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TVR 2022 Nr. 30

Flurrecht, Nachbarrecht, Pflanzenhöhe; Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands; keine Verjährungs- bzw. Verwirkungsfrist; Rechtsmissbrauch


§ 8 Abs. 1 FIGG


  1. Gemäss § 8 Abs. 1 FlGG kann der von flurrechtswidrigen Pflanzungen betroffene Grundeigentümer "jederzeit" die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands verlangen. Für den Kanton Thurgau sieht das FlGG keine Verjährungs- oder Verwirkungsfrist vor, innert welcher der Nachbar seine Wiederherstellungsansprüche geltend machen müsste. Die 30-jährige Verwirkungsfrist bei ausserordentlicher Ersitzung, wie sie andere Kantone kennen, findet im Kanton Thurgau keine Anwendung (E. 3.3).

  2. Rechtsmissbrauch ist bei langem Tolerieren von Nachbarpflanzen erst bei Vorliegen von besonderen Umständen anzunehmen. Solche sind im vorliegenden Fall nicht gegeben (E. 3.4).


A ist Eigentümerin der Liegenschaft Nr. XX in der Politischen Gemeinde G. Die 6‘174 m2 grosse Liegenschaft verfügt über ein Wohnhaus mit Garage und eine grosse Gartenanlage mit Bäumen und anderen Pflanzungen. Mit Entscheid vom 29. Januar 2021 der Flurkommission der Politischen Gemeinde G wurde A unter der Androhung der Ersatzvornahme angewiesen, innert zwei Monaten ab Rechtskraft des Entscheids die gesamten Pflanzungen entlang der Ost-, Nord- und Westgrenze der Liegenschaft Nr. XX bis zu einer Tiefe von 10 m gemessen ab der Grenze so zurückzuschneiden, dass deren Höhe das Doppelte des Grenzabstandes zu den Liegenschaftsgrenzen an keiner Stelle überschreite. Einen dagegen erhobenen Rekurs wies das DIV mit Entscheid vom 20. September 2021 ab. Dagegen erhob A Beschwerde. Das Verwaltungsgericht weist die Beschwerde ab und ordnet an, dass der Rückschnitt gemäss dem Entscheid der Politischen Gemeinde G vom 29. Januar 2021 bis spätestens 31. Januar 2023 zu erfolgen habe.

 

Aus den Erwägungen:

 

2. Streitgegenstand bildet vorliegend die Frage, ob den Verfahrensbeteiligten (Eigentümerschaften der benachbarten Liegenschaften) gegenüber der Beschwerdeführerin hinsichtlich der streitbetroffenen Pflanzungen längs der Ost-, Nord- und Westgrenze auf der Liegenschaft Nr. XX ein Anspruch auf Einhaltung der flurrechtlichen Vorschriften zusteht oder ob ein derartiger Anspruch verneint werden muss. Die Beschwerdeführerin macht insbesondere geltend, der Wiederherstellungsanspruch der Verfahrensbeteiligten sei zufolge Rechtsmissbrauchs verwirkt, da sie mit der Erklärung des Beseitigungsanspruches zu lange bzw. über 30 Jahre zugewartet hätten, was als Zustimmung zu werten sei.

 

3.

3.1 Gemäss § 5 FlGG dürfen Bäume, Sträucher, Hecken, Lebhäge und ähnliche Pflanzungen sowie mehrjährige landwirtschaftliche Kulturen nie höher gehalten werden als das Doppelte ihres Grenzabstandes (Abs. 1). Beträgt der Grenzabstand mindestens 10 m, besteht keine Beschränkung der Höhe (Abs. 2). Bei Pflanzungen, die den Vorschriften des FlGG nicht entsprechen, kann der Eigentümer des betroffenen Nachbargrundstückes gemäss § 8 Abs. 1 FlGG jederzeit die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands verlangen. Falls Abweichungen von Abstandsvorschriften vereinbart worden sind, kann lediglich die Herstellung des vereinbarungsgemässen Zustandes verlangt werden (§ 9 Abs. 1 FlGG); Rechtsnachfolgende sind nur an Vereinbarungen gebunden, die als Dienstbarkeit im Grundbuch eingetragen sind (§ 9 Abs. 2 FlGG). Wie dem Protokoll zum Augenschein der Vorinstanz vom 5. Mai 2021 und den (…) Fotoaufnahmen (…) zu entnehmen ist, überschreiten zahlreiche Pflanzen auf der Liegenschaft Nr. XX die flurrechtskonforme Höhe im 10-Meter-Grenzbereich, was grundsätzlich unbestritten ist.

 

3.2 Die Bestimmungen des FlGG sehen nicht vor, dass zur Geltendmachung eines flurrechtlichen Anspruchs auf Rückschnitt bzw. Beseitigung von flurrechtswidrigen Pflanzungen ein aktuelles schützenswertes Interesse - etwa an der Beseitigung übermässiger Immissionen - seitens der gesuchstellenden bzw. "klagenden" Person dargetan werden müsste (vgl. Urteil des Bundesgerichts 5A_968/2019 vom 20. Mai 2020 E. 3.3.3). Im Gegensatz dazu sah das frühere Flurgesetz vom 6. Februar 1958 (aFlG) in § 31 Abs. 2 noch vor, dass bestehende Pflanzungen aller Art, im besonderen Hochstämme und Baumgruppen in Wohngebieten, die den vorstehenden Bestimmungen nicht entsprechen, ohne Rücksicht auf ihr Alter auf Begehren der Anstösser soweit entfernt, heruntergestückt oder versetzt werden müssen, als durch ihren Bestand eine übermässige, nach Lage und Beschaffenheit nicht gerechtfertigte Einwirkung (wie Schattenwurf, Ertragsbeeinträchtigung, Feuchtigkeit in Gebäude) vorliegt, welche den Nachbarn erheblich schädigen oder in der Ausnützung seines Grundstücks erheblich beeinträchtigen. Aus dem Fehlen analoger Regelungen im aktuellen FlGG ist zu schliessen, dass ähnliche Einschränkungen bei der Ausübung des Wiederherstellungsanspruches - zumindest im Regelfall - nicht mehr der geltenden Rechtslage entsprechen (TVR 2021 Nr. 27 E. 2.4). Auch im vorliegenden Fall ist der Nachweis eines aktuellen und schützenswerten Interesses seitens der Verfahrensbeteiligten an einer Beseitigung/einem Rückschnitt der flurrechtswidrigen Pflanzen auf der Liegenschaft Nr. XX somit nicht erforderlich.

 

3.3 Gemäss § 8 Abs. 1 FlGG kann der von flurrechtswidrigen Pflanzungen betroffene Grundeigentümer "jederzeit" die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands verlangen. Für den Kanton Thurgau sieht das FlGG keine Verjährungs- oder Verwirkungsfrist vor, innert welcher der Nachbar seine Wiederherstellungsansprüche geltend machen müsste.

 

3.3.1 In diesem Zusammenhang stellte das Bundesgericht in seinem Urteil 1P.28/2002 vom 9. April 2002 fest, da es sich bei § 5 FlGG um kantonales Zivilrecht handle, könne diese Bestimmung akzessorisch auf seine Verfassungsmässigkeit hin überprüft werden, insbesondere auf deren Vereinbarkeit mit den Eigentumsrechten des von einer Entfernung oder einem Rückschnitt betroffenen Baumeigentümer. Das Bundesgericht hielt dabei fest, dass die Verfassung bei der Schrankenziehung zwischen den Interessensphären privater Parteien erst verletzt sei, wenn die Schrankenziehung in einer nicht mehr vertretbaren Weise erfolge, indem sie dem einen ein Verhalten verbiete oder vorschreibe, ohne dass dies mit dem Schutz berechtigter Interessen anderer gerechtfertigt werden könne (Urteil des Bundesgerichts 1P.28/2002 vom 9. April 2002. E. 2.2 mit Hinweis). In E. 2.3 des angeführten Urteils führte das Bundesgericht weiter aus, Bäume an der Grenze zwischen zwei Grundstücken führten zwangsläufig und gerichtsnotorisch zu Interessenkonflikten. Was dem einen Nachbarn gefalle oder erwünschten Sichtschutz biete, bedeute für den andern ungewollten Schattenwurf und Verlust der Aussicht. Jede gesetzliche Regelung müsse die eine oder die andere Seite mehr oder weniger stark benachteiligen. Der thurgauische Gesetzgeber habe in dieser Konfliktsituation eine Lösung getroffen, welche vertretbar sei. Sie könne nicht schon deshalb unzulässig sein, weil sie nicht im strengen Sinne notwendig sei. Wohl wären andere Regelungen, die dem baumbesitzenden Eigentümer mehr entgegenkämen, auch möglich und denkbar, doch gingen sie einfach zulasten der anderen beteiligten Seite. Es sei auch nicht unzulässig, diese Gewichtung in einem neuen Gesetz anders zu treffen als im bisherigen. Es liege im Wesen des demokratischen Staates, dass der Gesetzgeber aufgrund gewandelter Anschauungen und Wertungen die einmal erlassenen Gesetze wieder revidieren könne. Dass dadurch die gegenseitige rechtliche Situation der Betroffenen verändert werde, sei die normale Folge einer Gesetzesänderung und könne für sich allein nicht zu deren Unzulässigkeit führen. Sodann dürfe der Gesetzgeber auch das Interesse an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit berücksichtigen und eine Regelung aufstellen, die anders als die bisherige nicht auf die konkreten Umstände des Einzelfalls abstelle, sondern eine eindeutige quantitative Grenze festlege (Urteil des Bundesgerichts 1P.28/2002 vom 9. April 2002 E. 2.3). Sodann sei es - so das Bundesgericht weiter - weder unverhältnismässig noch rechtsungleich, die gesetzliche Regelung auch auf altrechtliche, das heisst vor dem Inkrafttreten des aktuell geltenden FlGG gepflanzte Bäume anzuwenden (Urteil des Bundesgerichts 1P.28/2002 vom 9. April 2002. E. 2.4).

 

3.3.2 In einem anderen, den Kanton St. Gallen betreffenden Fall hielt das Bundesgericht mit Urteil 5A_968/2019 vom 20. Mai 2020 fest, die Kantone seien lediglich ermächtigt, jedoch nicht verpflichtet, Verwirkungs- bzw. Beseitigungsfristen vorzusehen (E. 4.2 mit Hinweis). Das Bundesgericht verneinte zudem die Behauptung der dortigen Beschwerdeführer, das Bundesgericht wende bei der Beurteilung, ab wann von einer verzögerten Rechtsausübung ausgegangen werden könne, Art. 662 ZGB [ausserordentliche Ersitzung]) analog an, womit eine Frist von 30 Jahren gelte. Im bundesgerichtlichen Urteil 5D_80/2015 vom 7. September 2015 E. 3.1 und 4.2 habe das Bundesgericht lediglich die Rechtslage im Kanton Aargau geschildert, wo als Richtlinie die Frist der ausserordentlichen Ersitzung von 30 Jahren gelte. Im Kanton St. Gallen gelte demgegenüber der Grundsatz, wonach Rechtsmissbrauch bei langem Tolerieren von Nachbarpflanzen erst bei Vorliegen von besonderen Umständen angenommen werde. Die Ersitzungs- bzw. Verjährungsbestimmungen seien mithin nicht anwendbar (Urteil des Bundesgerichts 5A_968/2019 vom 20. Mai 2020 E. 4.3.2).

 

3.3.3 Da die Rechtslage im Kanton Thurgau weitgehend mit jener im Kanton St. Gallen übereinstimmt, findet die 30-jährige Verwirkungsfrist bei ausserordentlicher Ersitzung im Kanton Thurgau - und damit auch im vorliegenden Fall - keine Anwendung (TVR 2021 Nr. 28 E. 3; vgl. auch TVR 2016 Nr. 10 E. 2.3.4).

 

3.4 Strittig und zu prüfen ist, ob dem der Geltendmachung des Anspruchs der Verfahrensbeteiligten gegenüber der Beschwerdeführerin ein rechtsmissbräuchliches Vorgehen der Verfahrensbeteiligten bzw. ein gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstossendes Verhalten entgegensteht.

 

3.4.1 Das Rechtsmissbrauchsverbot untersagt als Teilgehalt des Grundsatzes von Treu und Glauben die zweckwidrige Berufung auf ein Rechtsinstitut zur Verwirklichung von Interessen, die dieses nicht schützen will (vgl. BGE 110 Ib 332 E. 3a). Es beansprucht auch im öffentlichen Recht allgemeine Geltung (BGE 121 II 5 E. 3a). Auch ein widersprüchliches Verhalten verstösst gegen Treu und Glauben und ist nicht zu schützen. Die Ausübung eines Rechts ist dann rechtsmissbräuchlich, wenn damit aufgrund früheren Verhaltens legitime Erwartungen der anderen Seite enttäuscht werden (venire contra factum proprium; vgl. etwa BGE 147 V 114 E. 3.3.1.4 und BGE 140 III 481 E. 2.3.1, je mit Hinweisen). Wie im Kanton St. Gallen gilt auch im Kanton Thurgau der Grundsatz, wonach Rechtsmissbrauch bei langem Tolerieren von Nachbarpflanzen erst bei Vorliegen von besonderen Umständen anzunehmen ist (E. 3.3.2 vorstehend und Urteil des Bundesgerichts 5A_968/2019 vom 20. Mai 2020 E. 4.3.2).

 

3.4.2 Ein solcher Rechtsmissbrauch bzw. ein gegen Treu und Glauben verstossendes Verhalten seitens der Verfahrensbeteiligten ist im vorliegenden Fall nicht erkennbar. Dem Protokoll zum Augenschein der Vorinstanz vom 5. Mai 2021 und den (…) Fotoaufnahmen ist zu entnehmen, dass zahlreiche Pflanzen auf der Liegenschaft Nr. XX die flurrechtskonforme Höhe im 10-Meter-Grenzbereich überschreiten und zwangsläufig einen Schattenwurf auf die angrenzenden Liegenschaften der Verfahrensbeteiligten verursachen; dies ist grundsätzlich unbestritten. Das Beharren der Verfahrensbeteiligten auf einen Rückschnitt der streitbetroffenen Pflanzen auf die flurrechtskonforme Höhe ist nachvollziehbar und nicht als rechtsmissbräuchlich oder treuwidrig zu qualifizieren, auch wenn sie ihren Rückschnittsanspruch erst nach über 30 Jahren seit Beginn des flurrechtswidrigen Zustands oder nach 30-jährigem Bestand der betreffenden Pflanzen geltend machen. Es wird nicht geltend gemacht, dass die Verfahrensbeteiligten in irgendeiner Art und Weise explizit ihre Zustimmung zum Weiterbestand der betreffenden flurrechtswidrigen Pflanzungen erteilt hätten. Das langjährige Zuwarten mit der Geltendmachung der flurrechtlichen Ansprüche kann auch nicht als implizite Zustimmung gewertet werden. Das blosse Zuwarten der Verfahrensbeteiligten über längere Zeit stellt - ohne das Vorliegen besonderer (vertrauensbildender) Umstände, die hier nicht zu erkennen sind und auch nicht geltend gemacht werden - mithin keinen Rechtsmissbrauch dar. Andernfalls würde indirekt eine gesetzgeberisch nicht gewollte Verwirkung des Anspruchs im oben dargestellten Sinn (vgl. E. 3.3 vorstehend) geschaffen. Keine Rolle spielt dabei, dass sich die Situation im Vergleich zu früher nicht verändert hat und durch das Zuwarten mit der Geltendmachung des Rückschnittsanspruchs der Beschwerdeführerin allenfalls zusätzlich Kosten entstehen.

 

3.4.3 Damit kann auch offen bleiben, ob der flurrechtswidrige Zustand bis zu den Ersuchen der Verfahrensbeteiligten über 30 Jahre angedauert hat. Dasselbe gilt für die Frage nach dem Alter und der Wachstumsentwicklung der streitbetroffenen Pflanzen auf der Liegenschaft Nr. XX. Der Wiederherstellungsanspruch wäre nämlich nur dann zu verneinen, wenn den Verfahrensbeteiligten ein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorzuwerfen wäre. Anhaltspunkte hierfür bestehen aber, wie dargestellt, nicht, da ein blosses Zuwarten - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin - nicht als rechtsmissbräuchlich eingestuft werden kann. (…)

 

3.5 (Feststellung, dass die angeordnete Rückschnittsverpflichtung auch verhältnismässig ist)

 

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2021.172/E vom 27. April 2022

 

Das Bundesgericht hat mit Urteil 5A_719/2022 vom 3. November 2022 eine dagegen erhobene Beschwerde, soweit es auf diese eingetreten ist, abgewiesen und die Praxis des Verwaltungsgerichts bestätigt.


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