom 28. Mai 2020 E. 2.3 mit Hinweisen).
2.2.2 Unabhängig von einer Meldepflichtverletzung ist eine rückwirkende Aufhebung von IV-Renten dann zulässig, wenn der Fehler, der zur Wiedererwägung führt, einen AHV-analogen Sachverhalt (z. B. versicherungsmässige Voraussetzungen, Berechnungsgrundlagen) betrifft (RWL Rz. 10608 f.). In Bezug auf die Abgrenzung von AHV-analogen Sachverhalten zu IV-spezifischen Faktoren hat das Bundesgericht erkannt, dass etwa bei der Beurteilung des Anspruchs auf eine Invalidenrente Fragen zu beantworten sind, die sich in gleicher Weise auch bei den Renten der AHV stellen. In diesem Sinne seien in beiden Fällen - und unabhängig von allfälligen Besonderheiten des einen oder andern Sozialversicherungszweigs - etwa die Staatsangehörigkeit, der Zivilstand, der Wohnsitz, die Versicherteneigenschaft oder die Berechnungsgrundlagen der ordentlichen Rente (massgebendes durchschnittliches Jahreseinkommen, anwendbare Rentenskala) zu prüfen. Werde im Nachhinein festgestellt, dass ein solcher Faktor bei einer Invalidenrente falsch beurteilt oder berechnet wurde, und müsse deswegen die Leistung herabgesetzt oder aufgehoben werden, so sei mit Bezug auf die Frage der Wirkung dieser Änderung auf die AHV-rechtliche Regelung abzustellen (Urteil des Bundesgerichts 8C_373/2018 vom 26. September 2018 E. 8.2 mit Hinweisen). Bei IV-spezifischen Gesichtspunkten handelt es sich insbesondere um alle Tatsachen, die im Bereich des Invaliditätsgrads von Bedeutung sind (Urteil des EVG I 73/00 vom 17. Januar 2001 E. 1a/bb).
3.
3.1 Männer und Frauen, denen eine Invalidenrente zusteht, haben für jedes Kind, das im Falle ihres Tods eine Waisenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung beanspruchen könnte, Anspruch auf eine Kinderrente (Art. 35 Abs. 1 IVG). Kinder, deren Vater oder Mutter gestorben ist, haben Anspruch auf eine Waisenrente. Sind Vater und Mutter gestorben, so haben sie Anspruch auf zwei Waisenrenten (Art. 25 Abs. 1 AHVG). Der Anspruch auf die Waisenrente entsteht am ersten Tag des dem Tod des Vaters oder der Mutter folgenden Monats. Er erlischt mit der Vollendung des 18. Altersjahrs oder mit dem Tod der Waise (Art. 25 Abs. 4 AHVG). Für Kinder, die noch in Ausbildung sind, dauert der Rentenanspruch bis zu deren Abschluss, längstens aber bis zum vollendeten 25. Altersjahr. Der Bundesrat kann festlegen, was als Ausbildung gilt (Art. 25 Abs. 5 AHVG). Der Begriff der Ausbildung wird in Art. 49bis AHVV geregelt. Gemäss Abs. 3 dieser Bestimmung gilt ein Kind nicht als in Ausbildung, wenn es ein durchschnittliches monatliches Erwerbseinkommen erzielt, das höher ist als die maximale volle Altersrente der AHV.
3.2 Im Jahr 2015 belief sich die maximale volle Altersrente der AHV auf Fr. 2'350.-- (vgl. Art. 34 Abs. 3 i. V. mit Art. 34 Abs. 5 AHVG in der 2015 in der damals geltenden Fassung). Es ist unbestritten, dass das von B ab 1. Januar 2015 erzielte Bruttoeinkommen über diesem Betrag lag. Die Beschwerdeführerin macht jedoch geltend, es sei auf das Nettoeinkommen abzustellen. Dem kann nicht gefolgt werden. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist das Bruttoeinkommen massgebend (BGE 142 V 442). Folglich galt B ab 1. Januar 2015 nicht mehr als in Ausbildung, womit ab diesem Zeitpunkt kein Anspruch auf eine Kinderrente mehr bestand. Damit erweist sich die Ausrichtung einer Kinderrente für B im Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis 31. August 2017 als offensichtlich unrichtig im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG.
4.
4.1 Die Beschwerdegegnerin hat die Kinderrente in der angefochtenen Verfügung per 1. Februar 2015 zurückgefordert. Eine solche rückwirkende Rückforderung ist zulässig, sofern entweder eine Meldepflichtverletzung oder ein AHV-analoger Sachverhalt vorliegt. Die angefochtene Verfügung enthält hierzu keine Ausführungen.
4.2 Die Ausrichtung der Kinderrente für B ab 1. Januar 2015 erwies sich deshalb als offensichtlich unrichtig, weil sie ab diesem Zeitpunkt nicht mehr als in Ausbildung stehend im Sinne von Art. 49bis Abs. 3 AHVV galt. Die Qualifikation von B als in Ausbildung oder als nicht in Ausbildung stehend, lässt keine IV-spezifischen Aspekte erkennen. Vielmehr ist dies als AHV-analoger Sachverhalt im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu qualifizieren. Folglich erweist sich die von der Beschwerdegegnerin verfügte rückwirkende Rückforderung der Kinderrente ab 1. Februar 2015 als korrekt. Selbst wenn man in der Frage, ob B ab 1. Januar 2015 noch als in Ausbildung stehend galt, einen IV-spezifischen Gesichtspunkt erblicken würde, wäre die rückwirkende Rückforderung der Kinderrente ab 1. Februar 2015 nicht zu beanstanden, wäre diesfalls doch eine Meldepflichtverletzung zu bejahen. So war die Beschwerdeführerin gestützt auf Art. 31 Abs. 1 ATSG gehalten, jede wesentliche Änderung in den für eine Leistung massgebenden Verhältnissen, dem Versicherungsträger oder dem jeweils zuständigen Durchführungsorgan zu melden. Auch Art. 77 IVV statuiert eine Meldepflicht für jede für den Leistungsanspruch wesentliche Änderung, namentlich eine solche der persönlichen und gegebenenfalls der wirtschaftlichen Verhältnisse. Dass die Erwerbstätigkeit von B bzw. das mit dieser Erwerbstätigkeit erzielte Einkommen für den Anspruch auf eine Kinderrente relevant war, musste der Beschwerdeführerin bewusst sein, auch wenn sie den diesbezüglich massgebenden Grenzbetrag nicht kannte. So war sie beispielsweise mit Schreiben der Ausgleichskasse vom 22. Juni 2012 aufgefordert worden, eine Kopie des Praktikumsvertrags einzureichen, "da wir einen allfälligen Lohn während des Praktikums überprüfen müssen". Sodann war sie wiederholt aufgefordert worden, (unter anderem) Unterlagen über zusätzliches Erwerbseinkommen während der Ausbildung einzureichen. Dass die Beschwerdeführerin jeweils keine aktuellen Dokumente zum Einkommen von B eingereicht hat, obwohl sie hierzu (wenn auch nur im Rahmen von Standardschreiben) aufgefordert worden war, stellte eine leichte Fahrlässigkeit dar (vgl. auch Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich IV.2017.01293 vom 28. Juni 2018 E. 3.4), womit eine Meldepflichtverletzung zu bejahen ist (vgl. oben E. 2.2.1).
Entscheid des Verwaltungsgerichts als Versicherungsgericht VV.2020.47/E vom 1. Oktober 2020.
Das Bundesgericht hat eine dagegen erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit Urteil 9C_735/2020 vom 28. Januar 2021 abgewiesen.