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TVR 2021 Nr. 5

Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung bei strafrechtlich rechtskräftiger Landesverweisung; kein Rechtsschutzinteresse


Art. 61 Abs. 1 lit. e AIG, Art. 5 Anhang I FZA, § 44 Ziff. 1 VRG


Es besteht kein Rechtsschutzinteresse an einer Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, wenn das Strafgericht einen fünfjährigen Landesverweis ausgesprochen hat. Die Aufenthaltsbewilligung erlischt bei Verurteilung zu einer obligatorischen strafrechtlichen Landesverweisung nach Art. 61 Abs. 1 lit. e AIG mit dem rechtskräftigen Strafurteil; dies gilt auch bei EU/EFTA-Angehörigen. Kommt das Strafgericht landesrechtlich zu einem Ergebnis, das sich als mit dem FZA kompatibel erweist, ist das FZA offenkundig nicht verletzt.


E, deutscher Staatsangehöriger, ersuchte am 8. Dezember 2017 um Verlängerung seiner Aufenthaltsbewilligung bzw. um Erteilung einer Niederlassungsbewilligung. Mit Entscheid vom 23. Januar 2020 lehnte das Migrationsamt das Gesuch ab und wies E an, die Schweiz zu verlassen. Den dagegen erhobenen Rekurs wies das DJS ab. Mit Eingabe vom 3. März 2021 erhob E beim Verwaltungsgericht Beschwerde. Dieser lag unter anderem das Dispositiv des Entscheids des Kantonsgerichts St. Gallen vom 12. Oktober 2020 bei, wonach E zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten und einem Landesverweis von fünf Jahren verurteilt wurde. Das Verwaltungsgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf überhaupt eintritt.

Aus den Erwägungen:

1.2 Zur Beschwerde ist berechtigt, wer durch einen Entscheid berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung hat (§ 62 i.V. mit § 44 Ziff. 1 VRG). Das Kantonsgericht hat mit Entscheid vom 12. Oktober 2020 einen fünfjährigen Landesverweis angeordnet. Fraglich ist daher, ob der Beschwerdeführer überhaupt ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids vom 24. Februar 2021 hat.

2.
2.1 Im Rahmen des Rechtsschutzinteresses ist zu prüfen, ob die beschwerdeführende Person einen praktischen Nutzen aus der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids zieht. Ein schutzwürdiges Interesse liegt vor, wenn die tatsächliche oder rechtliche Situation des Beschwerdeführers durch den Ausgang des Verfahrens beeinflusst werden kann. Der durch den angefochtenen Entscheid erlittene Nachteil muss im Zeitpunkt des Entscheides noch bestehen und bei Gutheissung des Rechtsmittels beseitigt werden (Fedi/Meyer/Müller, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Thurgau, Basel 2014, § 44 N. 4 f.).

2.2 Im Bereich des Ausländerrechts hat das Verwaltungsgericht grundsätzlich auf den Sachverhalt im Zeitpunkt seines Entscheides abzustellen (vgl. BGE 127 II 60 E. 1b sowie Urteil des Bundesgerichts 2C_580/2019 vom 9. März 2020 E. 2.3.2; Fedi/Meyer/Müller, a.a.O., § 58 N. 5).

2.3 Nach Art. 121 Abs. 3 und 4 BV i.V. mit Art. 66a Abs. 1 lit. c StGB verlieren Ausländerinnen und Ausländer unabhängig von ihrem ausländerrechtlichen Status ihr Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche auf Aufenthalt in der Schweiz, wenn sie wegen qualifizierter Erpressung nach Art. 156 Ziff. 2 - 4 StGB verurteilt worden sind. Die vom Strafrichter verfügte obligatorische strafrechtliche Landesverweisung zieht den Verlust des Aufenthaltsrechts sowie aller Rechtsansprüche auf Aufenthalt in der Schweiz, die Pflicht zum Verlassen des Landes und ein Einreiseverbot für einen bestimmten Zeitraum nach sich (Art. 121 Abs. 3 und 5 BV). Der Landesverweis hat die Konsequenz, dass auch ein Unionsbürger das von der Schweiz völkervertraglich eingeräumte Einreiserecht (vgl. hierzu BGE 143 IV 97) naturgemäss während der angeordneten Dauer nicht wahrnehmen kann. Die Landesverweisung hebt nicht nur ein (allfälliges) Aufenthaltsrecht auf, sondern bewirkt zugleich prospektiv ein Einreiseverbot; sie ist zugleich Entfernungsmassnahme mit Wegweisungswirkung und Einreiseverbot mit Fernhaltewirkung. Eine Einreise nach Ablauf der Landesverweisung wird gegebenenfalls nach dem dannzumaligen Recht zu prüfen sein (Urteil des Bundesgerichts 6B_378/2018 vom 22. Mai 2019 E. 2.4, nicht publiziert in BGE 145 IV 364).

2.4 Nach Art. 61 Abs. 1 lit. e AIG erlischt bei Verurteilung zu einer obligatorischen strafrechtlichen Landesverweisung die Kurzaufenthalts-, Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung, sobald das Urteil rechtskräftig ist (und nicht erst beim Vollzug der Landesverweisung, vgl. Art. 61 Abs. 1 lit. f AIG); dies gilt auch bei Haft oder Verwahrung oder bei einer ambulanten Behandlung, in Abweichung von dem in Art. 70 Abs. 1 VZAE festgelegten Grundsatz. Bei Nichtverlängerung oder Widerruf der Bewilligung verbleibt die ausländische Person bis zum Vollzug der Landesverweisung ohne Aufenthaltstitel in der Schweiz (Weisungen und Erläuterungen des SEM zum AIG, Stand 1. Januar 2021, Kap. 8.4.2.2). Art. 61a AIG regelt das Erlöschen des Aufenthaltsrechts von EU- und EFTA-Staatsangehörigen im Zusammenhang mit der unfreiwilligen Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

3.
3.1 Am 12. Oktober 2020, mit Begründung vom 26. Januar 2021, entschied das Kantonsgericht St. Gallen, dass der Beschwerdeführer nach Art. 66a Abs. 1 lit. c StGB (obligatorische Landesverweisung) wegen qualifizierter Erpressung im Sinne von Art. 156 Ziff. 2 StGB für die Dauer von fünf Jahren des Landes verwiesen werde. Vor dem Vollzug des Landesverweises hat der Beschwerdeführer allerdings die unbedingte Freiheitsstrafe zu verbüssen (Art. 66c Abs. 2 StGB). Das Kantonsgericht St. Gallen hat den Landesverweis auch unter Berücksichtigung des FZA geprüft, insbesondere unter Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA, wonach die aufgrund des FZA eingeräumten Rechte nur durch Massnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind, eingeschränkt werden dürfen. Es kam zum Schluss, soweit sich der Beschwerdeführer überhaupt auf einen Aufenthaltstitel des FZA berufen könne, sei die Vereinbarkeit des Landesverweises mit dem FZA zu bejahen. Der Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen ist seit dem 12. Oktober 2020 rechtskräftig. Für den Vollzug der Wegweisung wird das Migrationsamt des Kantons St. Gallen zuständig sein (Art. 372 Abs. 1 StGB).

3.2 Kommt das Strafgericht landesrechtlich zu einem Ergebnis, das sich als mit dem FZA kompatibel erweist, ist das FZA offenkundig nicht verletzt (BGE 145 IV 55 E. 4.1). Die Verwaltungsbehörde und die Verwaltungsgerichte sind an einen rechtskräftig angeordneten strafrechtlichen Landesverweis gebunden (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_43/2018 vom 28. Juni 2018 E. 2.2.3). Sie können daher im Rahmen eines Verlängerungsgesuchs nicht zum Schluss kommen, die Aufenthaltsbeendigung sei nicht gerechtfertigt.

3.3 Zusammenfassend ergibt sich somit, dass kein schutzwürdiges Interesse an der Änderung oder Aufhebung der angefochtenen Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung besteht, weshalb auf die Beschwerde an sich nicht einzutreten ist.

4. Selbst wenn auf die Beschwerde einzutreten wäre, wäre diese abzuweisen, nachdem der angefochtene Entscheid nicht zu beanstanden ist. Es ist der Vorinstanz darin zuzustimmen, dass sich der Beschwerdeführer auf keinen Aufenthaltstitel des FZA berufen kann, weder auf Art. 6 Anhang I FZA (unselbständige Erwerbstätigkeit) noch auf Art. 4 Anhang I FZA (Verbleiberecht) oder Art. 24 Anhang I FZA (erwerbloser Aufenthalt bei ausreichenden finanziellen Mitteln). Er ist nicht erwerbstätig und wird dies auch während längerer Zeit nicht sein, verfügt nicht über ausreichend finanzielle Mittel und erfüllt auch die Voraussetzungen des Verbleiberechts nicht. Die Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung ist zudem zweifelsohne verhältnismässig, auch unter Berücksichtigung der Garantien gemäss EMRK.

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2021.32/E vom 13. Oktober 2021

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