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TVR 2021 Nr. 31

Orthopädische Massschuhe, Frage nach der Definition der Fortbewegung


Art. 43 Abs. 1 quater AHVG, Art. 21 IVG


Begriff der Fortbewegung als Voraussetzung der Vergütung von orthopädischen Massschuhen. Soweit ersichtlich, hat das Bundesgericht bislang nicht näher definiert, was genau unter Fortbewegung im Sinne von Art. 43quater Abs. 1 AHVG bzw. Art. 21 Abs. 2 IVG zu subsumieren ist. Nachdem die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall auch mit den beantragten orthopädischen Massschuhen nicht in der Lage ist, zu gehen, und darüber hinaus auch nicht selbst stehen bzw. die Transfers vom/in den Elektrorollstuhl nicht selbständig vornehmen kann, dienen die orthopädischen Massschuhe nicht der Fortbewegung und können daher nicht als Hilfsmittel vergütet werden. Ein von Drittpersonen vorgenommener Transfer vom Bett in den Rollstuhl und umgekehrt stellt keine Fortbewegung im Sinne von Art. 43quater Abs. 1 AHVG bzw. Art. 21 Abs. 2 IVG dar.


A ersuchte die IV-Stelle des Kantons Thurgau um Verlängerung der Kostengutsprache im Zusammenhang mit orthopädischen Massschuhen. Mit Verfügung vom 26. August 2019 lehnte die Ausgleichskasse die Kostengutsprache ab. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, die aktuellen Abklärungen hätten ergeben, dass A nicht mehr fähig sei, zu gehen, auch einzelne Schritte nicht. Die Transfers (vom/in den Elektrorollstuhl) erfolgten mit Hilfe von zwei Pflegepersonen; die Beine/Füsse müssten platziert werden und A werde in die richtige Position gedreht, damit sie transferiert werden könne. Eine selbständige Fortbewegung dank der orthopädischen Massschuhe sei in keiner Weise mehr möglich. Die gegen diese Verfügung erhobene Einsprache wies die Ausgleichskasse mit Entscheid vom 12. August 2020 ab. Das Verwaltungsgericht als Versicherungsgericht weist die hiergegen erhobene Beschwerde ab.

Aus den Erwägungen:

2.
2.1 Der Bundesrat bestimmt, unter welchen Voraussetzungen Bezügerinnen und Bezüger von Altersrenten oder Ergänzungsleistungen mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, die für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontakts mit der Umwelt oder für die Selbstsorge kostspieliger Geräte bedürfen, Anspruch auf Hilfsmittel haben (Art. 43quater Abs. 1 AHVG). (…)

2.2 und 2.3 (…)

2.4 Für in der Schweiz wohnhafte Bezüger von Altersrenten, die bis zum Entstehen des Anspruchs auf eine Altersrente Hilfsmittel oder Ersatzleistungen nach den Art. 21 oder 21bis IVG erhalten haben, bleibt der Anspruch auf diese Leistungen in Art und Umfang bestehen, solange die massgebenden Voraussetzungen weiterhin erfüllt sind und soweit die vorliegende Verordnung nichts anderes bestimmt. Im Übrigen gelten die entsprechenden Bestimmungen der Invalidenversicherung sinngemäss (Art. 4 HVA).

3.
3.1 Die Beschwerdegegnerin hat einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf orthopädische Massschuhe verneint, da diese nicht der Fortbewegung dienten. In E. 2c des angefochtenen Entscheids führte sie diesbezüglich im Wesentlichen aus, die Beschwerdeführerin sei nicht mehr gehfähig. Vielmehr verfüge sie über einen Elek­trorollstuhl, mit dem sie sich fortbewegen könne. Auch die Transfers könne sie nicht mehr selbständig vornehmen und sei auf die Hilfe von zwei Pflegepersonen angewiesen. Eine selbständige Fortbewegung sei der Beschwerdeführerin somit auch mit orthopädischen Massschuhen nicht möglich. Diese bräuchte sie lediglich zum Stehen während der Transfers. Damit sei die Voraussetzung "Fortbewegung" aber nicht erfüllt.

3.2 Nach Einreichung des fraglichen Gesuchs hatte die Beschwerdegegnerin Abklärungen betreffend die Geh- und Stehfähigkeit der Beschwerdeführerin vorgenommen. Dr. B hielt in seiner kurzen Stellungnahme vom 22. August 2019 fest, es bestehe keine Gehfähigkeit mehr. Die orthopädischen Massschuhe seien aber für die erhaltene Stehfähigkeit immer noch sehr wichtig, "z.B. Transfer selbst Bett-Rollstuhl oder Hygiene-WC etc. Stand unmöglich in normalen Schuhen wg. massiver Verformung Füsse bds!!". Im Zusammenhang mit einem Telefongespräch "mit einer betreuenden Person von Frau A vom Zentrum C" vom 26. August 2019 erstellte die Beschwerdegegnerin sodann eine ELAR-Notiz. Sie hielt im Wesentlichen fest, gemäss den Angaben der betreuenden Person sei die Beschwerdeführerin nicht mehr in der Lage, selbstständige Transfers durchzuführen. Sie sei nicht mehr in der Lage, selbst die Füsse zu bewegen und zu platzieren und könne sich auch nicht selbst drehen.

3.3 (…)

3.4 Sowohl aus der Stellungnahme von Dr. B vom 22. August 2019 als auch aus dem Bericht der Universitätsklinik vom 14. Juli 2020 geht unzweifelhaft hervor, dass die Beschwerdeführerin nicht mehr gehfähig ist. Die orthopädischen Massschuhe werden für die Erhaltung der Stehfähigkeit bzw. die Durchführung der Transfers vom/in den Elektrorollstuhl als notwendig erachtet. Im Bericht der Universitätsklinik vom 14. Juli 2020 wurde diesbezüglich im Wesentlichen ausgeführt, ohne orthopädische Massschuhe sei jeglicher Transfer nicht möglich. Der Transfer folge über die stehende Person, wobei eine Pflegeperson "den Eulenburg" stabilisiere und eine zweite Pflegeperson die Beschwerdeführerin (und die Füsse) positioniere. Das Stehvermögen sei ohne Schuhe bei der vorliegenden Fussdeformität und der konsekutiven Instabilität und Schmerzen nicht gegeben. Die Indikation für die Massschuhe sei nicht die Gehfähigkeit, "sondern die Stehfähigkeit und somit für den Transfer aus und ins Bett".

3.5
3.5.1 Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hat in seinem Entscheid IV.2020.00231 vom 29. September 2020 betreffend eine beantragte orthopädische Schuhversorgung für eine auf einen Spezialrollstuhl angewiesene versicherte Person in E. 4.4 im Wesentlichen ausgeführt, die Tatsache, dass unter dem Titel 4 HVI "Schuhwerk und orthopädische Schuheinlagen" - anders als etwa bei den Elektrorollstühlen - das Erfordernis der selbständigen Fortbewegung nicht erwähnt werde, könne gesetzessystematisch nur so ausgelegt werden, dass dieses Erfordernis nicht bestehe. Hierauf weise auch die Tatsache hin, dass das Kreisschreiben über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (KHMI) am 1. Januar 2017 korrigiert und der Verweis auf keine Schuhversorgung bei Geh- und Stehunfähigkeit entfernt worden sei. Somit sei die selbständige Geh- und Stehfähigkeit keine Voraussetzung für die Zusprache von orthopädischer Schuhversorgung. In E. 5.1 führte das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich unter Verweis auf ZAK 1985 S. 168 ff. sodann aus, dass ein Transfer gemäss höchstrichterlicher Rechtsprechung als Fortbewegung im Sinne von Art. 21 Abs. 2 IVG gelte. Entsprechend qualifizierte es den Transfer der versicherten Person vom Bett in den Rollstuhl, der über den Stand gemacht werden musste, als Fortbewegung und bejahte einen Anspruch auf Kostenübernahme für eine orthopädische Schuhversorgung.

3.5.2 Der geschildete Fall des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich erscheint mit Bezug auf die Fortbewegung in Form eines Transfers vom bzw. in den Rollstuhl mit dem vorliegenden Fall durchaus vergleichbar. Das hiesige Gericht erachtet die Begründung des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich allerdings nicht für überzeugend. Insbesondere ist nicht klar, inwiefern aus dem zitierten ZAK-Entscheid abgeleitet werden können soll, dass es sich bei einem (über eine Drittperson) erfolgten Transfer vom Bett in den Rollstuhl und umgekehrt um eine Fortbewegung im Sinne von Art. 43quater Abs. 1 AHVG bzw. Art. 21 Abs. 2 IVG handeln soll. Bei dem im ZAK-Entscheid umschriebenen Transfer ging es darum, dass die dortige versicherte Person Kunststoffschienen beantragte, mit denen sie Sport treiben, insbesondere schwimmen wollte; die Schienen sollten der (selbständigen) Fortbewegung beim Sport dienen und bei entsprechenden Tätigkeiten anstelle der bereits vorhandenen Oberschenkelstützapparate aus Metall und Leder verwendet werden, um letztere zu schonen. Die beantragten Schienen dienten dabei offenkundig der selbständigen Fortbewegung der versicherten Person bei sportlichen Tätigkeiten. Hierbei liess das Bundesgericht die Frage offen, ob und inwieweit körperliche Ertüchtigung und sportliche Aktivitäten unter die Zielrichtungen gemäss Art. 21 Abs. 2 IVG (Fortbewegung, Kontaktherstellung, Selbstsorge) fällt; allerdings qualifizierte es den Gang zur Dusche als Fortbewegung. Für den vorliegenden Fall lässt sich daraus jedoch nichts ableiten. Soweit ersichtlich, hat das Bundesgericht bislang nicht näher definiert, was genau unter Fortbewegung im Sinne von Art. 43quater Abs. 1 AHVG bzw. Art. 21 Abs. 2 IVG zu subsumieren ist. Angesichts dessen, dass die Beschwerdeführerin auch mit den beantragten orthopädischen Massschuhen nicht in der Lage ist, zu gehen, und darüber hinaus auch nicht selbst stehen bzw. die Transfers vom/in den Elektrorollstuhl nicht selbständig vornehmen kann, teilt das Gericht die Auffassung der Beschwerdegegnerin, wonach die orthopädischen Massschuhe nicht der Fortbewegung dienen und daher nicht als Hilfsmittel vergütet werden können. Ein von Drittpersonen vorgenommener Transfer vom Bett in den Rollstuhl und umgekehrt stellt keine Fortbewegung im Sinne von Art. 43quater Abs. 1 AHVG bzw. Art. 21 Abs. 2 IVG dar. Ebenso wenig dient er der Herstellung des Kontakts mit der Umwelt oder der Selbstsorge. Folglich ist die Beschwerde abzuweisen.

Entscheid des Verwaltungsgerichts als Versicherungsgericht VV.2020.218/E vom 28. April 2021.

Das Bundesgericht hat eine dagegen erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit Urteil 9C_365/2021 vom 19. Januar 2022 abgewiesen.

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