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TVR 2021 Nr. 33

Praxisänderung für die Geltendmachung von Diätmehrkosten


Art. 14 Abs. 2 ELG, Art. 14 Abs. 1 lit. d ELG, § 21 TG ELV


1. Als Diätkosten im Sinne von Art. 14 ELG und § 21 TG ELV können lediglich in Verbindung mit einer Diät entstandene Mehrkosten gelten.

2. Das Einverlangen eines konkreten Mehrkostennachweises entspricht dem gesetzgeberischen Willen genauer als die zuvor von der Ausgleichskasse angewandte Pauschallösung. Damit liegt ein sachlicher Grund für eine Praxisänderung vor (E. 6.1).

3. Wenn die Verwaltung - wie hier der Fall - ihre bisherige Praxis einer Pauschallösung aufgibt und neu im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben von den Versicherten einen konkreten Nachweis von Mehrkosten mittels Belegen verlangt, ist es nicht Sache des Gerichts, eine neue (allenfalls betraglich angepasste) Pauschallösung einzuführen (E. 6.3).


M bezieht Ergänzungsleistungen zu ihrer Invalidenrente. Sie leidet unter einer glutensensitiven Enteropathie (Zöliakie) und ist auf eine glutenfreie Kost angewiesen. Ab Dezember 2014 vergütete ihr die Ausgleichkasse regelmässig Mehrkosten für eine Diät in Höhe von Fr. 200.-- monatlich. Am 9. Dezember 2019 sprach die Ausgleichskasse ihr wiederum einen Diätkostenersatz von Fr. 200.-- zu. In der Verfügung hielt sie fest, sie habe die Mehrkosten für die lebensnotwendige Diät überprüft. Für eine glutenfreie Ernährungsweise habe sich die Angebotspalette im Detailhandel inzwischen so weit erweitert, dass bei Einhaltung der notwendigen Ernährungsform keine effektiven wesentlichen Mehrkosten mehr anfallen würden. Somit seien diese Kosten bereits im Lebensbedarf berücksichtigt. Die Rückerstattung des Pauschalbetrages für Mehrkosten bei Diät erfolge daher mit dieser Verfügung letztmalig.
Eine von M gegen diese Verfügung erhobene Einsprache wurde abgewiesen. Das Verwaltungsgericht als Versicherungsgericht weist die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde ebenfalls ab.

Aus den Erwägungen:

2.
2.1 Gemäss Art. 14 Abs. 1 lit. d ELG vergüten die Kantone den Bezügerinnen und Bezügern einer jährlichen Ergänzungsleistung die ausgewiesenen, im laufenden Jahr entstandenen Kosten für (unter anderem) Diät. Die Kantone bezeichnen die Kosten, die nach Absatz 1 vergütet werden können. Sie können die Vergütung auf im Rahmen einer wirtschaftlichen und zweckmässigen Leistungserbringung erforderliche Ausgaben beschränken (Art. 14 Abs. 2 ELG). Gemäss § 21 TG ELV werden Mehrkosten für vom Arzt angeordnete lebensnotwendige Diäten von Personen, die weder in einem Heim noch Spital leben, mit höchstens Fr. 2'400.-- pro Jahr vergütet. Art. 14 ELG spricht sich nicht darüber aus, ob angefallene Diät-Mehrkosten lediglich objektiv medizinisch notwendig oder eigentlich lebensnotwendig sein müssen. Das Bundesgericht hat im Entscheid 8C_346/2007 vom 4. August 2008 zum alten Recht - das heisst zum bis Ende 2007 in Kraft gewesenen ELG vom 19. März 1965 und der mittlerweile aufgehobenen Verordnung über die Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten bei den Ergänzungsleistungen vom 29. Dezember 1997 (ELKV) - ausgeführt, es könne nicht um die Berücksichtigung irgendwelcher Diäten gehen, zumal das Gesetz die Diätkosten unter dem Titel der Krankheits- und Behinderungskosten anführe. Um zu den Krankheitskosten gehören zu können, müsse es sich um eine qualifizierte Diät handeln, was in der (damals noch geltenden) ELKV durch den Begriff „lebensnotwendig“ zum Ausdruck gebracht werde. „Lebensnotwendig“ sei aber nicht im Sinne von „lebensgefährlich“, sondern im Sinne einer aus medizinischer Sicht objektiv notwendigen Massnahme zu verstehen, welche zur Heilung, Linderung oder Stabilisierung eines Leidens erforderlich sei (Entscheid 8C_346/2007 des Bundesgerichts vom 4. August 2008, E. 3.3). Diese Ausführungen des Bundesgerichts zum früheren ELG und der früheren ELKV sind insoweit nach wie vor anwendbar, als Art. 14 Abs. 1 lit. d ELG praktisch identisch ist mit der früheren Bestimmung von Art. 3d Abs. 1 ELG und § 21 TG ELV in Anlehnung an Art. 9 ELKV formuliert ist. Eine bundesrechtskonforme Auslegung von § 21 TG ELV führt daher - wie das Verwaltungsgericht in seiner Praxis bereits wiederholt festgehalten hat (vgl. etwa VV.2012.415/E vom 20. März 2013, VV.2012.132/E vom 18. Juli 2012) - zum Schluss, dass ausgewiesene Mehrauslagen, die als Folge einer Diätkost anfallen, dann einen Anspruch auf Kostenersatz begründen, wenn die Diät eine aus medizinischer Sicht objektiv notwendige Massnahme zur Heilung, Linderung oder Stabilisierung eines Leidens darstellt.

2.2 Art. 14 ELG ist zudem im Zusammenhang mit Art. 10 Abs. 1 lit. a ELG zu sehen. Aus Art. 10 Abs. 1 lit. a ELG folgt, dass die Berechnung der jährlichen, monatlich ausgerichteten Ergänzungsleistung bereits dem allgemeinen Lebensbedarf Rechnung trägt. Der allgemeine Lebensbedarf berücksichtigt auch die anrechenbaren Auslagen der EL-Bezüger für Nahrungsmittel (vgl. Carigiet/Koch, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2009, S. 134). Daraus folgt, dass als Diätkosten im Sinne von Art. 14 ELG nicht sämtliche Auslagen für diätetische Lebensmittel berücksichtigt werden können. Vielmehr können lediglich in Verbindung mit einer Diät entstandene Mehrkosten als Diätkosten im Sinne von Art. 14 ELG gelten (vgl. Carigiet/Koch, a.a.O., S. 221). Dies macht auch § 21 TG ELV deutlich, welcher den Kostenersatz ausdrücklich auf eigentliche Mehrkosten beschränkt.

2.3 Währenddem die Regelung von Art. 9 ELKV eine Vergütung in Form eines jährlichen Pauschalbetrags von Fr. 2'100.-- vorsah, sieht die TG ELV vom 11. Dezember 2007 in § 21 lediglich einen Höchstbetrag von Fr. 2'400.-- pro Jahr vor. Dies spricht für eine Kostennachweispflicht der Betroffenen für die einzelnen, konkreten Mehrauslagen (vgl. auch VV.2012.415/E vom 20. März 2013 E. 2.3 sowie VV.2012.132/E vom 18. Juli 2012 E. 3.3).

3. In tatsächlicher Hinsicht ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin an einer Zöliakie leidet und ihr bei Einhaltung der Diät Mehrkosten anfallen können. Unbestritten ist auch, dass die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin bis Ende 2019 - ungeachtet der Formulierung von § 21 TG ELV - einen pauschalen Kostenersatz von Fr. 200.-- monatlich als Diätmehrkosten ersetzt hat.

4. Die Beschwerdeführerin macht geltend, an diese Praxis sei die Beschwerdegegnerin auch für die Zeit ab 1. Januar 2020 gebunden. Dieser Auffassung kann - wie die nachfolgenden E. 5 und 6 deutlich machen - nicht gefolgt werden.

5. Zum einen ist beim Anspruch auf Ergänzungsleistungen in verschiedenen Jahren rechtsprechungsgemäss - im Gegensatz etwa zu den Invalidenrentenverhältnissen - nicht von einem einheitlichen Rechtsverhältnis als Dauerverhältnis auszugehen. Vielmehr entfaltet eine Verfügung über Ergänzungsleistungen in Anbetracht der formell-gesetzlichen Ausgestaltung für ein Kalenderjahr in zeitlicher Hinsicht von vornherein nur (aber immerhin) für dieses Rechtsbeständigkeit. Die Grundlagen zur Berechnung der Ergänzungsleistungen können demzufolge von Jahr zu Jahr neu festgelegt werden (BGE 128 V 39; vgl. auch Urteile des Bundesgerichts 8C_94/2007 vom 15. April 2008 E. 3 und 4, 8C_849/2008 vom 16. Juni 2009 E. 1.4 und 9C_624/2012 vom 21. Dezember 2012 E. 2). Dabei unterscheidet die Rechtsprechung nicht zwischen den Ergänzungsleistungen als solche und den Krankheits- und Behinderungskosten (vgl. Entscheide des Bundesgerichts 9C_724/2009 vom 16. November 2019 und 9C_567/2016 vom 3. Januar 2017). Die Beschwerdegegnerin durfte daher den Anspruch auf Ausrichtung einer Pauschale für Diätmehrkosten ab 1. Januar 2020 abweichend von früheren Jahren beurteilen.

6. Dem steht auch der Grundsatz von Treu und Glauben bzw. Art. 9 BV nicht entgegen.

6.1 Selbst wenn das Gebot der Rechtssicherheit zum Tragen käme - was, wie E. 5 vorstehend deutlich macht, für den Bereich der Ergänzungsleistungen nicht wie für Dauerrechtsverhältnisse gelten kann - wäre eine Praxisänderung nach der Rechtsprechung zulässig, wenn sie sich auf ernsthafte sachliche Gründe stützen könnte, die - vor allem im Hinblick auf das Gebot der Rechtssicherheit - umso gewichtiger sein müssen, je länger die als falsch oder nicht mehr zeitgemäss erkannte Rechtsanwendung als zutreffend erachtet worden ist.
Eine Praxisänderung lässt sich begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis des Gesetzeszwecks, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht (BGE 141 II 297 E. 5.5.1 unter Hinweis auf BGE 137 V 417 E. 2.2.2 S. 422, BGE 137 V 282 E. 4.2 S. 291 f., BGE 137 III 352 E. 4.6 S. 360; je mit Hinweisen). Einen ernsthaften sachlichen Grund für eine Praxisänderung kann unter anderem die genauere oder vollständigere Kenntnis des gesetzgeberischen Willens darstellen (BGE 138 II 162 E. 2.3 S. 166). Wie die obigen Ausführungen (E. 2, insbesondere E. 2.3) deutlich machen, sieht die TG ELV keinen pauschalen Kostenersatz vor. Ein Abweichen von der - auch nach Inkrafttreten der TG ELV per 1. Januar 2008 - von der Beschwerdegegnerin ausgerichteten pauschalen Vergütung von Fr. 2'400.-- pro Jahr bzw. das Einverlangen eines konkreten Mehrkostennachweises von der Beschwerdeführerin entspricht damit dem gesetzgeberischen Willen genauer als die zuvor von der Beschwerdegegnerin angewandte Pauschallösung. Ein sachlicher Grund für eine Praxisänderung würde daher vorliegen.

6.2 Der Beschwerdeführerin steht es frei, der Beschwerdegegnerin innert der gesetzlichen Frist von 15 Monaten (Art. 15 Abs. 1 lit. a ELG) konkrete Belege zu den ihr ab 1. Januar 2020 angefallenen Diätmehrkosten einzureichen und die Beschwerdegegnerin um entsprechenden Kostenersatz im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben (bis maximal Fr. 2'400.-- pro Jahr) zu ersuchen.

6.3 Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass dann, wenn die Verwaltung - wie hier der Fall - ihre bisherige Praxis einer Pauschallösung aufgibt und neu im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben von den Versicherten einen konkreten Nachweis von Mehrkosten mittels Belegen verlangt, es nicht Sache des Gerichts ist, eine neue (allenfalls betraglich angepasste) Pauschallösung einzuführen.

Entscheid des Verwaltungsgerichts als Versicherungsgericht VV.2020.268/E vom 3. Februar 2021

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