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TVR 2022 Nr. 21

Zuständigkeit zur Durchführung des Einwendungsverfahrens


§ 33 Abs. 3 StrWG , § 33 Abs. 4 StrWG


Das Einwendungsverfahren nach § 33 Abs. 3 und 4 StrWG ist in geeigneter Form vom Departement selbst durchzuführen, welches diese Aufgabe nicht an die Gemeinde delegieren darf.


Die Politische Gemeinde G sieht die Einführung von insgesamt sieben Tempo-30-Zonen vor. Daher gelangte sie an das kantonale Tiefbauamt und ersuchte darum, für die Einführung der Tempo-30-Zonen das Einwendungsverfahren durchzuführen. Der Entwurf der Verkehrsanordnung wurde für das Einwendungsverfahren in ortsüblicher Form publiziert. Gegen die Verkehrsanordnung "NGE" erhoben A, B und weitere Personen Einwendungen. Daher teilte das Tiefbauamt der Politischen Gemeinde G mit, beim Rechtsdienst des DBU seien 13 Einwendungen eingegangen, wovon jeweils eine Kopie beigelegt werde. Aus Sicht des kantonalen Tiefbauamtes sei es sinnvoll, dass die Gemeinde die vorgesehenen Massnahmen gegebenenfalls mit den Einwendern erörtere. Zehn Monate später informierte die Politische Gemeinde G das kantonale Tiefbauamt, das Einwendungsverfahren sei durchgeführt und die Einwendungen seien behandelt worden. Gewisse Anpassungen seien vorgenommen worden, andere seien aus Sicht des Gemeinderates aus gesetzlichen Gründen nicht möglich oder nicht zweckmässig. Daraufhin erliess die Vorinstanz die entsprechenden Verkehrsanordnungen. Deshalb gelangten A, B und weitere Personen mit Beschwerde ans Verwaltungsgericht und verlangten die Aufhebung der von ihnen angefochtenen Verkehrsanordnung. Das Verwaltungsgericht heisst die Beschwerde in dem Sinne gut, als es die angefochtene Verkehrsanordnung aufhebt und die Sache zur Durchführung des Einwendungsverfahrens an das DBU zurückweist.

 

Aus den Erwägungen:

 

2.

2.1 Die verfahrensbeteiligte Gemeinde sieht die Einführung von insgesamt sieben Tempo-30-Zonen vor. Die Einführung dieser Tempo-30-Zonen ist wenigstens teilweise umstritten. Die Beschwerdeführer machen geltend, das Einwendungsverfahren sei nicht korrekt durchgeführt worden. Sie wenden ein, Sinn und Zweck des Einwendungsverfahrens sei gemäss dem Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2016.63/E vom 24. August 2016 (= TVR 2016 Nr. 23), dass das Verfahren im Sinne eines gegenseitigen Austausches auch der Behörde dazu dienen solle, Gespräche mit den Betroffenen zu führen, um möglichst allfällige Missverständnisse auszuräumen und einvernehmliche Lösungen zu finden. Die involvierten Behörden hätten aber auf die eingegangenen Einwände zu den Berliner Kissen nicht reagiert und keinen Dialog gesucht. Erst nachdem die Gemeinde den Beschluss gefasst habe, trotz der Einwände an den ursprünglichen Plänen festzuhalten, habe sie zu einer Informationsveranstaltung eingeladen, an der sie über ihren bereits gefassten Entscheid informiert habe. Das Einwendungsverfahren sei somit nicht korrekt und ernsthaft durchgeführt worden. Zu prüfen ist daher zunächst, ob das Einwendungsverfahren korrekt durchgeführt wurde.

 

2.2 Verkehrsanordnungen gemäss Art. 3 Abs. 4 SVG werden nach den Vorschriften von § 33 StrWG erlassen. Beschränkungen oder Anordnungen zur Regelung des Verkehrs richten sich nach der Gesetzgebung über den Strassenverkehr (§ 33 Abs. 1 StrWG). Für Erlass, Änderung oder Aufhebung der dauernden Verkehrsanordnungen auf Kantonsstrassen und -wegen, Gemeindestrassen und -wegen, Flurstrassen und -wegen sowie auf öffentlichen Verkehrsflächen privater Eigentümer ist das Departement zuständig (§ 33 Abs. 2 StrWG). Das Einwendungsverfahren ist in § 33 Abs. 3 und 4 StrWG geregelt. § 33 Abs. 3 StrWG bestimmt, dass das Departement vor dem Erlass von Verkehrsanordnungen (nach § 33 Abs. 2 StrWG) in der Regel ein Einwendungsverfahren durchzuführen hat. Zu diesem Zweck werden die Entwürfe der vorgesehenen Verkehrsanordnungen mit dem Hinweis publiziert, dass dazu innert 20 Tagen ab Publikation beim Departement schriftliche Einwendungen eingereicht werden können (§ 33 Abs. 4 StrWG).

 

2.3 Hinsichtlich des heute in § 33 Abs. 3 und 4 StrWG geregelten Einwendungsverfahrens und der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts zur Beurteilung von Rechtsmitteln gegen sich auf Art. 3 Abs. 4 SVG stützende Verkehrsanordnungen ist entstehungsgeschichtlich Folgendes festzuhalten:

 

2.3.1 In der bis 31. Dezember 2002 gültigen Fassung sah Art. 3 Abs. 4 SVG vor, dass gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide über Verkehrsanordnungen Beschwerde beim Bundesrat geführt werden konnte. Aufgrund einer per 1. Januar 2003 in Kraft gesetzten Revision sah Art. 3 Abs. 4 SVG neu vor, dass gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide über Verkehrsanordnungen die Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht zulässig ist. Diese Übertragung der Rechtsprechungskompetenz (vom Bundesrat zum Bundesgericht) hatte zur Folge, dass seither auch die letzte kantonale Rechtsmittelinstanz eine richterliche Behörde sein muss (heute geregelt in Art. 86 Abs. 2 BGG, bis am 31. Dezember 2006 in Art. 98a Abs. 1 des OG). Während bis Ende 2003 als einzige und letzte kantonale Rechtsmittelinstanz der Regierungsrat für die Beurteilung von Verkehrsanordnungen zuständig war, fungierte das Verwaltungsgericht ab 1. Januar 2003 als einzige und letzte kantonale Rechtsmittelinstanz (vgl. Entscheid V 137 des Verwaltungsgerichts vom 18. Juni 2003 E. 1a).

 

2.3.2 Im Rahmen einer Interpellation vom 12. November 2004 (abrufbar unter: http://grgeko.tg.ch ) wies Kantonsrat Anders Stokholm darauf hin, dass der Kanton Thurgau im Grunde genommen einen mehrstufigen Instanzenweg kenne, nämlich zunächst die Einsprache bei der erlassenden Instanz, danach das Rekursverfahren beim Department oder einer Rekurskommission und schliesslich die Beschwerde beim Verwaltungsgericht. Er regte daher auch für Verkehrsanordnungen die Einführung eines Einspracheverfahrens an, welches den Vorteil habe, dass auftauchende Fragen und Probleme in einem kosten- und formlosen Verfahren auf unterer Stufe bürgernah beantwortet bzw. oft gelöst werden könnten. Der Regierungsrat des Kantons Thurgau beantwortete die Interpellation am 8. November 2005 (abrufbar unter: greko.tg.ch) dahingehend, dass Verkehrsanordnungen ihrer Natur nach eine Vielzahl von Verkehrsteilnehmern und Verkehrsteilnehmerinnen treffen würden, weshalb davon auszugehen sei, dass die Einführung eines kosten- und formlosen Einspracheverfahrens zu einer unübersichtlichen Anzahl von Eingaben führen würde. Dies führe zu einer enormen Erhöhung des Verwaltungsaufwandes, was der Regierungsrat mit Blick auf die aktuelle Leistungsüberprüfung ablehne.

 

2.3.3 Am 21. Januar 2014 reichten Kantonsrat Stephan Tobler und 62 Mitunterzeichnende die Motion "Einsprache- oder Anhörungsverfahren für Verkehrsanordnungen" ein (abrufbar unter: http://grgeko.tg.ch ), mit welcher der Regierungsrat beauftragt wurde, die notwendigen Gesetzesgrundlagen so zu ändern, dass für Verkehrsanordnungen vorgängig ein Einsprache- oder Anhörungsverfahren durchgeführt werden könne. Zur Begründung führte er aus, das Verwaltungsgericht habe dem DBU vorgeschlagen, bei Verkehrsanordnungen ein Einsprache- oder Anhörungsverfahren einzuführen, damit nicht gegen jede erlassene Verkehrsanordnung direkt Beschwerde an das Verwaltungsgericht möglich sei. Bis heute sei der kostensparende Vorschlag des Verwaltungsgerichts weder angegangen noch umgesetzt worden. Insbesondere bei umstrittenen Verkehrsanordnungen wie Platzierung von verkehrsberuhigenden Massnahmen, Beginn einer Begegnungs- oder Tempo-30-Zone, Tempobegrenzungen, Parkplätzen zur Bewirtschaftung oder ähnlichem wäre eine Verhandlungsmöglichkeit im Rahmen eines Einsprache- oder Anhörungsverfahrens von Vorteil. Der Regierungsrat des Kantons Thurgau beantwortete die Motion am 18. November 2014 [abrufbar unter: http://grgeko.tg.ch ]. Er führte dabei aus, der Motionär halte richtig fest, dass auch das Verwaltungsgericht angeregt habe, ein vorgelagertes Einsprache- oder Anhörungsverfahren einzuführen. Es erscheine in der Tat nicht mehr sachgerecht, Fragen, die im Rahmen von Verkehrsanordnungen auftauchten, durch das oberste Gericht in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten klären zu lassen, zumal dafür förmliche und aufwendige Verfahren mit Augenscheinen durchzuführen seien. Da der Regierungsrat das Anliegen des Motionärs unterstütze, habe er mit heutigem Datum (18. November 2014) eine Änderung der Verordnung des Regierungsrates zum Strassenverkehrsgesetz und den Nebenerlassen verabschiedet, welche in § 1a ein Einwendungsverfahren vorsehe. Solche Einwendungen seien aber keine förmlichen Einsprachen. Es sei bewusst das Einwendungsverfahren und kein förmliches Einspracheverfahren gewählt worden, um den Aufwand für die Vollzugsbehörden tief halten zu können. Es bleibe aber dennoch Raum für Gespräche und Lösungsfindungen im Einzelfall, sofern die Anzahl der Einwendungen überschaubar bleibe.

 

2.3.4 Per 1. Januar 2015 wurde schliesslich § 1a RRV SVG in Kraft gesetzt, welcher wie folgt lautete:

              " Vor dem Erlass von Verkehrsanordnungen nach § 1 Absatz 2 führt das Departement für Bau und Umwelt in der Regel ein Einwendungsverfahren durch.

                 Zu diesem Zweck werden die Entwürfe der vorgesehenen Verkehrsanordnungen mit dem Hinweis publiziert, dass dazu innert 20 Tagen ab Publikation beim Departement für Bau und Umwelt schriftliche Einwendungen eingereicht werden können."

 

Der Wortlaut von § 1a RRV SVG wurde per 1. Januar 2018 praktisch unverändert in § 33 Abs. 3 und 4 StrWG überführt.

 

2.3.5 Aus der Entstehungsgeschichte von § 33 Abs. 3 und 4 StrWG lässt sich ableiten, dass mit dem Einwendungsverfahren den von einer Verkehrsanordnung Betroffenen eine bürgernahe, weil kosten- und formlose Möglichkeit eröffnet werden sollte, auftauchende Fragen und Probleme bereits durch das Departement klären und einer allfälligen Lösung zuführen zu lassen, damit diese Fragen nicht direkt in einem förmlichen, aufwendigen und für die Betroffenen kostspieligen Verfahren beim Verwaltungsgericht geklärt werden müssen. Das vom Departement durchzuführende Einwendungsverfahren soll dabei grundsätzlich Raum für Gespräche und Lösungsfindungen im Einzelfall bieten.

 

3.

3.1 Aus den Akten ergibt sich, dass die Einwendungen nach der Veröffentlichung des Entwurfs der strittigen Verkehrsanordnung zwar an die Vor­instanz zu richten waren, welche diese auch entgegennahm. Sie setzte sich dann allerdings nicht mit den erhobenen Einwendungen auseinander, sondern leitete diese an die verfahrensbeteiligte Gemeinde weiter, damit diese "die vorgesehenen Massnahmen gegebenenfalls mit den Einsprechern" erörtere. Man erwarte von der Gemeinde eine Stellungnahme zu den Begründungen dieser Einwendungen. Zehn Monate später teilte die verfahrensbeteiligte Gemeinde dem Tiefbauamt mit, das Einwendungsverfahren sei durchgeführt und die Einwendungen seien behandelt worden. Die Machbarkeit geäusserter Anpassungsvorschläge sei auch mit dem Tiefbauamt anlässlich einer Besprechung geprüft worden. Im Rahmen von drei Informationsveranstaltungen seien die Einwände mit den Einwendern nochmals besprochen und "die Entscheidungen des Gemeinderates" zu den einzelnen Punkten mitgeteilt worden. Gewisse Einwendungen habe die Gemeinde durch Anpassung der geplanten Verkehrsanordnungen berücksichtigt. Weitere Anpassungen seien aus Sicht des Gemeinderates entweder aus gesetzlichen Gründen nicht möglich oder nicht zweckmässig. Es werde darum gebeten, die (abgeänderte) Verkehrsanordnung zu verfügen und zur Publikation freizugeben. Die Vorinstanz genehmigte die überarbeitete Version der Verkehrsanordnungen.

 

3.2 Die Vorinstanz hat die Verkehrsanordnung genehmigt, ohne sich je eigenständig in erkennbarer Form mit den erhobenen und in der angepassten Verkehrsanordnung unberücksichtigt gebliebenen Einwendungen auseinandergesetzt zu haben. Die Vorinstanz hat das Einwendungsverfahren also initiiert, durchgeführt wurde es aber von der verfahrensbeteiligten Gemeinde. Allerdings geht auch aus den Ausführungen und Akten der verfahrensbeteiligten Gemeinde nicht konkret hervor, welche Gründe gegen die unberücksichtigten Einwendungen sprachen und ob und wie diese Gründe den Einwendern zur Kenntnis gebracht wurden, zumal zu den Informationsveranstaltungen auch kein Protokoll erstellt wurde. Ein solches Vorgehen widerspricht nicht nur dem klaren Wortlaut von § 33 Abs. 3 StrWG, wonach das Departement, also die Vorinstanz, das Einwendungsverfahren durchzuführen hat, sondern auch dem sich aus der Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung ergebenden Zweck des Einwendungsverfahrens (vgl. vorstehende E. 2.3.5). Die verfahrensbeteiligte Gemeinde ist im Hinblick auf Verkehrsanordnungen zwar Planerin, aber auch Antragstellerin bei der Vorinstanz und damit im Grunde genommen Partei. Es ist die Vorinstanz, welche über die Verkehrsanordnung entscheidet und welche - sofern Einwendungen erhoben werden - sich auch mit den Argumenten der von einer Verkehrsanordnung Betroffenen auseinanderzusetzen hat. Zwar regelt das Gesetz nicht, in welcher Weise diese Auseinandersetzung zu erfolgen hat. Aufgrund des Gesetzeswortlauts und der Entstehungsgeschichte ist jedoch klar, dass die Vorinstanz diese Auseinandersetzung nicht an die antragstellende Gemeinde delegieren kann. Vielmehr hat sich die Vorinstanz an der Behandlung der Einwendungen direkt und aktiv zu beteiligen. Das mit dem Einwendungsverfahren verfolgte Ziel (vgl. vorstehende E. 2.3.5) kann nur erreicht werden, wenn sich die Vorinstanz als entscheidende Behörde bereits im Einwendungsverfahren aktiv einbringt, dieses in genügender Form moderiert, sich mit den erhobenen Einwendungen auseinandersetzt und in geeigneter Form den Dialog mit den Betroffenen sucht, um allfällige Lösungen zu finden. Diese Auseinandersetzung kann - insbesondere wenn zahlreiche Einwendungen zu behandeln sind - durchaus auch an Informationsveranstaltungen erfolgen, wobei dann aber die Teilnahme eines Vertreters der Vorinstanz erforderlich ist, der zu den Einwendungen Stellung nimmt und konkret erläutert, weshalb diese gegebenenfalls nicht gesetz- oder zweckmässig sind. Wird diese Stellungnahme zu Protokoll genommen und das Protokoll zumindest den Einwendern zur Kenntnis gebracht, ist den Anforderungen von § 33 Abs. 3 und 4 StrWG Genüge getan. Bei einer geringen Anzahl von Einwendungen kann das Einwendungsverfahren aber auch ohne Informationsveranstaltung durchgeführt werden. So kann es im Einzelfall Sinn machen, dass die Vorinstanz die Einwendungen schriftlich beantwortet oder mit den Einwendern einen Augenschein durchführt (vgl. dazu auch TVR 2016 Nr. 23 E. 4.2) und die Auseinandersetzung mit den Einwendungen im Augenscheinprotokoll festhält. Der Vorinstanz steht durchaus ein weites, aber pflichtgemäss auszuübendes Ermessen bei der Wahl der im konkreten Fall geeignetsten Form zur Durchführung des Einwendungsverfahrens zu. Entscheidend ist aber, dass sich die Vorinstanz (und nicht die antragstellende Gemeinde) in nachvollziehbarer und dokumentierter Weise so mit den Einwendungen auseinandersetzt, dass dem Zweck des Einwendungsverfahrens entsprochen wird.

 

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2021.164/E vom 2. März 2022


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