TVR 2022 Nr. 17
Akzessorische Überprüfung eines Baulinienplans im Rahmen eines Baubewilligungsverfahrens
Nutzungspläne werden prozessual wie Verfügungen behandelt: Sie müssen bei ihrem Erlass angefochten werden, ansonsten sie bestandeskräftig werden, und können (anders als Normen) im Baubewilligungsverfahren grundsätzlich nicht mehr vorfrageweise überprüft werden. Davon gibt es indessen verschiedene Ausnahmen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse oder die gesetzlichen Voraussetzungen oder rechtlichen Verhältnisse seit Planerlass so erheblich geändert haben, dass die Planung rechtswidrig geworden sein könnte und das Interesse an ihrer Überprüfung bzw. Anpassung die entgegenstehenden Interessen der Rechtssicherheit und der Planbeständigkeit überwiegt. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall eines in den 1930er/1949er-Jahren erlassenen Baulinienplans erfüllt.
Die Wohnbaugenossenschaft A ist Eigentümerin der knapp 3'000 m2 umfassenden, der Wohnzone W2a zugewiesenen Liegenschaft Nr. X in der Politischen Gemeinde Frauenfeld. Am 8. Februar 2019 reichte sie ein Baugesuch für die Erstellung von drei Mehrfamilienhäusern mit insgesamt 23 Wohnungen und einer Tiefgarage mit 24 Autoabstellplätzen sowie eines Unterflurcontainers ein; das Baugesuch beinhaltete auch den Abbruch der auf dem Baugrundstück befindlichen fünf, in den 1930er-Jahren erstellten und aktuell unbewohnten Wohnhäuser. Südlich der Liegenschaft Nr. X verläuft die E-Strasse, für welche ein Baulinienplan aus dem Jahr 1949 (revidiert in den Jahren 1971 und 2000) besteht.
Während der öffentlichen Auflage des Baugesuchs erhoben C, D und weitere Privatpersonen Einsprache, die von der Politischen Gemeinde Frauenfeld abgewiesen wurden. Einen dagegen erhobenen Rekurs wies das DBU mit Entscheid vom 27. August 2020 ab. Dagegen erhoben C, D und weitere Privatpersonen Beschwerde beim Verwaltungsgericht, welches ebenfalls abweist.
Aus den Erwägungen:
4.6 Zu prüfen ist (…), ob die Vorinstanz die Anwendbarkeit des Baulinienplans "E-Strasse" - im Rahmen einer akzessorischen Überprüfung - auf das strittige Bauvorhaben zu Recht verneint hat. Nicht weiter einzugehen ist dabei auf die Frage der Gemeindeautonomie, wie dies die Beschwerdeführer verlangen, da seitens der verfahrensbeteiligten Gemeinde keine Verletzung derselben geltend gemacht wird.
4.6.1 Nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung werden Nutzungspläne prozessual wie Verfügungen behandelt: Sie müssen bei ihrem Erlass angefochten werden, ansonsten sie bestandskräftig werden, und können (anders als Normen) im Baubewilligungsverfahren nicht mehr vorfrageweise überprüft werden. Davon gibt es indessen verschiedene Ausnahmen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse oder die gesetzlichen Voraussetzungen oder rechtlichen Verhältnisse seit Planerlass so erheblich geändert haben, dass die Planung rechtswidrig geworden sein könnte und das Interesse an ihrer Überprüfung bzw. Anpassung die entgegenstehenden Interessen der Rechtssicherheit und der Planbeständigkeit überwiegt (BGE 145 II 83 E. 5.1 mit Verweis insbesondere auf BGE 144 II 41 E. 5.1).
4.6.2 Der Baulinienplan "E-Strasse" ist zu einer Zeit entstanden, als übergeordnete Bau- und Raumplanungserlasse fehlten. Das RPG stammt aus dem Jahre 1979 und auch für den Kanton Thurgau fehlte in den 1930er/40er-Jahren noch ein kantonales Bau- und Planungsgesetz. Mit der per 1. Mai 2014 in Kraft getretenen Revision des RPG erliess der Bundesgesetzgeber verschiedene für Kantone und Gemeinden verbindliche Vorschriften, welche die haushälterische Bodennutzung zum Gegenstand haben. So bestimmt Art. 1 Abs. 1 Satz 1 RPG, dass Bund, Kantone und Gemeinden dafür sorgen, dass der Boden haushälterisch genutzt und das Baugebiet vom Nichtbaugebiet getrennt wird. Sie unterstützen mit Massnahmen der Raumplanung insbesondere die Bestrebungen, die Siedlungsentwicklung nach innen zu lenken, unter Berücksichtigung einer angemessenen Wohnqualität (Art. 1 Abs. 2 lit. abis RPG). Gemäss Art. 3 Abs. 3 lit. abis RPG sollen Massnahmen getroffen werden zur besseren Nutzung der brachliegenden oder ungenügend genutzten Flächen in Bauzonen und der Möglichkeit zur Verdichtung der Siedlungsfläche. Wie erwähnt, konnte sich der eigentumsbeschränkende Baulinienplan "E-Strasse" bei seinem Erlass nicht auf eine gesetzliche Grundlage in Form des RPG oder eines kantonalen Baugesetzes stützen. Die gesetzlichen Voraussetzungen bzw. rechtlichen Verhältnisse haben sich insofern seit Planerlass erheblich geändert. Bereits aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass diese Planung seit ihrem Erlass mittlerweile rechtswidrig geworden sein könnte und das Interesse an ihrer Überprüfung bzw. Anpassung die entgegenstehenden Interessen der Rechtssicherheit und der Planbeständigkeit überwiegt. Diese Voraussetzung für eine akzessorische Überprüfung des Baulinienplans "E-Strasse" ist daher als erfüllt zu betrachten (vgl. BGE 145 II 83 E. 5.1).
4.6.3 Eine Anwendung der Vorgaben dieses Baulinienplans in Form der Baulinie mit einem Abstand von 10 m von der Strassengrenze wäre dann vertretbar, wenn die darin enthaltenen planerischen Aussagen sich auf Ziele und Grundsätze der aktuellen Raumplanung beziehen würden. Dies dürfte zwar mit Bezug auf die wohnhygienische Zwecksetzung (Besonnung) teilweise der Fall sein. Mit einer bereits im Zeitpunkt des Erlasses planerisch eher diffus begründeten Baulinie, welche einen Strassenabstand von 10 m festhält, liegt jedoch ein klarer Verstoss gegen das bundesrechtliche Gebot der haushälterischen Bodennutzung und der angestrebten Verdichtung nach innen vor. Der Auffassung der Vorinstanz, dem Baulinienplan "E-Strasse" sei die Anwendung auf das strittige Bauvorhaben zu verweigern, ist somit im Ergebnis zuzustimmen. Die Beschwerde erweist sich auch diesbezüglich als unbegründet.
Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2020.142/E vom 15. Dezember 2021