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TVR 2022 Nr. 3

Rechtliches Gehör, Augenschein; Gestaltungsplan und Strassenbauprojekt, kein Koordinationsbedarf


Art. 29 Abs. 2 BV , § 13 VRG , Art. 25 a RPG , § 23 PBG , § 21 StrWG


  1. Wird einer Partei, welche anlässlich eines Augenscheins Unterlagen vorlegt, die bereits vorgängig hätten eingereicht werden können, von der Verfahrensleitung untersagt, hierzu am Augenschein Ausführungen zu machen, so stellt dies keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar. Entsprechende Unterlagen sind in einer möglichst frühen Verfahrensphase bzw. vor dem Augenschein einzureichen, damit sich die übrigen Beteiligten darauf vorbereiten und anlässlich des Augenscheins auf die Ausführungen der einreichenden Partei reagieren bzw. dazu Stellung nehmen können. Andernfalls würde der Gehörsanspruch der übrigen Beteiligten verletzt (E. 1.3).

  2. Werden in einem Gestaltungsplan Vorgaben für eine künftige verkehrsmässige Erschliessung des Gestaltungsplangebiets gemacht, ist keine verfahrensmässige Koordination zwischen dem Gestaltungsplan und dem - gestützt darauf erst noch zu erarbeitenden - Strassenprojekt erforderlich (E. 6).


Die als "CC-Wiese" bezeichnete Liegenschaft Nr. X in G befindet sich in der zweigeschossigen Wohnzone und ist mit einer Gestaltungsplanpflicht überlagert. Die Politische Gemeinde G erarbeitete den Gestaltungsplan "CC", der die Überbauung der CC-Wiese mit mehreren Mehrfamilienhäusern vorsieht. Die dagegen erhobenen Einsprachen wurden von der Politischen Gemeinde G - aufgrund eines in diesem Zusammenhang stehenden, die Interessen der Politischen Gemeinde tangierenden Rechtsgeschäfts - dem DBU zur Beurteilung überwiesen. Mit Entscheid vom 24. August 2021 wies das DBU die Einsprachen ab und genehmigte mit einem gleichzeitig ergangenen Entscheid den Gestaltungsplan "CC". Gegen diese beiden Entscheide erhoben A und diverse andere Privatpersonen Beschwerde. Das Verwaltungsgericht weist die Beschwerden ab.

 

Aus den Erwägungen:

 

1.3 In formeller Hinsicht ist vorweg auf die Rüge der Beschwerdeführer 2 - 19 betreffend die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör anlässlich des verwaltungsgerichtlichen Augenscheins vom 8. Juni 2022 einzugehen.

 

1.3.1 Mit Eingabe vom 27. Juni 2022 liessen die Beschwerdeführer 2 - 19 geltend machen, es sei ihnen bzw. ihrem Rechtsvertreter anlässlich des verwaltungsgerichtlichen Augenscheins vom 8. Juni 2022 vom verfahrensleitenden Gerichtspräsidenten untersagt worden, zu den von ihnen am Augenschein vorgelegten Unterlagen (insbesondere bildliche Darstellungen/Visualisierungen des dem Gestaltungsplan zugrundeliegenden Richtprojekts) am Augenschein selber Ausführungen zu machen. Nachdem der Gerichtspräsident festgestellt habe, dass die Nachreichung von Unterlagen zulässig sei, werde jetzt nachgeholt, was am Augenschein zumindest teilweise nicht möglich gewesen sei bzw. durch die Verfahrensbeteiligten 1 - 5 habe verhindert werden wollen. Der am Augenschein erhobene Protest werde bestätigt. Anhand der am ersten Augenscheinstandort verteilten Bilder hätte vor Ort gezeigt werden können und sollen, was bei Genehmigung des Gestaltungsplans realisiert würde. Dass dem beschwerdeführerischen Rechtsvertreter entsprechende Ausführungen untersagt worden seien, stelle eine Verletzung des Gehörsanspruchs dar. Dies wiege umso schwerer, als das Verwaltungsgericht nach dem Ausstand des Stadtrates der verfahrensbeteiligten Gemeinde als erste Rechtsmittelinstanz gegenüber der Vorinstanz fungiere.

 

1.3.2 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist (Art. 29 Abs. BV). Art. 29 Abs. 2 BV anerkennt im Sinne einer Minimalgarantie den Anspruch auf rechtliches Gehör als selbständiges Grundrecht, welches Geltung für alle Rechtsanwendungsorgane des Bundes und der Kantone hat. Gemäss § 13 Abs. 1 VRG ist jeder Betroffene vor Erlass eines Entscheides anzuhören, ausgenommen im Vollstreckungsverfahren. Der sich aus Art. 29 Abs. 2 BV und § 13 VRG ergebende Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur. Das rechtliche Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines solchen Entscheides zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst als Mitwirkungsrecht somit alle Befugnisse, die einer Partei einzuräumen sind, damit sie in einem Verfahren ihren Standpunkt wirksam zur Geltung bringen kann (vgl. BGE 135 II 286 E. 5.1, TVR 2016 Nr. 6 E. 2.2.1, sowie Fedi/Meyer/Müller, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Thurgau, Basel 2014, § 13 N. 2 ff.).

 

1.3.3 Der beschwerdeführerischerseits erhobenen Rüge der Gehörsverletzung ist entgegenzuhalten, dass die Beschwerdeführer 2 - 19 bereits in einer erheblich früheren Phase des Verfahrens bzw. lange vor dem Augenschein vom 8. Juni 2022 Gelegenheit gehabt hätten, die von ihnen erst anlässlich des Augenscheins vorgelegten Unterlagen einzureichen. Weshalb es ihnen - wie vom beschwerdeführerischen Rechtsvertreter anlässlich des Augenscheins geltend gemacht wurde (…) - nicht möglich gewesen sein sollte, die betreffenden Unterlagen früher zu erstellen und einzureichen, ist nicht ersichtlich und wird von den Beschwerdeführern 2 - 19 nicht näher erläutert. Mit der Einreichung erst anlässlich des Augenscheins wäre umgekehrt vielmehr den Verfahrensbeteiligten 1 - 5 die Möglichkeit genommen worden, sich mit ihrem Rechtsvertreter zu besprechen und sich erst danach dazu zu äussern, wenn bereits anlässlich des Augenscheines von ihnen darauf hätte Bezug genommen werden müssen. Die Beschwerdeführer 2 - 19 hätten damit eine Beeinträchtigung des rechtlichen Gehörs der Verfahrensbeteiligten erreicht. Indem die von den Beschwerdeführern 2 - 19 zu Beginn des Augenscheins vorgelegten Dokumente zu den Akten genommen wurden, resultiert demgegenüber keine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Vielmehr hatten die Beschwerdeführer 2 bis 19 Gelegenheit, auf diese Unterlagen innert der ihnen am 15. Juni 2022 angesetzten Frist einzugehen und die entsprechenden Hinweise anzubringen. Sinn und Zweck des Augenscheins ist, sich einen Eindruck der örtlichen Verhältnisse zu machen und nicht die Betrachtung von Bildern, die von den am Verfahren Beteiligten erstmals dort präsentiert werden. Im Nachgang zu den diesbezüglichen Voten (…) wurde im Übrigen auch von keiner Seite der Abbruch des Augenscheins verlangt. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör anlässlich des Augenscheins vom 8. Juni 2022 in der von den Beschwerdeführern 2 - 19 gerügten Form liegt somit nicht vor.

 

2. - 5. (…)

 

6.

6.1 Die Beschwerdeführer rügen weiter, dass das Projekt zum Ausbau der C-Strasse nicht mit dem Gestaltungsplan "CC" koordiniert werde. Für das Raumplanungsrecht werden in Art. 25a RPG die allgemeinen Grundsätze der Koordination ausdrücklich festgelegt. Gemäss dieser Bestimmung muss die entsprechende Behörde für die ausreichende Koordination sorgen, wenn die Errichtung oder die Änderung einer Baute oder Anlage Verfügungen mehrerer Behörden erfordert. Laut Abs. 4 dieser Bestimmung sind diese Grundsätze auch auf das Nutzungsplanverfahren sinngemäss anwendbar. Auch als allgemeiner Grundsatz muss nach der Rechtsprechung die Rechtsanwendung materiell koordiniert, das heisst inhaltlich abgestimmt erfolgen, wenn für die Verwirklichung eines Projekts verschiedene materiellrechtliche Vorschriften anzuwenden sind und zwischen diesen Vorschriften ein derart enger Sachzusammenhang besteht, dass sie nicht getrennt und unabhängig voneinander angewendet werden dürfen. In solchen Fällen ist die Anwendung des materiellen Rechts überdies in formeller, verfahrensmässiger Hinsicht in geeigneter Weise zu koordinieren. Diese aus dem materiellen Recht hervorgehende inhaltliche und verfahrensmässige Koordinationspflicht ergibt sich unter anderem aus dem Willkürverbot und dem Grundsatz der Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, der Verhinderungen von Verfahrensverzögerungen sowie der Vereitelung von Bundesrecht (BGE 137 II 182 E. 3.7.4.1 mit Hinweisen namentlich auf BGE 129 III 161 E. 2.6, BGE 117 Ib 35 E. 3e und BGE 116 Ib 50 E. 4a). Die Koordinationspflicht wird sodann auch aus dem Grundsatz der ganzheitlichen Betrachtungsweise abgeleitet (Jäger/Bühler, Schweizerisches Umweltrecht, Bern 2016, S. 25 f., Rz. 88 ff., mit weiteren Hinweisen; vgl. auch TVR 2018 Nr. 24 E. 3.3.1 und 3.3.2).

 

6.2 Die Vorinstanz führte in E. 8 des angefochtenen Entscheids aus, dass der streitbetroffene Gestaltungsplan für das in einem künftigen Baubewilligungsverfahren zu prüfende Bauprojekt und für das im Rahmen eines Verfahrens gemäss § 21 StrWG zu prüfende Strassenbauprojekt einen erheblichen Projektierungsspielraum belässt, weshalb der Gestaltungsplan weder das Baubewilligungsverfahren noch das Strassenbauprojektverfahren in einer Weise vorwegnehme, welche nach den bundesrechtlichen Koordinationsgrundsätzen in Abweichung vom ordentlichen Stufenbau eine gemeinsame Eröffnung oder öffentliche Auflage von Gestaltungsplan und Baubewilligung bzw. Strassenbauprojekt nach Art. 25a RPG erfordern würde. Diese Schlussfolgerung der Vorinstanz ist zutreffend. Des Weiteren setzt eine (spätere) Baubewilligung voraus, dass die Liegenschaft erschlossen ist, wozu insbesondere die verkehrsmässige Erschliessung gehört. Ohne Sanierung der C-Strasse wird eine Baubewilligung nicht erteilt werden können. Die Genehmigung des Gestaltungsplans hängt umgekehrt nicht vom Vorliegen eines rechtskräftigen Strassenbauprojekts ab. Eine solche Reihenfolge wäre auch nicht zweckmässig, zumal ohne massgebende Vorgabe im Gestaltungsplan die Ausarbeitung eines konkreten Strassenbauprojekts keinen Sinn machen würde. Eine Koordination des Strassenbauprojekts mit dem Gestaltungsplan erweist sich auch deshalb nicht als angezeigt, weil eine ausreichende Erschliessung der zu überbauenden Liegenschaft (als Voraussetzung für die Erteilung der Baubewilligung) erst zu einem künftigen Zeitpunkt im Rahmen des Baubewilligungsverfahrens aufgezeigt werden muss (zur Frage der ausreichenden Erschliessung vgl. nachfolgend E. 6.4 f.). Eine Koordination zwischen Gestaltungsplan und Strassenbauprojekt ist folglich weder erforderlich noch angezeigt.

 

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2021.159/E, VG.2021.161/E vom 14. September 2022


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