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TVR 2021 Nr. 28

Keine Verjährung/Verwirkung des flurrechtlichen Beseitigungsanspruchs nach Thurgauer Recht


§ 5 Abs. 2 FlGG


Gemäss der gesetzlichen Regelung im Kanton Thurgau kann der Eigentümer des betroffenen Nachbargrundstückes "jederzeit" die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes verlangen, wenn Pflanzungen den Vorschriften des FlGG nicht entsprechen. Ein schutzwürdiges Interesse muss nicht nachgewiesen werden. Vorbehalten bleibt ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des die Beseitigung bzw. den Rückschnitt verlangenden Grundeigentümers. Eine Verjährung/Verwirkung des Anspruchs nach 30 Jahren besteht im Kanton Thurgau gemäss aktueller Rechtslage und Praxis - im Gegensatz zu anderen Kantonen - nicht.


A und B sind Eigentümer der Liegenschaft Nr. X. Östlich davon befindet sich die im Eigentum von C stehende Liegenschaft Nr. Y. Zwischen diesen beiden Grundstücken verläuft die 1 m breite Wegparzelle Nr. Z, welche im Eigentum der Politischen Gemeinde G steht. Mit Schreiben vom 19. September 2016 stellten mehrere Anwohner, unter anderem auch C, bei der Flurkommission G das Begehren um Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes betreffend die beiden Fichten und die übrigen Bäume und Sträucher auf der Liegenschaft Nr. X. Dabei wurde geltend gemacht, dass eine grosse Gefahr für die Anwohner und ihre Wohnhäuser bestehe, weshalb die beiden Fichten sowie die übrigen Bäume und Sträucher zurückzuschneiden seien. Im Nachgang zu einer entsprechenden Aufforderung der Flurkommission vom 19. Dezember 2016 teilten A und B der Flurkommission mit, die Bäume seien gestutzt und es sei ein Kronenankerseil angebracht worden. Am 7. Februar 2019 liess die Flurkommission durch einen Geometer die drei Fichten auf der Liegenschaft Nr. X vermessen. Mit Entscheid vom 20. Januar 2020 ordnete die Flurkommission der Politischen Gemeinde G unter anderem an, dass A und B verpflichtet würden, die Fichten Nrn. 1, 2 und 3 gemäss dem Geometer-Befund vom 7. Februar 2019 so zurückzuschneiden, dass deren Höhe das Doppelte des Abstandes zur Grenze der Liegenschaft Nrn. Y 3 an keiner Stelle überschreite; gleichzeitig wurde die Ersatzvornahme angedroht. Dagegen liessen A und B Rekurs erheben. Mit Entscheid vom 22. Juni 2020 wies das DIV den Rekurs ab. Eine dagegen von A und B erhobene Beschwerde weist das Verwaltungsgericht seinerseits ab.

Aus den Erwägungen:

2. Gemäss § 5 FIGG dürfen Bäume, Sträucher, Hecken, Lebhäge und ähnliche Pflanzungen sowie mehrjährige landwirtschaftliche Kulturen nie höher gehalten werden als das Doppelte ihres Grenzabstandes (Abs. 1). (…) Des Weiteren ist festzuhalten, dass die Berechtigung der Verfahrensbeteiligten, die Wiederherstellung des flurrechtskonformen Zustandes zu verlangen, nicht deshalb wegfällt, weil deren Liegenschaft Nr. Y (im Eigentum des Verfahrensbeteiligten) keine gemeinsame Grenze zum Grundstück der Beschwerdeführer aufweist, sondern durch die Wegparzelle Nr. Z von dieser getrennt ist. Die Beschwerdeführer bringen diesen Einwand zu Recht nicht mehr vor, zumal sich aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. Urteil des Bundesgerichts 5A_968/2019 vom 20. Mai 2020 E. 3.3.1 ff.) ergibt, dass bei einer räumlichen Betroffenheit auch ein nicht direkt angrenzender Grundeigentümer sich auf die Grenzabstands- und Höhenvorschriften der Flurgesetzgebung und auf die nachbarrechtlichen Bestimmungen des ZGB (vgl. insbesondere Art. 688 ZGB) berufen kann. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

3.
3.1 Strittig und zu prüfen ist vorliegend, ob den Verfahrensbeteiligten gegenüber den Beschwerdeführern hinsichtlich der drei streitbetroffenen Fichten auf der Liegenschaft Nr. X ein Anspruch auf Einhaltung der flurrechtlichen Vorschriften zusteht oder ob ein derartiger Anspruch aufgrund eines mangelnden Rechtsschutzinteresses, zufolge Rechtsmissbrauchs oder wegen Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben verneint werden muss. Die Beschwerdeführer machen geltend, der Wiederherstellungsanspruch der Verfahrensbeteiligten sei verwirkt, da die drei betroffenen Fichten schon länger als 30 Jahre vor der erstmaligen Anrufung der Flurkommission flurrechtswidrig gewesen seien und der Verfahrensbeteiligte diesen Zustand stets geduldet habe.

3.2 In § 5 FlGG wird, wie dargestellt, die zulässige Höhe von Bäumen, Sträuchern, Hecken, Lebhägen und ähnlichen Pflanzungen sowie von mehrjährigen landwirtschaftlichen Kulturen festgelegt (vgl. E. 2 vorstehend). Bei Pflanzungen, die den Vorschriften des FlGG nicht entsprechen, kann der Eigentümer des betroffenen Nachbargrundstückes gemäss § 8 Abs. 1 FlGG jederzeit die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands verlangen. Falls Abweichungen von Abstandsvorschriften vereinbart worden sind, kann lediglich die Herstellung des vereinbarungsgemässen Zustandes verlangt werden (§ 9 Abs. 1 FlGG); Rechtsnachfolgende sind nur an Vereinbarungen gebunden, die als Dienstbarkeit im Grundbuch eingetragen sind (§ 9 Abs. 2 FlGG).

3.3 (Feststellung, dass aufgrund des FlGG zur Geltendmachung eines flurrechtlichen Anspruchs auf Rückschnitt bzw. Beseitigung von flurrechtswidrigen Pflanzungen kein aktuelles schützenswertes Interesse - etwa an der Beseitigung übermässiger Immissionen - seitens der gesuchstellenden bzw. "klagenden" Person dargetan werden muss)

3.4 Sodann findet die Annahme der Beschwerdeführer, wonach ein flurrechtlicher Anspruch betreffend Pflanzungen nach Ablauf einer gewissen Zeit verwirken könne, zumindest gemäss dem Gesetzeswortlaut von § 8 Abs. 1 FlGG keine Grundlage. Der von flurrechtswidrigen Pflanzungen betroffene Grundeigentümer kann gemäss dieser Bestimmung "jederzeit" die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands verlangen. Für den Kanton Thurgau sieht das FlGG keine Verjährungs- oder Verwirkungsfrist vor, innert welcher der Nachbar seine Wiederherstellungsansprüche geltend machen müsste. Die Vorinstanz verwies in diesem Zusammenhang zu Recht auf den das Thurgauer FlGG betreffenden Entscheid des Bundesgerichts 1P.28/2002 vom 9. April 2002. Da es sich bei § 5 FlGG um kantonales Zivilrecht handelt, konnte das Bundesgericht diese Bestimmung akzessorisch auf seine Verfassungsmässigkeit hin überprüfen, insbesondere auf deren Vereinbarkeit mit den Eigentumsrechten des von einer Entfernung oder einem Rückschnitt betroffenen Baumeigentümers. Das Bundesgericht hielt dabei fest, dass die Verfassung bei der Schrankenziehung zwischen den Interessensphären privater Parteien erst verletzt sei, wenn die Schrankenziehung in einer nicht mehr vertretbaren Weise erfolge, indem sie dem einen ein Verhalten verbiete oder vorschreibe, ohne dass dies mit dem Schutz berechtigter Interessen anderer gerechtfertigt werden könne (Urteil des Bundesgerichts 1P.28/2002 vom 9. April 2002 E. 2.2 mit Hinweis). In E. 2.3 des angeführten Urteils hält das Bundesgericht weiter fest, Bäume an der Grenze zwischen zwei Grundstücken führten zwangsläufig und gerichtsnotorisch zu Interessenkonflikten. Was dem einen Nachbarn gefalle oder erwünschten Sichtschutz biete, bedeute für den andern ungewollten Schattenwurf und Verlust der Aussicht. Jede gesetzliche Regelung müsse die eine oder die andere Seite mehr oder weniger stark benachteiligen. Der thurgauische Gesetzgeber habe in dieser Konfliktsituation eine Lösung getroffen, welche vertretbar sei. Sie könne nicht schon deshalb unzulässig sein, weil sie nicht im strengen Sinne notwendig sei. Wohl wären andere Regelungen, die dem baumbesitzenden Eigentümer mehr entgegenkämen, auch möglich und denkbar, doch gingen sie einfach zulasten der anderen beteiligten Seite. Es sei auch nicht unzulässig, diese Gewichtung in einem neuen Gesetz anders zu treffen als im bisherigen. Es liege im Wesen des demokratischen Staates, dass der Gesetzgeber aufgrund gewandelter Anschauungen und Wertungen die einmal erlassenen Gesetze wieder revidieren könne. Dass dadurch die gegenseitige rechtliche Situation der Betroffenen verändert werde, sei die normale Folge einer Gesetzesänderung und könne für sich allein nicht zu deren Unzulässigkeit führen. Sodann dürfe der Gesetzgeber auch das Interesse an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit berücksichtigen und eine Regelung aufstellen, die anders als die bisherige nicht auf die konkreten Umstände des Einzelfalls abstelle, sondern eine eindeutige quantitative Grenze festlege (Urteil des Bundesgerichts 1P.28/2002 vom 9. April 2002. E. 2.3). Sodann sei es - so das Bundesgericht weiter - weder unverhältnismässig noch rechtsungleich, die gesetzliche Regelung auch auf altrechtliche, das heisst vor dem Inkrafttreten des aktuell geltenden FlGG gepflanzte, Bäume anzuwenden (Urteil des Bundesgerichts 1P.28/2002 vom 9. April 2002. E. 2.4).

3.5 In einem anderen, den Kanton St. Gallen betreffenden Fall hielt das Bundesgericht mit Urteil 5A_968/2019 vom 20. Mai 2020 fest, die Kantone seien lediglich ermächtigt, jedoch nicht verpflichtet, Verwirkungs- bzw. Beseitigungsfristen vorzusehen (E. 4.2 mit Hinweis). Das Bundesgericht verneinte zudem die Behauptung der dortigen Beschwerdeführer, das Bundesgericht wende bei der Beurteilung, ab wann von einer verzögerten Rechtsausübung ausgegangen werden könne, Art. 662 ZGB (ausserordentliche Ersitzung) analog an, womit eine Frist von 30 Jahren gelte. Im bundesgerichtlichen Urteil 5D_80/2015 vom 7. September 2015 E. 3.1 und 4.2 habe das Bundesgericht lediglich die Rechtslage im Kanton Aargau geschildert, wo als Richtlinie die Frist der ausserordentlichen Ersitzung von 30 Jahren gelte. Im Kanton St. Gallen gelte demgegenüber der Grundsatz, wonach Rechtsmissbrauch bei langem Tolerieren von Nachbarpflanzen erst bei Vorliegen von besonderen Umständen angenommen werde. Die Ersitzungs- bzw. Verjährungsbestimmungen seien mithin nicht anwendbar (Urteil des Bundesgerichts 5A_968/2019 vom 20. Mai 2020 E. 4.3.2). Da die Rechtslage im Kanton Thurgau weitgehend mit jener im Kanton St. Gallen übereinstimmt, findet die 30jährige Verwirkungsfrist bei ausserordentlicher Ersitzung vorliegend keine Anwendung (vgl. auch TVR 2016 Nr. 10 E. 2.3.4).

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2020.102/E vom 2. Juni 2021

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